Fachbeitrag  Recht und Urteile, Arbeitssicherheit  

Unfallversicherungsschutz auch beim »Luftschnappen«

Unfallversicherungsschutz auch beim »Luftschnappen«
Foto: © majorosl66 - stock.adobe.com

Ein Angestellter wird beim Luftschnappen von einem Gabelstapler angefahren. Dabei zieht er sich Verletzungen am Unterarm und Kniegelenk zu. Handelt es sich dabei um einen Arbeitsunfall? 

»Gabelstapler sind schnell und wendig und nahezu überall dort zu finden, wo Waren umgeschlagen werden. Sie sind nicht nur unentbehrliche Helfer, sondern auch eine Unfallquelle mit hohem Gefährdungspotenzial. Die Bandbreite der Verletzungen reicht von Quetschungen und Knochenbrüchen bis hin zu Amputationen und tödlichen Verletzungen«. Die geradezu seherische Weitsicht dieser Zeilen, abgebildet auf der aktuellen Homepage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) unter dem Stichwort »Gabelstapler (Flurförderzeuge)« mit dem Hinweis auf die DGUV-Information 208-004 (Stand: September 2012/Dezember 2018), musste im Januar 2021 im Rhein-Neckar-Kreis ein Arbeitnehmer schmerzvoll erfahren, der während einer kurzen Verschnaufpause von einem Gabelstapler angefahren und erheblich verletzt wurde. 

Der Fall 

Ein Arbeitnehmer hatte sich, als ihm keine konkrete Arbeit zugewiesen war, erlaubterweise in einem ausdrücklich ausgewiesenen Pausen- und Raucherbereich auf dem Betriebsgelände eines Unternehmens in Ludwigshafen aufgehalten, um Luft zu schnappen. Dabei fuhr ihn ein Gabelstapler an. Infolgedessen erlitt der Arbeitnehmer einen Bruch des Unterarms sowie eine Verstauchung (med.: Distorsion) des Kniegelenks.  

Die daraufhin aus einem Arbeitsunfall in Anspruch genommene Berufsgenossenschaft (BG) als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung lehnte zuletzt mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2021 die Gewährung von Leistungen ab mit der Begründung, der verletzte Arbeitnehmer habe zur Zeit des Unfalls, also beim Luftschnappen während einer Arbeitspause, eine privatnützige Verrichtung ausgeführt. 

In der ersten Instanz noch obsiegte die BG vor dem Sozialgericht (SG) Mannheim. Das SG Mannheim hatte auch keinen Versicherungsschutz wegen einer spezifischen Betriebsgefahr gesehen, weil die Gefahr in dem Pausenbereich nicht höher gewesen sei als allgemein am Wohn- und Beschäftigungsort. Zudem habe sich der verletzte Arbeitnehmer dieser Gefahr freiwillig ausgesetzt. 

Der erste Senat des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg war im Berufungsverfahren hingegen Ende Februar 2023 anderer Auffassung: 

  • Sozialgericht Mannheim vom 27.05.2022 –S 2 U 1798/21-
  • Landessozialgericht Baden–Württemberg vom 27.02.2023 –L 1 U 2032/22-

Die Entscheidung 

Das LSG Baden-Württemberg bejaht in seiner Entscheidung, im Gegensatz zur beklagten Berufsgenossenschaft und dem SG Mannheim als Vorinstanz, das Vorliegen eines Arbeitsunfalls mit dem Argument, es habe sehr wohl eine spezifische Gefahr vorgelegen.  

Die erhöhte Gefährlichkeit von Gabelstaplern gegenüber dem alltäglichen Straßenverkehr sei durch Untersuchungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) nachgewiesen und Gegenstand besonderer Unfallverhütungsvorschriften (siehe Einleitung des Beitrags). 

Ein Geschädigter, so das LSG in seinen Entscheidungsgründen weiter, dürfe darauf vertrauen, während einer gestatteten Pause, auch in einem vom Arbeitgeber ausgewiesenen Bereich, keinen gegenüber dem allgemeinen Leben erhöhten Gefahren ausgesetzt zu sein. 

Weiterer Verfahrensgang 

Der erste Senat des LSG hat allerdings die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zugelassen, wo nach der dortigen Geschäftsverteilung dann der für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige zweite Senat des BSG unter dem Aktenzeichen - B 2 U 8/23 R - (telef. Auskunft des LSG vom 5. April 2023) mit der Sache befasst sein wird. 

Ansatzpunkt für die Zulassung der Revision war die vom LSG zutreffend erkannte Tatsache, dass in der bisherigen Rechtsprechung des BSG (2. Senat) noch nicht endgültig geklärt ist, ob der Versicherungsschutz wegen einer spezifischen betriebsbezogenen Gefahr nur in unmittelbarer Nähe des konkreten Arbeitsplatzes besteht oder auch in einem weiter entfernt liegenden Pausenbereich wie hier. 

Rechtlicher Hinweis 

Die für Pausen- und Bereitschaftsräume einschlägige Technische Regel ASR A4.2 dürfte hier nicht zum Tragen kommen.  

Nach der einschlägigen Definition für den Begriff »Pausenbereiche« gemäß Punkt 3.2 der ASR handelt es sich hierbei um abgetrennte Bereiche innerhalb von Räumen der Arbeitsstätte, die der Erholung oder dem Aufenthalt der Beschäftigten während der Pause oder bei Arbeitsunterbrechung dienen. Pausenareale an der frischen Luft sind von der Regel also nicht umfasst. 

Es bleibt mithin abzuwarten, ob und in welchem Umfang sich Pausen-Unfälle der hier beschriebenen Art gegebenenfalls in einer zukünftig erweiterten Definition des Begriffs vom »Pausenbereich« niederschlagen. 

Quelle/Text: Dr. jur. Kurt Kreizberg

Urteil: Lesen Sie auch »Unfallversicherung schützt auch den Weg zum Getränkeautomaten« >>

Über den Autor

Dr. jur. Kurt Kreizberg
Rechtsanwalt in Solingen
seit 2013: Lehrbeauftragter für Arbeits- und Sozialrecht an der FOM Essen
seit 2016: Autor des Loseblatt-Kommentars (Carl Heymanns Verlag)
»Arbeitsstättenverordnung und Technischen Regeln für Arbeitsstätten«

Exklusive Produktempfehlungen aus unserem umfangreichen Online-Shop

Kreizberg, Arbeitsstättenverordnung

Arbeitsstättenverordnung
von Dr. jur. Kurt Kreizberg

mit Technischen Regeln für Arbeitstätten (ASR) inkl. Erläuterungen und weiteren Rechtsvorschriften
ca. 1800 Seiten
Carl Heymanns Verlag

Zum Produkt
Gefahrstoffrecht - Loseblattwerksammlung von Klein und Bayer

Gefahrstoffrecht
von Dr. Helmut A. Klein / Dr. Philipp Bayer

Sammlung der chemikalienrechtlichen Gesetze, Verordnungen, EG-Richtlinien und technischen Regeln mit Erläuterungen
Loseblattwerk mit CD-ROM
ca. 1300 Seiten
Carl Heymanns Verlag

Zum Produkt
Lagerung und Abfüllung brennbarer Flüssigkeiten

Lagerung und Abfüllung brennbarer Flüssigkeiten
von Carl-Heinz Degener / Gerhard Krause / Dr.-Ing. Hermann Dinkler / Dr.-Ing. Dirk-Hans Frobese

Vorschriftensammlung mit Kommentar
Band V Vorschriften
Loseblattwerk
Carl Heymanns Verlag

Zum Produkt
Dr.-Ing. Berthold Dyrba

Kompendium Explosionsschutz
von Dr.-Ing. Berthold Dyrba / Patrick Dyrba

Sammlung der relevanten Vorschriften zum Explosionsschutz mit Fragen und Antworten für die Praxis.
Loseblattwerk mit CD-ROM
1300 Seiten
Carl Heymanns Verlag

Zum Produkt