Oberste Gerichte schließen langjährige Rechtsstreitigkeiten meistens dauerhaft ab. Doch manchmal kann es zu Wiederaufnahmeverfahren kommen. In diesem Fall führte Ausdauer und Geduld schließlich zum Erfolg für den Kläger.
Mit Entscheidungen der obersten Bundesgerichte, also des Bundesgerichtshofs (BGH), des Bundesarbeitsgerichts (BAG) sowie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) werden in aller Regel langjährige Rechtsstreitigkeiten dauerhaft durch Endurteile abgeschlossen. In der Strafjustiz gibt es die Möglichkeit ein Wiederaufnahmeverfahren anzustrengen, wenn etwa neueste Methoden zur Analyse alter Tatspuren die Unschuld eines bereits Verurteilten zutage fördern und der wahre Täter noch überführt werden kann.
Auch der für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige zweite Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hatte am 27. September 2023 über einen Fall zu entscheiden (B 2 U 13/21 R), mit dem er schon einmal befasst war (Beschluss vom 5. Juni 2018 - B 2 U 72/18 -).
Der Fall
Der Revisionskläger des aktuellen Verfahrens hatte seit 1973 in der Automobilproduktion in Baden-Württemberg gearbeitet, wo er im Jahre 1994 wegen anhaltender Rückenschmerzen von der Fließbandarbeit in den Bereich »Nacharbeit und Analyse« wechselte.
Sein in späteren Jahren gestellter Antrag auf Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1208 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) wurde von der zuständigen Berufsgenossenschaft Holz und Metall als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) abgelehnt.
Hinter dieser BKVO-Ziffer verbergen sich bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen der LWS geführt haben.
Sein daraufhin eingeschlagener, erstmaliger Weg durch die Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit war von Anfang bis Ende erfolglos:
- Sozialgericht (SG) Heilbronn, Urteil vom 24. Mai 2016,
- Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Januar 2018 sowie schließlich
- Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 5. Juni 2018 - B 2 U 72/18/B-.
Ebenso erfolglos war ein Überprüfungsantrag des Klägers bei der schon einmal in Anspruch genommenen Berufsgenossenschaft, die sich dabei auf das ihr günstige LSG-Urteil vom 26. Januar 2018 berief. Dieser Ablehnung folgte ein erneuter Weg des Klägers durch die schon bekannten Instanzen der baden-württembergischen Sozialgerichtsbarkeit:
- SG Heilbronn, Urteil vom 10. September 2019 -S 8 U 121/19-,
- LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Oktober 2020 -L 12 U 3510/19-.
Die Entscheidung
Beharrlichkeit führt oft zum Ziel. Die Revision des Klägers, gerichtet auf eine Zurückverweisung zum LSG war nunmehr erfolgreich. Unter Rückgriff auf seine eigene Rechtsprechung stellte der zweite Senat des BSG mit Beschluss vom 27. September 2023 fest, dass mit dem rechtskräftigen Berufungsurteil vom Januar 2018 keine dauerhafte Rechtsbindung dahingehend entstanden sei, dass diese einer erneuten Entscheidung in der Sache entgegenstehe.
Vielmehr könnten, so das BSG weiter, nachteilige (der Jurist nennt sie »nicht begünstigende«) Verwaltungsakte zurückgenommen werden, was in gleicher Weise auch bei rechtskräftigen (nicht begünstigenden) Feststellungsurteilen gelte.
Solche Urteile können, wie das höchste deutsche Sozialgericht mit einem deutlichen Fingerzeig an die Instanzgerichte betont, keine höhere Richtigkeitsgewähr für sich in Anspruch nehmen.
Aus der Vorschrift des § 44 SGB X abgeleitet, müsse vielmehr dem Gebot materieller Gerechtigkeit der Vorrang eingeräumt werden, was im Ergebnis auch die Rechtskraft von Urteilen einschränke, die der obsiegenden Unfallversicherung (zunächst) günstig waren.
Dem LSG wurde vom BSG mit detaillierten Vorgaben aufgegeben, im Rahmen des nunmehr wieder zu eröffnenden Berufungsverfahrens Feststellungen dazu zu treffen, ob nicht doch eine BK nach Nr. 1208 der BKV, nunmehr ab dem 1. Januar 2021 festzustellen sei.
Einordnung der Entscheidung
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn es für einen im Prozess- und Verfahrensrecht unerfahrenen Beobachter nur schwer vorstellbar sein mag, sich einen über knapp acht Jahre verlaufenden Rechtsstreit, zumal mit zweimaligem Komplettdurchlauf aller Instanzen vorzustellen, belegt das vorstehend beschriebene Verfahren, das besonders im Sozialrecht Geduld und Ausdauer doch noch zu einem für Versicherte positiven Ergebnis führen können, zumal die vom BSG in Bezug genommene Vorschrift (§ 44 SGB X) für alle Zweige der Sozialversicherung und nicht nur für die GUV gilt.
Quelle/Text: Dr. jur. Kurt Kreizberg
Arbeitsunfall: Lesen Sie auch »Kein Versicherungsschutz im Promotionsstudium?« >>