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Anlage 2 TRGS 460

Wissenschaftliches Hintergrundpapier

1Ausgangslage und Ziel der Thematik
2Fachliche und methodische Einführung
3Das Modell des statischen Arbeitssystems
3.1Das 2D-Modell
3.2Arbeitssystemelemente, die von der Definition des Standes der Technik erfasst werden
4Einführung der dynamischen Prozessebene
4.1Innere Dynamik
4.2Äußere Dynamik
4.2.1Das dynamische Arbeitssystem zum Planungszeitpunkt tvor
4.2.2Das dynamische Arbeitssystem im Betrachtungszeitraum t0 → tnach → tnach+1
5Entscheidungshilfen/-strategien und Abwägungsprozess
5.1Formale Ebene
5.2Fachlich-inhaltliche Ebene
6Einordnung des Standes der Technik in den gefahrstoffrechtlichen Rahmen
6.1Verhältnismäßigkeit und Bestandsschutz
6.2Stand der Technik und Minimierungsgebot
6.3Stand der Technik und Verfahrens- und stoffspezifische Kriterien nach TRGS 420 "Verfahrens- und stoffspezifische Kriterien (VSK) für die Gefährdungsbeurteilung"
6.4Stand der Technik und REACH

1 Ausgangslage und Ziel der Thematik

Der Begriff "Stand der Technik" soll den betroffenen Akteuren ein betriebliches Schritthalten zwischen dem sich stetig verändernden technologischen Fortschritt (Erkenntnisstand) und den aktuellen Rechtsanforderungen ermöglichen.

"Stand der Technik" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und hat seine historischen Wurzeln in den Ingenieurwissenschaften, er ist ein wesentlicher und akzeptierter Bestandteil des Begriffsfundus' deutscher Ingenieurtradition.

Aktuell und allgemein anerkannt scheint, dass der "Stand der Technik" den Akteuren kein quantifizierbares Ziel, sondern einen Maßstab bzw. eine Beurteilungshilfe für die Festlegung von Maßnahmen bzw. die Festschreibung von Anforderungen bietet.

Der Begriff wird in unterschiedlichen schutzbezogenen Rechtsgebieten (Umweltschutz, Produktsicherheit, Arbeitsschutz) sowie darüber hinaus verwendet, z.B. im Patentrecht.

Die fachlich-inhaltliche sowie branchenbezogene Auslegung des Begriffs "Stand der Technik" obliegt neben den betrieblichen Adressaten vor allem den fachlichen Gremien, den darin berufenen Experten sowie der Rechtsprechung.

Das sog. Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 8. August 1978 über die Nutzung der Atomenergie ** bildet bis heute für die Auslegung der unterschiedlichen Schutzniveaus ein wichtiges Fundament.

So führt das Gericht im Jahr 1978 aus, dass

"... es ihm (Anm.: dem Gesetzgeber) wegen der vielschichtigen und verzweigten Probleme technischer Fragen und Verfahren in der Regel nicht möglich ist, sämtliche sicherheitstechnischen Anforderungen, denen die jeweiligen Anlagen oder Gegenstände genügen sollen, bis ins einzelne festzulegen. Auf Gebieten (..), bei denen durch die rasche technische Entwicklung ständig mit Neuerungen zu rechnen ist, kommt hinzu, dass der Gesetzgeber, hätte er tatsächlich einmal eine detaillierte Regelung getroffen, diese laufend auf den jeweils neuesten Stand bringen müsste."

Zur weiteren Klarstellung formulierte das Gericht in seinem Urteil die drei Technikklauseln

  • allgemein anerkannte Regeln der Technik,

  • Stand der Technik und

  • Stand von Wissenschaft und Technik

näher und setzt sie ins Verhältnis zueinander (steigendes Schutzniveau).

Das Arbeitsschutzrecht stellt in seinen Gesetzen und Verordnungen grundlegend auf den Stand der Technik ab. In der GefStoffV liegt der Forderung nach Einhaltung des Standes der Technik folgende Begriffsbestimmung zugrunde (§ 2 Absatz 12):

"Der Stand der Technik ist der Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen, der die praktische Eignung einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit und zur Sicherheit der Beschäftigten gesichert erscheinen lässt. Bei der Bestimmung des Standes der Technik sind insbesondere vergleichbare Verfahren, Einrichtungen und Betriebsweisen heranzuziehen, die mit Erfolg in der Praxis erprobt worden sind. Gleiches gilt für die Anforderungen an die Arbeitsmedizin und die Arbeitshygiene."

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Abb. 1-1: Schutzstrategien der Gefahrstoffverordnung zur Verordnungskonformität

Der Nachweis zur Einhaltung der Gefahrstoffverordnung kann über zwei unterschiedliche Schutzstrategien erbracht werden, vgl. Abb. 1-1. Dabei wird der quantitativen, linken Säule - Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) - Vorrang eingeräumt, Handlungserfordernisse bei Nichteinhaltung des AGW werden aufgezeigt.

Wurde für den zur Tätigkeit in Aussicht genommenen Stoff kein AGW veröffentlicht (z. B. bei kanzerogenen Stoffen) ist die Strategie der rechten Säule - Einhaltung des Standes der Technik - betrieblich umzusetzen. Die Forderung nach Einhaltung des Standes der Technik ist zudem auf die Planung/Gestaltung des Arbeitssystems (siehe Kap. 3 ff.) ausgerichtet. Dies bedeutet, dass bereits in den Grundpflichten gemäß § 7 Absatz 4 GefStoffV der Stand der Technik (im weiteren Text StdT abgekürzt), vorrangig bei der Gestaltung geeigneter Verfahren inkl. technischer Steuerungseinrichtungen, beim Einsatz emissionsfreier oder emissionsarmer Verwendungsformen sowie bei der Verwendung geeigneter Arbeitsmittel und Materialien Anwendung zu finden hat.

Mit diesem "Zwei-Säulen-Modell" nimmt die GefStoffV im Vergleich zu anderen Einzelverordnungen zum ArbSchG eine Sonderstellung ein, d. h. die Parallelstellung beider Schutzstrategien (Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte und Einhaltung des Standes der Technik). Dies ist in anderen Einzelverordnungen zum ArbSchG nicht darstellbar, da dort der StdT primär auf die Forderung abzielt, die Unterschreitung der Grenzwerte (z. B. Lärmgrenzwerte) sicherzustellen.

Jedoch erweist sich die Vermischung beider Schutzstrategien nach GefStoffV hinsichtlich der erwünschten betrieblichen Rechtssicherheit als problematisch.

Um dem Rechtsadressaten im konkreten Tätigkeitsbezug

  • eine nachvollziehbare Darlegung seiner konkreten firmenspezifischen Betriebs- und Verfahrensweisen,

  • eine nachvollziehbare Beurteilung der branchenüblichen und branchenübergreifenden Betriebs- und Verfahrensweisen sowie in der Folge,

  • einen Vergleich dieser Betriebs- und Verfahrensweisen mit dem Ziel vorzunehmen, den Stand der Technik zu ermitteln und unter Beachtung des Bestandsschutzes betrieblich umzusetzen,

müssen ihm ergänzende Instrumente bzw. Handlungshilfen angeboten werden.

Eine zentrale Handlungshilfe im nationalen Gefahrstoffrecht stellen die Ausführungen in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) dar. Dem Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) fällt gemäß § 20 Absatz 3 GefStoffV dabei die Aufgabe zu, den Stand der Technik - insbesondere im Rahmen der Erarbeitung von Technischen Regeln - darzulegen und im konkreten Tätigkeitsbezug zu beschreiben.

Gemäß § 7 Absatz 2 GefStoffV entfalten diese Beschreibungen den Vermutungsgrundsatz. Dies bedeutet, dass die Schutzziele der Verordnung mit der Umsetzung dieser technischen und/oder organisatorischen Betriebs- und Verfahrensweisen erreicht werden. Der Anwender der TRGS ist i. d. R. durch das Selbstverständnis geleitet, dass dieser Zusammenhang zwischen technischer Regel und Vermutungswirkung gegenüber der Verordnung uneingeschränkt besteht.

Die begriffliche Bestimmung des Standes der Technik nach § 2 Absatz 12 GefStoffV enthält zahlreiche Ausführungen und textliche Untermauerungen, die den Adressaten bei seinem konkreten betrieblichen Handeln unterstützen sollen.

Ob diese verordnungsrechtliche begriffliche Konkretisierung den betroffenen Fachexperten bei der Beratung des Arbeitgebers verständlich und hilfreich ist, wurde im Rahmen einer Kurzstudie (Online-Befragung), an der Bergischen Universität Wuppertal *** eruiert. Dabei galt es u. a. die Frage zu beantworten, welchen fachlichen und anwendungsbezogenen Interpretationsspielraum die Experten - die gleichzeitig Adressaten der GefStoffV sind - dieser Begriffsbestimmung einräumen. Im Ergebnis der Auswertung konnte u. a. festgestellt werden, dass

  • 57 % der Experten den "Stand der Technik" in sein Begriffsumfeld einordnen konnten und

  • 54 % der Experten unter einem "mit Erfolg in der Praxis erprobten" Verfahren ein Vorgehen bzw. eine Entscheidung im Sinne des eigenen betrieblichen Erfolgs (z. B. durch Wirksamkeitsüberprüfung) verstehen (Auszug).

Die Sichtweise der befragten Experten hinsichtlich Begriffsdeutung und -auslegung deckt im Abgleich mit der gesetzlichen Begriffsbestimmung des StdT (GefStoffV) einen fachlich sehr breit gefächerten Deutungsbereich ab. Diese Vielfalt an Auslegungen erweist sich in so weit als problematisch, als dass die Ableitung eines konkreten betrieblichen Handelns und der Vergleich von Lösungen für den Arbeitgeber erschwert wird und im Ergebnis zu einer individuellen, nicht transparenten Einzellösung führt. Eine solche "Insellösung" kann dem Arbeitgeber und Adressat der GefStoffV die angestrebte Rechtssicherheit nur unzureichend bieten.

Hilfreich für die Umsetzung dieser Forderung der GefStoffV ist daher eine thematische Ab- bzw. Eingrenzung des Anwendungsbereiches des Standes der Technik untermauert durch fachliche und methodische Klarstellungen sowie einer Hilfestellung zur Ableitung nachvollziehbarer und bewertbarer Entscheidungen.

Mit diesem wissenschaftlichen Hintergrundpapier (Anlage 2 zur TRGS 460) wird das Ziel verfolgt, die Handlungsempfehlung dieser TRGS fachlich und methodisch zu konkretisieren.

Neben dieser fachlich-inhaltlichen Positionierung besteht ein weiteres Bestreben in der Minimierung bestehender "Unschärfen" bei der Ermittlung des StdT auf betrieblicher Ebene.

Langfristig ist damit das Anliegen verbunden, ein gemeinsames Verständnis der Technikklausel "Stand der Technik" auf der Basis eines reflektierten Problembewusstseins bei den Akteuren zu entwickeln.

BVerfGE 49, 89 Kalkar I, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. August 1978 - 2 BvL 8/77,

Anonyme Online-Befragung von 237 Arbeitsschutzakteuren im Rahmen von: DUNKEL, S.: "Ermittlung und Bewertung der Deutungsvielfalt der Technikklausel Stand der Technik" (unveröffentlicht), Bergische Universität Wuppertal, FG Sicherheitstechnik/Arbeitssicherheit, Wuppertal 2009.

2 Einführung in die Thematik

Der Stand der Technik (StdT) beschreibt eine betriebliche Verfahrensweise durch ein Bündel von reellen Maßnahmen. Diese Summe der Maßnahmen bildet prozessabhängig ein technisches Niveau ab. Er ist für jeden technischen Prozess **** in definierbaren Systemgrenzen i. d. R. (Arbeitssystem) existent und in der Regel bestimm- und beschreibbar, z. B. für das

  • kontaktfreie Ausbringen von Bioziden,

  • Absaugen von Hartholzstäuben mit einem Erfassungsgrad von xx %,

  • Spannungsarm-Glühen zur Eigenspannungsminderung im Stahl,

  • Schweißen von Aluminiumgusswerkstoffen im Schiffbau oder

  • manuelles Demontieren von Asbestzementplatten.

Die Maßnahmen setzen sich i. d. R. aus technischen und/oder organisatorischen Einzelmaßnahmen zusammen. Dabei ist der Stand der Technik grundsätzlich unabhängig und losgelöst von der gesetzlichen Zulässigkeit einer Lösung, z. B. im Rahmen der Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften. Das in der Praxis nachgewiesene, praktizierbare (Schutz-)Niveau des StdT kennt grundsätzlich keine Rangfolge oder Wichtung der Anteile an technischen und organisatorischen Maßnahmen. Je nach Einzelfall können diese Anteile variieren, d.h. der StdT kann durch einen hohen Anteil technischer und einen geringeren Anteil organisatorischer Maßnahmen gleichermaßen realisiert werden wie bei einem hohen Anteil organisatorischer und einem deutlich geringeren Anteil technischer Maßnahmen.

Der StdT ist damit die faktische Beschreibung von praktizierbaren, maßnahmenorientierten Handlungen ohne Bezug zu einer Risikokonvention. Das im Arbeitsschutz zu praktizierende T-O-P-Modell (Technik - Organisation - personenbezogen) zur additiven Maßnahmenfestlegung im Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung bleibt grundsätzlich davon unberührt. Im Rahmen des Abwägungs- und Entscheidungsprozesses zur Ermittlung des Standes der Technik sollte jedoch in Betracht gezogen werden, dass mit einem höheren Anteil technischer Schutzmaßnahmen i.d.R. eine höhere Zuverlässigkeit einhergeht.

Im Gegensatz dazu sind die konkreten firmenspezifischen Betriebs- und Verfahrensweisen als auch die branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen betriebliche Zustände im Unternehmen, die reell vor Ort in der Praxis vorzufinden sind (vgl. Abb. 2-1). Sie beschreiben ebenso ein Bündel von technischen und/oder organisatorischen Maßnahmen.

Entsprechend den angewandten Prozessen können diese Betriebs- und Verfahrensweisen im Detail (Kombination der Einzelmaßnahmen) ein stark unterschiedliches technisches als auch organisatorisches Niveau aufweisen.

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Abb. 2-1: Grundlegender Denkansatz zur Ermittlung des Standes der Technik

Grundsätzlich gilt:

Der StdT wird aus den konkreten branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen der Prozessanwender abstrahiert. Ausnahmen, die die Umsetzung eines branchenübergreifenden StdT aufgrund der herangezogenen Beurteilungskriterien, der Verhältnismäßigkeit und dem Sicherheitsgewinn erforderlich machen, sind möglich.

Der Gesetzgeber schreibt in Gesetzen und Verordnungen fest, welches technische (Schutz-) Niveau der Adressat anzustreben, zu realisieren bzw. nachzuweisen hat, z. B. macht er arbeitsschutzpolitische Setzungen zum Ersatz asbesthaltiger Produkte oder zu Tätigkeiten mit Ammoniumnitrat und organischen Peroxiden. Der Gesetzgeber kann damit den StdT als Schutzziel fordern (z. B. geschlossenes System), aber nicht den StdT in seiner praktischen Ausführung (das konkrete Maßnahmenbündel) definieren. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber diese Forderung stellt, führt nicht automatisch zur Änderung des StdT. Jedoch kann eine solche rechtliche Fixierung die Weiterentwicklung des StdT gezielt fördern bzw. begünstigen. Das Verbesserungsgebot nach ArbSchG ist eine solche Forderung.

In der GefStoffV besteht zudem die Besonderheit, dass der Gesetzgeber die Einhaltung des StdT auch als Schutzstrategie für die in Aussicht genommenen Stoffe einfordert, für die kein Arbeitsplatzgrenzwert aufgestellt wurde.

Die Schnittstelle zwischen beiden Anforderungen (Stand der Technik - Gesetz) liegt in der Abbildung des momentanen StdT in den Vorschriften, Technischen Regeln oder in den technischen Spezifikationen, vorrangig in den harmonisierten Normen (Produktsicherheit/Maschinensicherheit).

Damit wird der zum Zeitpunkt der Festschreibung bestehende StdT - mit seiner Beschreib- und Bestimmbarkeit - zur Konvention, zur Maßgabe im rechtlichen Konstrukt obwohl seine spezifische Ausprägung/Qualität grundlegend unabhängig von der Vorschrift ist.

Technische Regeln (untergesetzliches Regelwerk des Arbeitsschutzes) als auch produktspezifische harmonisierte Normen (Konkretisierungen des Produktsicherheitsrechts) beschreiben zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung den StdT. Da diese Schriften konsensbasiert erstellt werden, besteht zu diesem Zeitpunkt die Akzeptanz der Fachleute hinsichtlich der Eignung im o.g. Sinne.

Der StdT erhält durch den Anwendungsbereich der jeweiligen Vorschrift (z. B. GefStoffV) einen fachlichen Bezug und benötigt damit ein fachbezogenes Arbeitssystem mit statischen und dynamischen Komponenten.

Ein technischer Prozess ist allgemein die Realisierung einer Technologie mit allen technischen und organisatorischen Erfordernissen (Maßnahmen). Im ingenieurwissenschaftlichen Kontext sind Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen in den allgemeinen Prozessbegriff eingeschlossen.

3 Das Modell des statischen Arbeitssystems

3.1 Das 2D-Modell

Um den in der GefStoffV geforderten StdT nachvollziehbar bestimmen zu können, ist es zunächst erforderlich, für die firmenspezifische Betriebs- und Verfahrensweise das Arbeitssystem (Fokus: Tätigkeit) festzulegen. Mit dieser statischen Beschreibung des Arbeitssystems ist eine transparente Abgrenzung derjenigen Tätigkeiten möglich, die bei der Bestimmung der firmenspezifischen Betriebs- und Verfahrensweise sowie bei der späteren Ermittlung des StdT mit einbezogen werden müssen.

Das zweidimensionale Arbeitssystem (vgl. Abb. 3-1) berücksichtigt einerseits

  • die gefahrstoffrechtlich relevanten Stoffströme ("tägliche" Abläufe) und andererseits

  • den Lebenszyklus der Anlage(n) (einmalige Abläufe).

Ergänzend dazu sind übergeordnete Rahmenbedingungen (wie z. B. Infrastrukturen, Beschäftige) zu berücksichtigen.

Der Stoffstrom als horizontale Achse
beschreibt die in das Arbeitssystem eingespeisten Stoffe und Energien, die Bearbeitung innerhalb des Arbeitssystems sowie die entstandenen Arbeitsergebnisse/Produktreststoffe und die daraus resultierenden Abfälle.
Der Lebenszyklus in der vertikalen Achse
bezieht sich auf die im Arbeitssystem eingebundenen Arbeitsmittel und Anlagen, die geplant, realisiert, in Betrieb genommen und dann nach der Nutzung außer Betrieb genommen, rückgebaut und entsorgt werden.

Das Arbeitssystem umfasst nachfolgende Arbeitssystemelemente

  • die räumliche Arbeitsstätte,

  • die darin enthaltenen Arbeitsgegenstände (z. B. Lötzinn),

  • die Arbeitsmittel und -verfahren (z. B. Anlagen, Maschinen, Transportmittel, Werkzeuge),

  • die Beschäftigten mit ihren individuellen Merkmalen, Dispositionen und Qualifikationen (inkl. der zu erfüllenden Arbeitsaufgabe) sowie

  • die Umwelt bzw. die Umgebungsbedingungen.

In Arbeitssystemen werden entsprechend der gestellten Arbeitsaufgabe und dem festgelegten Arbeitsablauf Tätigkeiten im Sinne des § 2 Absatz 5 GefStoffV ausgeführt, die sowohl bestimmungsgemäß als auch nicht bestimmungsgemäß sein können.

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Abb. 3-1: Abgrenzung des Arbeitssystems des Standes der Technik im Gefahrstoffrecht

Die Arbeitsaufgabe (Element aus dem Arbeitssystem) entspricht in diesem wissenschaftlichen Hintergrundpapier der Tätigkeit gemäß § 2 Absatz 5 GefStoffV. Sie wird durch die Einbindung der Arbeitssystemelemente eindeutig beschreib- und nachvollziehbar (z. B. Umfüllen von Chlorbleichlauge aus Tanks in ortsfeste Lagerbehälter, Desinfektion von Flächen in Einrichtungen des Gesundheitswesens) Dies ist eine zentrale Voraussetzung für die Vergleichbarkeit von Tätigkeiten bei der Ermittlung des Standes der Technik (vor allem bei branchenübergreifenden Betriebs- und Verfahrensweisen).

3.2 Arbeitssystemelemente, die von der Definition des StdT erfasst werden

In den gefahrstoffrechtlichen Anwendungsbereich der Definition "Stand der Technik" sind die im Arbeitssystem aufgeführten Arbeitssystemelemente (vgl. Abb. 3-2 bzw. in Abb. 3-1 Kasten Arbeitsstätte dunkel/blau hinterlegt) eingeschlossen. Danach werden Tätigkeiten mit Gefahrstoffen i. d. R. in unmittelbarer und untrennbarer Verbindung mit den dafür erforderlichen Arbeitsmitteln und -verfahren sowie Einrichtungen ausgeführt. Das Zusammenwirken der Arbeitssystemelemente charakterisiert die Tätigkeiten und lässt grundsätzlich die Differenzierung von zwei Tätigkeitsarten zu:

  • der bestimmungsgemäße Gebrauch von Gefahrstoffen, Arbeitsmitteln und Arbeitsverfahren sowie

  • die nicht bestimmungsgemäße, jedoch vernünftigerweise vorhersehbare Verwendung, vorrangig von Arbeitsmitteln im Zusammenwirken mit Stoffen, Arbeitsgegenständen, -verfahren und Betriebsweisen.

Die Festlegung eines Standes der Technik bezieht sich immer auf ein abgeschlossenes Arbeitssystem für eine Tätigkeit. Dabei können vor- oder nachgelagerte Arbeitsschritte wie die Entsorgung von Betriebsstoffen oder das Aufbauen der Produktionsanlage ggf. für den Stand der Technik des Produktionsvorganges unberücksichtigt bleiben.

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Abb. 3-2: Das eingegrenzte statische Arbeitssystem (Anwendungsbereich)

4 Einführung der dynamischen Prozessebene

Neben den Komponenten STOFFSTROM und LEBENSZYKLUS wird das vorgestellte Arbeitssystem der fachspezifischen sowie der branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen sowie des abzuleitenden Standes der Technik durch eine weitere Komponente - die ZEIT bzw. die DYNAMIK - charakterisiert und beeinflusst. Die Dynamik kann sich auf zwei Ebenen vollziehen.

4.1 Innere Dynamik

Das aus dem Gesamtsystem (Abb. 3-1) eingegrenzte statische Arbeitssystem (Abb. 3-2) kann sich in einem Unternehmen mit der Zeit ändern. Wird diese Änderung durch innerbetriebliche Faktoren hervorgerufen und beeinflusst - z. B. Personalwechsel, Umbauten, neue Anlagen-komponenten infolge geänderter Produktmaße und Modernisierung von veralteten Anlagen (Ertüchtigung) durch neue, leistungsstärkere Komponenten - ist eine erneute Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Diese Veränderungen sind nicht üblicherweise maßgebend für die Ausweisung oder Weiterentwicklung des StdT und werden daher nicht weiter betrachtet. Im Einzelfall kann eine solche Veränderung auch den StdT verändern.

4.2 Äußere Dynamik

Ergibt sich die Notwendigkeit einer Änderung des Arbeitssystems durch externe Einflüsse (mit Folgen für die gesamte Branche), z. B. in Folge von Kenntnissen über neue Verfahren bzw. technische Neuerungen oder veränderte rechtliche Auflagen (z. B. Neufassung der StörfallV) muss das eigene Arbeitssystem (firmenspezifische Betriebs- und Verfahrensweise) auf der Basis einer Informationsermittlung neu beurteilt werden.

Auch veränderte Marktmechanismen können aus ökonomischen Gründen zur treibenden externen Kraft werden und den StdT nachhaltig verändern, z. B. durch Rohstoffverteuerung.

Für den Arbeitgeber wird dieses Erfordernis formal erkennbar u. a. durch neue betriebliche Standards, Fachveröffentlichungen (z. B. wissenschaftliche Veröffentlichungen, Brancheninformationen, Verbandsmitteilungen, etc.), Bekanntmachung neuer/geänderter Vorschriften und Regeln und die Verfügbarkeit von technischen Neuerungen, z. B. Verfahren, die bereits betrieben werden. Der Zeitpunkt des verfügbaren Wissens kann dabei mit unterschiedlicher Dauer vom Zeitpunkt der Beurteilung des eigenen Arbeitssystems abweichen (ex ante *****-Beurteilung, Bestandsschutzproblematik). So kann z. B. eine maßgebliche technische Änderung der eigenen/betrachteten Anlage in der zeitlichen Folge auch den zu Grunde gelegten Maßstab für alle anderen branchenüblichen - d.h. den StdT bestimmenden - Betriebs- und Verfahrensweisen bedeuten (innere Dynamik führt zur äußeren Dynamik - Vorreiterrolle).

Die Informationsermittlung dient der Eruierung aller Einflussgrößen auf das Arbeitssystem mit dem Ziel,

  • die Änderungen des Arbeitssystems (äußere Dynamik) abzubilden,

  • die vorhandenen firmenspezifischen und branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen zu eruieren und zu beurteilen und

  • die Betriebs- und Verfahrensweisen miteinander zu vergleichen.

Dabei gilt es zu klären, ob diese Ermittlung grundsätzlich auch branchenübergreifende Vergleiche erforderlich macht bzw. zulässt, d.h. die Einbeziehung von Betriebs- und Verfahrensweisen aus anderen Branchen mit vergleichbaren Prozessen, Technologien, Arbeitsweisen und Tätigkeitsbereichen, die mit einem deutlichen Sicherheitsgewinn einhergehen.

Die Grenzen bzw. die Ausweitung der Ermittlung ist nicht nur branchenbezogen, sondern auch territorial zu stellen, d.h. es ist zu klären, ob eine international orientierte Informationsermittlung, eine Ermittlung im Anwendungsbereich des europäischen Rechts oder lediglich eine nationale Feststellung zu den branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen erforderlich ist. Die Größe und der Verbreitungscharakter der Branche sind mögliche Anhaltskriterien für die territoriale Eingrenzung.

Es gilt zudem eine Aussage zu treffen, ob Betriebs- und Verfahrensweisen in industriellen Bereichen mit Betriebs- und Verfahrensweisen in nicht industriellen Bereichen (z. B. im Handwerk), jedoch mit gleichem Tätigkeitsbezug, z. B. Aluminiumschweißen, miteinander verglichen werden können, um dem StdT zu ermitteln. Eine Differenzierung scheint geboten, da u. a. der sicherheitsbezogene Kenntnisstand (Fachwissen) sowie die bestehenden Möglichkeiten, Investitionen zu tätigen (z. B. im Rahmen von Nachrüstungen), in der Regel nicht vergleichbar sind.

Mit ex ante wird der vorhergehende Zeitpunkt in Bezug auf ein zu beurteilendes Handeln bezeichnet. Bei einer ex ante-Betrachtung wird zur Beurteilung auf das abgestellt, was vor dem Handeln erkennbar war. Im Gegensatz dazu werden bei der ex post-Betrachtung auch erst nachträglich erkennbar gewordene Fakten mit berücksichtigt.

4.2.1 Das dynamische Arbeitssystem zum Planungszeitpunkt tvor

Die Betrachtung des Lebenszyklus eines Arbeitsmittels, Verfahrens oder auch einer Arbeitsstätte setzt bereits in der Planungsphase, also außerhalb des eingegrenzten statischen Arbeitssystems an (siehe Abb. 3-1). In der Praxis werden die erstmalige Zusammensetzung und die Gestaltung des Arbeitssystems (also die praktische Umsetzung des StdT in einem reellen Arbeitssystem) in dieser zeitlichen Phase entscheidend festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt entspricht die geplante firmenspezifische Betriebs- und Verfahrensweise dem StdT. Dieser Planungszeitpunkt wird mit tvor (tvor < t0) bezeichnet, vgl. Abb. 4-1.

4.2.2 Das dynamische Arbeitssystem im Betrachtungszeitraum t0tnachtnach+1

Der Anwendungsbereich der Gefahrstoffverordnung stellt auf die Tätigkeit von Beschäftigten mit Gefahrstoffen ab. Mit dem geschaffenen tätigkeitsspezifischen Arbeitssystem ist auch der Anwendungsbereich des Standes der Technik in der Gefahrstoffverordnung abgebildet.

Der für die Gefährdung durch Gefahrstoffe relevante Zäsurpunkt im Arbeitssystem ist der Zeitpunkt des Tätigkeitsbeginns und der damit erstmals möglichen Exposition. Er wird im Modell mit t0 beschrieben, vgl. Abb. 4-1.

Der Prozess der äußeren Dynamik und die damit verbundene extern initiierte Beurteilung der branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen kann im Ergebnis die Anpassung der firmenspezifischen Betriebs- und Verfahrensweise und damit die Anpassung an den StdT zur Folge haben (siehe Abb. 4-1, tnach, tnach+1). Der Zeitpunkt bzw. das Zeitfenster zur Beurteilung des eigenen Arbeitssystems ist von zahlreichen begünstigenden und hemmenden Einflussfaktoren abhängig, z. B. von

  • der Medienwirksamkeit,

  • der Bewerbung innerhalb der Branche,

  • der Möglichkeit der Effektivitätssteigerung,

  • der rechtlichen Verbindlichkeit und letztendlich auch von

  • der Unternehmensphilosophie.

Eine Neujustierung des StdT muss im Sinne der rechtsverbindlichen Schutzzielforderung dabei mindestens zur gleichen Restgefährdung bzw. im Sinne des Verbesserungsgebotes zu einer geringeren Restgefährdung (Stoffexposition, mechanische Gefährdungen etc.) führen.

Im Rahmen der Ermittlung möglicher Verfahren, Technologien und Maßnahmen, die den StdT im dynamischen Prozess bestimmen und damit auch verändern können, ist es erforderlich, dass alle branchenspezifischen Betriebs- und Verfahrensweisen sowie mögliche branchenübergreifende

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Abb. 4-1: Dynamisches Arbeitssystem des StdT im Betrachtungszeitraum tvor → tnach+1

Alternativen in den mehrdimensionalen Abwägungs- und späteren Entscheidungsprozess aufgenommen werden.

Die Mehrdimensionalität des Abwägungsprozesses bedarf vor allem dann einer Einzelfallentscheidung, wenn eine Gefährdungsminimierung (z. B. Minimierung der Exposition, höhere Verbindlichkeit der Maßnahme) zu Ungunsten einer anderen Gefährdung (Erhöhung der thermischen Gefährdung) oder eines anderen Schutzziels (z. B. des Umwelt- oder Patientenschutzes) erreicht wird.

Die Einbindung branchenübergreifender Betriebs- und Verfahrensweisen ist vor allem dann empfehlenswert, wenn

  • die Branche sehr klein ist (z. B. nur wenige Hersteller eines Spezialprodukts in Deutschland),

  • das Arbeitssystem auf andere Branchen gut übertragbar ist (z. B. Tätigkeit "Befüllen von Tanks": dieses Arbeitssystem ist u.a. in der chemischen Industrie, in der Lebensmittelindustrie und in der Mineralölindustrie vorhanden),

  • der Sicherheitsgewinn bzw. das Innovationspotential sehr hoch ist.

Es sollte darauf geachtet werden, dass keine "Vorauswahl" der zu vergleichenden branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen getroffen wird. Es ist durchaus möglich, dass Betriebs- und Verfahrensweisen in diese Ermittlungsphase aufgenommen werden, die im Regelungsbereich Gefahrstoffschutz (Arbeitsschutz) geeignet sind, jedoch begründet durch Regelungen aus anderen Bereichen (z. B. technische Spezifikationen aus umweltrechtlichen Forderungen, Normen aus dem Baurecht) a priori nicht zulässig sind.

5 Entscheidungshilfen/-Strategien für den Abwägungsprozess

Die systematische Gegenüberstellung der firmenspezifischen, branchenüblichen und gegebenenfalls branchenübergreifenden Betriebs- und Verfahrensweisen (Tätigkeitsbeschreibung, Arbeitssystem mit Stoff- und Materialstrom) lässt sich grundlegend durch eine formale sowie eine fachlich-inhaltliche Ebene charakterisieren.

5.1 Formale Ebene

Die formale Ebene wird durch die Beschreibung der firmenspezifischen und branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen anhand der zur Verfügung gestellten Beurteilungskriterien realisiert.

Die Abbildung branchenüblicher als auch möglicher branchenübergreifender Betriebs- und Verfahrensweisen macht eine zusätzliche und gegebenenfalls umfassende Informationsbeschaffung (fokussierte Tätigkeit mit Gefahrstoffen) erforderlich.

Im Rahmen dieser Informationsbeschaffung sind u. a. nachfolgende aktuelle Quellen zu beachten (unvollständige Aufzählung):

  • stoff- und verfahrensspezifische Technische Regeln, z. B. TRGS 505 "Blei",

  • Vorschriften und Branchenregelungen der DGUV,

  • ergänzende Vergleichsmethoden (z. B. Spaltenmodell nach TRGS 600 "Substitution" Anlage 2 Nr. 1),

  • Leitlinien der Länder/Informationsschriften der Vollzugsbehörden,

  • (harmonisierte) Normen, Vornormen,

  • wissenschaftliche Schriften, Expertisen,

  • Schriftsätze aus Branchen- und Fachzeitschriften,

  • Informationsschriften der Industrieverbände/Innungen/Handwerkskammern,

  • weitere Standardisierungsprodukte (z. B. VDI-Richtlinien, DIN SPEC).

Zudem ist die erforderliche Reichweite der Informationsermittlung, z. B. durch die Einbindung europäischer oder auch internationaler Lösungsansätze (territorialer Bezug) festzulegen.

Je nach der Spezialisierung der zu vergleichenden Betriebs- und Verfahrensweisen sind detaillierte Rechercheanforderungen zu leisten, z. B. auch durch die Einbindung von Testberichten zur erfolgreichen Erprobung in der Praxis.

Die Praxishilfe (siehe Anlage 1) dient der standardisierten Beschreibung der zu vergleichenden firmenspezifischen und branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen. Die auf diese Weise durchführbare Gegenüberstellung der unterschiedlichen Betriebs- und Verfahrensweisen erlaubt die Erstellung einer nachvollziehbaren Datenbasis bzw. Beurteilungsgrundlage für die Zielstellung "Ermittlung des Standes der Technik".

Die vorangestellte Beschreibung des Arbeitssystems unterstützt durch ausgewählte Angaben die erforderliche Charakterisierung des Arbeitssystems. Beispiele hierfür sind die Themen Arbeitsstätte, -umgebung, Arbeitsmittel, Lüftungstechnik sowie Angaben zum Stoffstrom. Sie ermöglicht zudem eine einzelfallabhängige Ergänzung, z. B. durch Hinweise zur speziellen Abscheidetechnik der vorhandenen Lüftungsmaßnahme.

Folgende Beurteilungskriterien können dabei zur Anwendung kommen:

  • Expositionsdaten und -spitzen unter Beachtung unterschiedlicher Betriebszustände,

  • gesundheits- bzw. risikobasierte Beurteilungsmaßstäbe,

  • Expositionszeiten (dauerhaft, z. B. über die gesamte Schicht/kurzzeitig, z. B. mehrmaliges Umfüllen pro Schicht/sporadisch, z. B. bei Bedarf einmal pro Woche),

  • Verfügbarkeit/Wirksamkeit der Maßnahmen (Anteil willensunabhängiger/willensabhängiger Lösungen),

  • konkurrierende Bewertungsaspekte,

  • Praxiserfahrungen beim Einsatz der Betriebs- und Verfahrensweisen,

  • veränderte Gefährdungsprofile (neue Gefährdungen),

  • Regelungen in anderen Themenbereichen des Arbeitsschutzes, wie z. B. Betriebssicherheit, Arbeitsstätten, Biostoffe,

  • über die GefStoffV hinausgehende, zu berücksichtigende andere Rechtsgebiete, wie z. B. Medizinprodukterecht, Umweltrecht (Störfallrecht), Verbraucherschutzrecht, Patentrecht,

  • Vorgaben oder Einschränkungen durch Normen, Patente, Verfahren nach GLP, GMP,

  • wirtschaftliche und sozioökonomische Aspekte sowie

  • weitere entscheidungsrelevante Bewertungsaspekte, wie z. B. die Qualität der Arbeitsergebnisse,

  • erfolgreiche Erprobung der Betriebs- und Verfahrensweise in der Praxis etc.,

  • Akzeptanz bei den Durchführenden und den Betroffenen.

5.2 Fachlich-inhaltliche Ebene

Um den StdT aus den abgebildeten firmenspezifischen und branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen abzuleiten, ist es im Rahmen der fachlich-inhaltlichen Ebene erforderlich, eine individuelle Wichtung und Abwägung der Beurteilungskriterien sowie weiterer Aspekte durchzuführen. Das Ergebnis dieses Abwägungsprozesses ist eine Einzelfallentscheidung auf der Basis von gewichteten Beurteilungskriterien und nachfolgenden Aspekten.

Gesetzlich verankerten Faktoren (z. B. die Einhaltung der Arbeitsplatzgrenzwerte bzw. anderer staatlicher Grenz- und Zielwerte, das Minimierungsgebot, die Verwendung im geschlossenen System) sind in diesem Prozess hohe Prioritäten einzuräumen. Auch Unternehmensphilosophien, Behördenempfehlungen etc. sind im Rahmen der Wichtung einzubinden.

Auch die Ausweisung des Beurteilungskriteriums "Expositionsdaten" sollte in die Betrachtung eingebunden werden. Der damit gegebenenfalls verbundene Hinweis "Keine Daten vorhanden" sollte im Gegensatz zur Gefährdungsbeurteilung nicht grundsätzlich als kritisch bewertet und dieser betrachtete Betriebs- und Verfahrensweise dem Abwägungsprozess entzogen werden.

Gerade sehr neue und fortschrittliche Betriebs- und Verfahrensweisen, die in die Beurteilung des StdT einbezogen werden, verfügen zwar über Tendenzen (z. B. hinsichtlich der zu erwartenden Expositionswerte/-minderung) jedoch liegen diese i. d. R. noch nicht quantifiziert vor. Im Hinblick auf die Innovationskraft dieses Vorgehens und der Weiterentwicklung des Standes der Technik, sollte der Hersteller dieser innovativen Betriebs- und Verfahrensweisen die erforderlichen Daten zeitnah erheben, um damit deren Etablierung am Markt voranzutreiben.

Die Ableitung des StdT ausschließlich auf der Basis der Festsetzung von Expositions-Perzentilen (50- oder 95-Perzentil) ist nicht empfehlenswert. Die Weiterentwicklung des StdT erfordert zwar mit dem Verbesserungsgebot (gemäß ArbSchG) die stetige Minimierung der Exposition, jedoch ist der Abwägungsprozess aufgrund der zahlreichen Einflussgrößen auf mehrere Beurteilungskriterien, z. B. das technische und organisatorische Maßnahmenniveau, die Wirksamkeit der Maßnahmen (im Sinne einer Willens(un) abhängigkeit), Größe des Betroffenenkreises, Schutzziele anderer Schutzbereiche etc. abgestellt.

Mit der Anwendung eines konkreten Maßnahmenniveaus ist ein definierbares Expositionsniveau (ggf. Expositionsband) erreichbar. Die alleinige Betrachtung von Expositionsdaten und Perzentilen, die nicht deutlich mit den zur Anwendung gekommenen Maßnahmen verbunden ist, lässt i.d.R. auch keine eineindeutigen Rückschlüsse auf den möglichen StdT zu.

In die Abwägung der firmen- und branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen sollte zudem eine Maßnahmengewichtung im Sinne des T-O-P-Modells (Technik - Organisation - personenbezogen) eingebunden werden. Diese folgt dem rangfolgeorientierten Anliegen, den technischen Schutzmaßnahmen aufgrund der damit verbundenen höheren Verfügbarkeit/Wirksamkeit und der damit i. d. R. auch unterstellten höheren Zuverlässigkeit Vorrang gegenüber den organisatorischen oder kollektiven Schutzmaßnahmen (z. B. Einsatz von PSA) zu geben. Dabei ist zudem einer willensunabhängigen technischen Schutzmaßnahme (z. B. integrierte Absaugung, Formschlüssigkeit) Priorität gegenüber einer willensabhängigen technischen Schutzmaßnahme (z. B. flexible Absaugung) einzuräumen. Aktuelle Erkenntnisse über die Wirksamkeit von technischen Schutzmaßnahmen sind in die Betrachtung einzubinden.

Maßgabe des Handelns im Sinne der Verkettung von technischen, organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen ist nicht die Strategie "Je mehr Maßnahmen umso sicherer". Eine solche Denkweise kann gegebenenfalls sogar kontraproduktiv sein, also mit der Abnahme des Schutzniveaus einhergehen (z. B. durch Störströmungen). Im Mittelpunkt sollte die konsequente Ausrichtung auf den erkennbaren und zugleich verhältnismäßigen Sicherheitsgewinn stehen.

Auch der Zeitpunkt der Festlegung bzw. Ableitung des StdT kann von zentraler Bedeutung sein. So kann eine Überprüfung nach einem sog. "Technologieschub" die Etablierung des "neuen" StdT in der Branche vorantreiben. Zudem besteht auch die Möglichkeit, die Überprüfung der branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen zur Identifizierung der Betriebe mit niedrigem Gesundheitsschutzstandard heranzuziehen, wenn sich ein StdT in der Branche üblicherweise schon länger etabliert hat.

6 Einordnung des Standes der Technik in den gefahrstoffrechtlichen Rahmen

6.1 Verhältnismäßigkeit und Bestandsschutz

Die dynamische Komponente des Standes der Technik führt dazu, dass sich der StdT fortlaufend verändert und dabei in der Regel verbessert. In Abhängigkeit von der Weite des Vergleichbarkeitsbegriffs kann sich der StdT dabei sehr schnell verändern.

Diese Dynamik existiert auch an anderen Stellen des Gefahrstoffrechts. So sind z. B. jederzeit die aktuellen Arbeitsplatzgrenzwerte (Schutzstrategien, vgl. Abb. 1-1) anzuwenden, auch wenn diese auf Grund neuer Erkenntnisse stark abgesenkt wurden.

Die Veränderung des StdT hat jedoch in der Regel auch Auswirkungen auf die bauliche Gestaltung einer Anlage oder die technischen Komponenten eines Prozesses. Daher kann jede so notwendig werdende Änderung der firmen- bzw. branchenüblichen Betriebs- und Verfahrensweisen mit erheblichen Aufwendungen verbunden sein.

Regulierend ist hier aber der aus dem Verfahrensrecht kommende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (insbesondere im engeren Sinne in Form des Kriteriums der Angemessenheit) zu beachten. In Anwendung dieses Kriteriums kann nicht generell die Anpassung jeder alten Anlage an jede Veränderung gefordert werden. Hier wäre jeweils zu prüfen, ob der Erfolg durch die Anpassung angemessen zu den jeweiligen Aufwendungen ist, insbesondere wenn im Falle der Nachrüstung auf den StdT die Kosten erheblich höher sind als bei Neuanlagen.

Aufgrund des Kriteriums der Angemessenheit ist für Altverfahren/Alteinrichtungen (einschließlich Altanlagen)/Altbetriebsweisen vor der Festlegung von Anpassungsnotwendigkeiten immer zu prüfen, ob nicht ein Bestandschutz besteht. Hierbei können die Maßstäbe wiederum variieren. Auf z. B. eine bauliche Anlage besteht eher ein Bestandsschutz als auf die Einstellung einer Absaugung oder die Art des verwendeten Filters. Allerdings können auch im Falle des Bestandschutzes ergänzende Maßnahmen, z. B. technischer oder organisatorischer Art, erforderlich werden.

6.2 Stand der Technik und Minimierungsgebot

Nach der Gefahrstoffverordnung hat der Arbeitgeber Gefährdungen der Gesundheit und der Sicherheit der Beschäftigten auf ein Minimum zu reduzieren, soweit er sie nicht ausschließen kann.

Die TRGS 500 definiert, dass die Gefährdung auf ein Minimum reduziert ist, wenn z. B. der StdT eingehalten ist. Der StdT, wie er in dieser TRGS beschrieben wird, stellt gerade die niedrigste Gesamtgefährdung für den Beschäftigten sicher.

Die Aussagen "Einhaltung/Umsetzung des Standes der Technik" und "Erfüllung des Minimierungsgebotes" sind daher als gleichwertig anzusehen.

6.3 Stand der Technik und Verfahrens- und stoffspezifische Kriterien nach TRGS 420

Bei der Ermittlung von Verfahrens- und stoffspezifischen Kriterien (VSK) nach TRGS 420 dürfen nur diejenigen Messungen als repräsentative Messungen berücksichtigt werden, die in Arbeitsbereichen nach dem StdT ermittelt wurden. Nur für diese Tätigkeiten mit Schutzmaßnahmen nach dem StdT wird dann geprüft, ob auch der ggf. existierende Arbeitsplatzgrenzwert eingehalten wird.

Insofern vermischt das VSK-Konzept im Rahmen des Zwei-Säulen-Modells die beiden Säulen und fordert implizit die Einhaltung beider Schutzstrategien, siehe dazu Abb. 1-1.

6.4 Stand der Technik und REACH

REACH als europäische Verordnung für das Inverkehrbringen von Chemikalien fordert die Aufstellung von Expositionsszenarien für identifizierte Verwendungen (ab 10 Tonnen/Jahr). Das Expositionsszenario, welches auch dem Sicherheitsdatenblatt beizufügen ist, muss eine Exposition unterhalb des jeweils festgelegten DNEL-Wertes aufweisen. Die zu diesem Zweck notwendigen Expositionsminderungsmaßnahmen sind zu beschreiben.

Aus dieser Vorgehensweise ergibt sich, dass REACH im Sinne des Zwei-Säulen-Modells (siehe Abb. 1-1) lediglich die Einhaltung von "Grenz"-Werten fordert. Die Berücksichtigung eines StdT ist in keiner Weise erforderlich.