Fachbeitrag  Arbeitssicherheit, PSA  

"Die meisten Unfälle ereignen sich in einem Moment, in dem irgendetwas Unvorhergesehenes passiert"

Mann läuft mit Plaette durchs Lager
Foto: © Marko Novkov - stock.adobe.com

Das Konzept der verhaltensbasierten Sicherheit – im Englischen bekannt als „Behavioural Based Safety“, kurz BBS – ist bereits seit den 90er Jahren auch in Deutschland mehr und mehr zu einem wichtigen Element in der Arbeitssicherheit bei multinationalen Unternehmen geworden. arbeitssicherheit.de im Gespräch mit Christoph Schröder, Geschäftsführer von SafeStart Europe, über die Vorteile – und die Grenzen – von BBS und darüber wie persönliche Sicherheitsfähigkeiten weiterentwickelt werden können, damit BBS-Konzepte auch wirklich greifen.

arbeitssicherheit.de: Herr Schröder, was steckt eigentlich genau hinter dem Begriff „verhaltensbasierte Arbeitssicherheit“ oder „BBS“?

Christoph Schröder: Verhaltensbasierte Sicherheit ist ein relativ weit gefasster Begriff und Unternehmen bedienen sich in unterschiedlichem Maße aus der Toolbox BBS. Entsprechend verbinden die Mitarbeiter – manchmal auch im selben Unternehmen – unterschiedliche Aspekte mit verhaltensbasierter Arbeitssicherheit, z.B. regelmäßige Sicherheitsbeobachtungen oder -gespräche in der Produktion bis hin zu grundlegenden Verhaltensprüfungen bei der Ausführung von Arbeitsschritten oder ein verbessertes „bottom-up“ Meldesystem von Beinahe-Unfällen. Im Idealfall bilden alle diese Instrumente ein umfassendes Sicherheitsmanagementsystem, durch das die Sicherheitskultur eines Unternehmens verändert werden soll. In jedem Fall liegt der Schwerpunkt auf der Reduzierung von Gefahren und Risiken und der Vermeidung von unsicherem Verhalten.

Ich sag’s mal stark vereinfacht so: Ziel von BBS ist es, durch regelmäßigen Austausch und Einbindung aller Hierarchieebenen eine Art „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Management und der Belegschaft zu schaffen, die eine bewusste Entscheidung der Mitarbeiter für die Arbeitssicherheit fördert.

Klingt logisch und nachvollziehbar. Aber funktioniert diese „Sicherheitspartnerschaft“ auch so ohne Weiteres?

Der Erfolg der verhaltensbasierten Sicherheit wird, gerade in der Einführungsphase, stark durch Führen, Beobachten und Unterweisen seitens der direkten Vorgesetzten untermauert. Damit dies funktioniert werden häufig Ziele (KPIs) vom Management festgelegt, z.B. ein Schichtleiter sollte mindestens zwei Sicherheitsbegehungen pro Woche in seinem Bereich machen. Bei dem ein oder anderen (und manchmal auch beim Betriebsrat) kann das zu Ärger über zusätzliche Arbeit führen. Auf der anderen Seite sind die Arbeiter: Auch wenn BBS auf einen positiven und möglichst nicht den Mitarbeiter überprüfenden Gesprächsansatz ausgerichtet ist, können sich gerade erfahrene und langjährige Kollegen beobachtet und überprüft fühlen. Das gilt vor allem dann, wenn die Begehungen wieder und wieder in einem ähnlichen Arbeitsumfeld ablaufen. Nicht selten hört man dann sowas wie: „Ich mach‘ das hier seit 12 Jahren und ich hab‘ mich noch nie verletzt“. Wenn der Schichtleiter dann vielleicht noch relativ jung oder neu in der Abteilung ist, dann können wir uns gut vorstellen, wo so ein Gespräch endet.

In der Regel schulen die Unternehmen Ihre Mitarbeiter entweder bevor sie in einem neuen Bereich anfangen oder direkt am Arbeitsplatz – auch in Bezug auf die sichere Ausübung der Tätigkeit. Die regelmäßigen Sicherheitsbegehungen helfen, dieses Wissen aufzufrischen. Was aber hingegen ein oft vernachlässigter Aspekt ist, ist wann sich jemand potenziell unsicher verhält und was in dem Moment passiert, in dem man sich eben nicht bewusst an die Sicherheitsvorkehrungen erinnert. Denn sich bewusst für sicheres Verhalten zu entscheiden funktioniert möglicherweise nicht immer.

Reaktionskette: von der Ablenkung zum erhöhten Unfallrisiko

Es hört sich an, als ob gewisse Lücken im System sind. Wie können diese aus Ihrer Sicht geschlossen werden?

Sich sicher zu verhalten ist nicht nur von Bedeutung am Arbeitsplatz (der im Übrigen statistisch gesehen der sicherste Ort in unserem Leben ist). Sicherheit muss vielmehr zu einer persönlichen Fähigkeit, einem Soft Skill, werden – also einer Art Lebensgewohnheit, die über den Arbeitsplatz hinaus auch in das Privatleben hineinreicht. Tatsächlich ist es so, dass sich die meisten Unfälle in einem Moment ereignen, in dem irgendetwas Unvorhergesehenes passiert und häufig sind diese Unfälle die Folge des eigenen Handelns (oder zumindest trägt dieses zum Unfall bei). Zu erkennen oder zu spüren, dass etwas schief gehen könnte und reflexartig zu handeln, um einen Unfall im Moment selbst zu verhindern ist eine Fähigkeit, die nicht unbedingt etwas mit dem Wissen über einen Arbeitsschritt zu tun hat. Die Menschen sind nicht immer in höchster Alarmbereitschaft. Dies zu erkennen ist der erste Schritt.

Erzählen Sie uns mehr: Sicherheit sollte also mehr zu einer persönlichen Fähigkeit werden – aber wie können wir diese von Ihnen genannten Soft Skills erlernen?

Es ist neuro-wissenschaftlich erwiesen, dass das meiste, was wir im täglichen Leben tun automatisch, ohne darüber nachzudenken – also unterbewusst – tun. Unser Gehirn greift auf gelernte Muster zurück und agiert für uns. Das ist von großem Nutzen für uns. Das beste Beispiel ist Autofahren: Gegenverkehr beobachten, in den Rückspiegel schauen, blinken, kuppeln, runterschalten und schließlich abbiegen – all das wollen wir natürlich möglichst im „Autopilot“ machen können. Wie wäre es, wenn solch ein „Autopilot“ auch für uns in den Momenten der Ablenkung funktionieren würde? Es geht hier darum, erst einmal die möglichen Gründe für eine Ablenkung wiederzuerkennen. Zwei der häufigsten Gründe für tödliche und schwere Verletzungen sind Hektik (60 Prozent) und Selbstüberschätzung, z.B. bei Routinetätigkeiten (70 Prozent)*. Das normale Verhalten in solchen Situationen ist, dass wir den Kopf oder die Augen nicht bei der Sache haben, weil wir schnell nur etwas Gewohntes tun, mit dem wir kein Risiko (mehr) verbinden.

"Sicherheit muss vielmehr zu einer persönlichen Fähigkeit, einem Soft Skill, werden – also einer Art Lebensgewohnheit, die über den Arbeitsplatz hinaus auch in das Privatleben hineinreicht."

Sich gehetzt, emotional frustriert oder müde zu fühlen sind alles mentale oder körperliche Zustände, die nicht aus unserem Leben verschwinden werden – wir werden immer anfällig dafür sein, egal was wir tun, ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Was wir aber tun können ist Techniken zu erlernen, um diese Zustände rechtzeitig zu erkennen und reflexartig darauf reagieren zu können, z.B. eben die Augen und die Gedanken auf die Tätigkeit zu fokussieren – auch gerade wenn’s mal schnell gehen muss. Damit erweitern wir das Wissen über einen Arbeitsschritt (Technical Skills) durch die Fähigkeit, diesen egal wann und wo sicher auszuführen (Soft Skill). Natürlich erfordert dies etwas Zeit, Mühe und Übung bevor diese Fähigkeit zu einem persönlichen Sicherheits(unter)bewusstsein führt.

Das macht grundsätzlich alles Sinn für mich – aber geben Sie mir doch mal ein konkretes Beispiel ...

Nehmen wir ein Warenlager eines produzierenden Unternehmens: Die Einhaltung von Zeiten ist kritisch, um einerseits den Produktionsfluss nicht zu unterbrechen und andererseits die Warenauslieferung nicht zu verzögern. Oft aber führen die zu spät angelieferten Rohmaterialien, die noch am gleichen Tag in der Produktion bereitgestellt werden müssen, oder Endprodukte, die erst kurz vor dem geplanten Versand im Lager eintreffen (manchmal wartet bereits der Lkw an der Laderampe), zu ständigem Zeitdruck auf die Mitarbeiter.

Am Freitagnachmittag – eigentlich sollte der Lagerarbeiter schon seit einer halben Stunde im Feierabend sein – sortiert er auf dem Weg vom Lagerbüro zurück in die Versandhalle die restlichen fünf Aufträge, die noch am selben Tag verladen werden müssen. Das Regallager ist im wohlbekannt, wieso also nicht kostbare Zeit für die Durchsicht der Lieferscheine auf dem Weg dorthin gewinnen.  Aber weil er eben durch die Papiere geht und in Gedanken über die effizienteste Zusammenstellung der Paletten nachdenkt, übersieht und überhört er den Gabelstapler, der um die Ecke biegt und wird von der Ladung zu Boden geworfen; er fällt auf eine nahestehende Verpackungskiste und bricht sich den Unterarm.

Durch verbesserte persönliche Sicherheitsfähigkeiten hätte diese Situation unfallfrei ausgehen können: Die Hektik (und vielleicht Frustration) in diesem, seinem gewohnten Umfeld ist wahrscheinlich nicht wegzudenken. Mit den richtigen Soft Skills hätte er jedoch diese Zustände nicht nur wahrnehmen können, sondern auch instinktiv (unterbewusst) – nämlich mit erhöhter Konzentration und mit auf sein Umfeld gerichtete Augen – reagieren können und wäre somit sicher zum Lagerplatz der Ware gegangen.

Wenn es so einfach ist, warum passieren dann immer noch so viele Unfälle?

Bei der Beurteilung eines Unfalls (oder noch viel mehr eines Beinahe-Unfalls) stellen wir uns nicht immer automatisch die Frage, was heute anders war, als die Person eine Aufgabe erledigt hat. Obwohl heutzutage nahezu alle Unternehmen robuste Prozesse haben, Vorfälle aufzuzeichnen und nachzuverfolgen, lesen wir häufig in den korrektiven Maßnahmen Dinge wie Anbringung von Warnsignalen, Überarbeitung der Arbeitsanweisung oder Nachschulung der Mitarbeiter. Sicherlich sind dies alles richtige Schlussfolgerungen, aber oft wird der „Menschliche Fehler“ und wie er eben „gerade heute“ hätte vermieden werden können zu wenig hinterfragt: War der Lagerarbeiter vielleicht einfach nur zu sehr in seiner Routine und durch die Frustration über den verspäteten Feierabend und durch den Zeitdruck durch Hektik abgelenkt? Es ist verständlich, dass man diese Frage nicht gerne laut stellt, denn es könnte sich ja nach einer Schuldabweisung seitens des Unternehmens anhören, wenn wir augenscheinlich die Ursache des Unfalls beim fehlerhaften Verhalten des Mitarbeiters suchen.

"Aber es hat sich auch bei vielen Firmen gezeigt, dass es kein Einfaches ist, das persönliche Engagement der Mitarbeiter für die Sicherheit langfristig alleine über die Tools der verhaltensorientierten Arbeitssicherheit zu stärken."

Ich möchte nicht sagen, dass wir nun einfach nur diese Frage bei der Arbeitsunfallanalyse stellen sollten und dann wäre alles besser. Wenn wir es allerdings schaffen, uns einzugestehen, dass wir in bestimmten Momenten – unabhängig davon, ob am Arbeitsplatz oder in der Freizeit – unbeabsichtigte Fehler machen können und damit das Muster „Zustand-Fehler-Risiko“ erkennen, können wir als Person (nicht nur als Mitarbeiter) unser Unterbewusstsein für die eigene Sicherheit schärfen. Mit etwas Mühe und den richtigen Techniken und Tools gelingt es uns im nächsten Schritt, Muster zur Fehlervermeidung zu erlernen und uns neue Gewohnheiten anzueignen; ähnlich wie wenn wir durch regelmäßiges Training in einer neuen Sportart geschickter werden.

Inwiefern stellt die Corona-Pandemie – unabhängig von den sehr wohl bekannten Herausforderungen zum Infektionsschutz – die Arbeitgeber vor neue Herausforderungen bzgl. der Arbeitssicherheit?

Persönliche Fähigkeiten und „bessere“ Gewohnheiten haben durch Covid-19 vielleicht sogar noch an Bedeutung gewonnen. Die Frustrationen und Sorgen haben für viele Menschen aufgrund der Pandemie zugenommen und lassen uns gerne mal mit den Gedanken – auch bei der Arbeit – woanders sein.  Und auch wenn ist nicht so ist, dass niemand mehr in der Produktion steht, arbeiten heute mehr Menschen denn je von zu Hause aus – in einem Umfeld, das wohl kaum durch Arbeitssicherheitsmaßnahmen und regelmäßigen Sicherheitsbegehungen von Vorgesetzten „top-down“ verbessert werden kann. Aber diese Mitarbeiter befinden sich in einem gewohnten, aber als Arbeitsplatz improvisierten Umfeld, in dem sich Arbeitsalltag mit Privatleben vermischt und leider auch für viele eine Doppelbelastung darstellt (Stichwort Homeschooling und Homeoffice).

Was ist wichtiger, eine Kultur der verhaltensbasierten Arbeitssicherheit im Unternehmen oder persönliche, sicherheitsrelevante Fähigkeiten?

Ich würde nicht sagen, dass die Entwicklung von persönlichen, sicherheitsrelevanten Soft Skills mehr oder weniger wichtig als die Konzepte von BBS ist, sondern dass das eine das andere verstärkt. Wenn richtig eingeführt und konsequent vom Management unterstützt, können Unternehmen über Behavioural Based Safety die eingangs beschriebene „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen allen Hierarchieebenen schmieden und damit die Basis für mehr Sicherheitsbewusstsein schaffen. Aber es hat sich auch bei vielen Firmen gezeigt, dass es kein Einfaches ist, das persönliche Engagement der Mitarbeiter für die Sicherheit langfristig alleine über die Tools der verhaltensorientierten Arbeitssicherheit zu stärken. Vielmehr sollten wir die vorhandenen Strukturen und Tools nutzen, das Sicherheitsbewusstsein weiter zu schärfen, aber auch durch die richtigen Techniken neue sicherheitsrelevante Gewohnheiten und Reflexe erlernen, die es uns ermöglichen gerade in Momenten der Ablenkung, in denen es zu Unfällen kommen könnte, gelernte Muster der Fehlervermeidung unterbewusst abzurufen.

Es mag vielleicht etwas befremdend und provozierend klingen, aber: Um sicher zu bleiben kommt es vielleicht schlussendlich gar nicht darauf an WAS wir tun, sondern WANN wir es tun und damit wie wir uns in dem Moment, in dem wir eine Tätigkeit ausführen, fühlen und wie wir auf dieses „WANN“ reagieren.

Herr Schröder, vielen Dank für das Gespräch.

(*) weitere Gründe sind Frustration (knapp 50%) und Müdigkeit (knapp 20%); Mehrfachnennungen möglich.

Über Christoph Schröder

Christoph Schröder, Safestart

Christoph Schröder leitet seit Ende 2017 das Europageschäft von SafeStart, einem in Kanada entwickelten, weltweit führenden Sicherheitstrainingsprogramm zur Reduzierung von menschlichen Fehlern. Er greift auf 20 Jahre Management- und Beratungserfahrung in der Industrie zurück und war davon zehn Jahre als Trainer und Berater für Arbeitssicherheit in Europa, Russland und Nordafrika unterwegs. In dieser Zeit lag sein Schwerpunkt vorrangig auf dem kulturellen Aspekt der Arbeitssicherheit.

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