Wie steht es in deutschen Unternehmen mit der Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen und werden psychische Belastungen hinreichend in die Gefährdungsbeurteilungen mit einbezogen? Unser Arbeitsrechtsexperte Dr. jur. Kurt Kreizberg zieht ein Fazit.
Wenn sich im kommenden August das Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes von 1996 zum 25. Mal jährt, werden, so viel ist bereits heute absehbar, zwei Erkenntnisse die Jubiläumsbilanz prägen:
- die in § 5 ArbSchG wie auch zahlreichen Verordnungen (z. B. § 3 ArbStättV) und der Technischen Regel für Arbeitsstätten ASR V.3 verankerte Gefährdungsbeurteilung bedeutet für viele, vornehmlich kleine und mittlere Betriebe noch immer eine große Herausforderung,
- die psychischen Belastungen bei der Arbeit als Prüfposten einer vollständigen Gefährdungsbeurteilung (§ 5 Abs. 2 Nr. 6 ArbSchG, § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 BetrSichV) haben als Krankheitsfaktor und Grund für AU-Tage in den letzten Jahren in einem Ausmaß zugenommen, mit dem die angemessene Berücksichtigung bei Gefährdungsbeurteilungen nicht annähernd Schritt hält.
Massive Defizite bei Gefährdungsbeurteilungen
Wie das Landesinstitut für Arbeitsgestaltung des Landes NRW (LIA.nrw) unter Verwertung von Datenmaterial der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) aus den Jahren 2013 bis 2018 herausgefunden hat, führt nur die Hälfte aller im Rahmen der Untersuchung befragten Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung durch. Der Anteil der Betriebe, die im Rahmen der generellen Gefährdungsbeurteilung auch die psychischen Belastungen evaluieren, liegt mit rund 41 Prozent noch einmal signifikant darunter.
Dieser statistische Mittelwert resultiert aus den Daten kleinster Betriebe (einer bis neun Beschäftigte), bei denen 40 Prozent eine Gefährdungsbeurteilung durchführen und 35 Prozent dabei auch psychische Belastungen erheben.
Bei den Betrieben mit 250 und mehr Beschäftigten liegt der Anteil der Gefährdungsbeurteilungen erwartungsgemäß bei nahezu 100 Prozent. Allerdings haben auch hier psychische Belastungen nur einen Stellenwert von knapp über 70 Prozent im Rahmen der vorgeschriebenen Gefährdungsbeurteilung.
Fehltage durch psychische Krankheiten
Dieses Datenmaterial steht in eklatantem Widerspruch zu Erkenntnissen, die unlängst der AOK-Bundesverband und die Deutsche Rentenversicherung publiziert haben (Solinger Tageblatt vom 30.09.2020 »Mehr Fehltage wegen psychischer Krankheiten«).
Dem Fehlzeitenreport des größten deutschen Krankenversicherungsträgers zufolge gingen im Jahr 2019 11,9 Prozent aller Fehlzeiten auf psychische Erkrankungen zurück, die damit auf Platz zwei der einschlägigen Tabelle noch vor den Atemwegserkrankungen platziert sind.
Seit 2008 verzeichnen die psychischen Krankheiten einen Zuwachs von 67,5 Prozent. Laut AOK-Report dauert die offizielle Krankheitszeit bei einer psychischen Erkrankung 27 Tage.
Hilfestellung für Klein- und Mittelbetriebe
Um besonders den bei Gefährdungsbeurteilungen, fokussiert auf psychische Belastungen überdurchschnittlich säumigen Klein- und Mittelbetrieben eine praktikable Hilfestellung zu bieten, hat das LIA.nrw jetzt ein Handbuch entwickelt, das beschreibt, wie mittels der Methode der »moderierten Gruppendiskussion« in Eigenregie, ohne großen Aufwand und unter Beteiligung der Beschäftigten psychische Belastungsfaktoren im Rahmen von Arbeitsbesprechungen erhoben und beurteilt werden können.
Das Handbuch, das neben Mustereinladungen auch Tipps für die Moderation und Dokumentationstabellen beinhaltet, trägt den Titel »Besprechungen kreativ nutzen. Arbeit gesund gestalten mit der Methode der Moderierten Gruppendiskussion«
und kann
- in gedruckter Form bei der LIA.nrw, Gesundheitscampus 10, 44801 Bochum, bestellt oder
- unter www.lia.nrw.de/gruppendiskussion heruntergeladen werden.