Abschnitt 4.3 - 4.3 Gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse - qualitative Maßstäbe
Beim Fehlen quantitativer Beurteilungsmaßstäbe ist gemäß ASR V3 zu überprüfen, ob arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse mit qualitativen Maßstäben verfügbar sind (Forschungsberichte, wissenschaftliche Veröffentlichungen sowie einschlägige Normen).
Aktuell gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zu Studien, die der Frage nachgegangen sind, wann sich psychische Faktoren negativ auf die Gesundheit und das Wohlbefinden auswirken können. Dazu wurden systematisch Überblicksarbeiten wie Metaanalysen und systematische Reviews ausgewertet und somit mehrfach gesicherte Zusammenhänge von Belastung und Gesundheitsbeeinträchtigung geprüft. Die wissenschaftliche Standortbestimmung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin bietet dazu ebenso vertiefte Erkenntnisse (BAuA 2017, Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt) 4) wie der iga.Report 31 5) und der Stressreport 2012 6).
Die psychischen Faktoren sind wie die psychische Belastung neutral als Anforderungen zu verstehen. Je nach ihrer Ausprägung können sie negative oder positive Wirkungen haben. Aus diesem Grund unterscheidet man bei der Wirkung der psychischen Faktoren zwischen Gesundheitsgefahren und Ressourcen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse dazu wird nachfolgend beschrieben.
4.3.1
Ausprägungen psychischer Faktoren - Gesundheitsgefahren
In Tabelle 1 werden die psychischen Faktoren und ihre empirisch ermittelte mögliche Wirkung beschrieben. Treten die Faktoren in einem Mitgliedsbetrieb auf, sollten sie als kritisch bewertet und Maßnahmen abgeleitet werden.
Tabelle 1: Risikofaktoren bzw. gesundheitsgefährdende psychische Faktoren (nach Rau, 2015; BAuA, 2017)
Zu hohe Arbeitsintensität (job demand) | Wenn eine Person in kurzer Zeit, sehr viel Arbeit, in hoher Qualität leisten muss | Depression Psychische Beeinträchtigung 7) |
Zu geringer Handlungsspielraum (job control) | Wenn eine Person wenig Einfluss auf ihre Arbeit und den Arbeitsablauf nehmen kann | Herz-Kreislauf-Erkrankung Depression Psychische Beeinträchtigung |
Job Strain | Kombination aus geringem Handlungsspielraum (job control) und hoher Arbeitsintensität (job demand) | Herz-Kreislauf-Erkrankung Diabetes Typ2 Depression Psychische Beeinträchtigung Angststörungen |
Fehlende oder geringe soziale Unterstützung | Wenn Kolleginnen, Kollegen oder Vorgesetzte wenig Hilfe leisten, wenig Wertschätzung äußern o. ä. | Herz-Kreislauf-Erkrankung Depression Psychische Beeinträchtigung |
Iso-Strain | Kombination von geringer sozialer Unterstützung (Isolation) und hoher Arbeitsintensität bei geringem Handlungsspielraum (job strain) | Herz-Kreislauf-Erkrankung Depression |
Lange Arbeitszeiten, viele Überstunden | Wenn eine Person über die reguläre Arbeitszeit hinaus arbeitet | Herz-Kreislauf-Erkrankung Depression Psychische Beeinträchtigung Diabetes |
Ungünstig gestaltete Schichtarbeit |
| Herz-Kreislauf-Erkrankung Diabetes |
Hohe Arbeitsplatzunsicherheit | Subjektiv erlebte Unsicherheit, den eigenen Arbeitsplatz behalten zu können | Herz-Kreislauf-Erkrankung Psychische Beeinträchtigung |
Rollenstress |
| Depression Angststörungen |
Mobbing/Bullying | Erlebter "Psychoterror" am Arbeitsplatz: aggressives Verhalten von Kolleginnen/Kollegen oder Vorgesetzten mit dem Ziel des "Fertigmachens" und/oder "Wegekelns" | Depression Angststörungen Psychische Beeinträchtigung |
Effort-Reward-Imbalance (Gratifikationskrise) | Wenn ein Ungleichgewicht zwischen eigenem Engagement/Einsatz und Belohnung wahrgenommen wird | Herz-Kreislauf-Erkrankung Depression Psychische Beeinträchtigung |
Destruktiver Führungsstil |
| Anstieg affektiver Symptome, Burnout, Stress und Gesundheitsbeschwerden Reduktion des Wohlbefindens und der psychischen Funktionsfähigkeit |
Sicherlich gibt es weitere Faktoren, die eine Gefährdung darstellen wie beispielsweise Multitasking oder ständige Erreichbarkeit. Sollte vor Ort in einer Organisation festgestellt werden, dass negative Beanspruchungsfolgen aufgrund bestimmter psychischer Faktoren vorliegen, müssen im Sinne des Arbeits- und Gesundheitsschutzes Maßnahmen getroffen werden.
4.3.2
Ausprägungen psychischer Faktoren - Ressourcen
Wenn psychische Faktoren positiv ausgeprägt sind, spricht man von Ressourcen. Im Stressreport 2012 wurde unter anderem untersucht, welche Wirkung ein Mangel an Ressourcen auf die Anzahl unterschiedlicher Beschwerden, den Erschöpfungsgrad und den subjektiv empfundenen Gesundheitszustand hat. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse für Ressourcenmerkmale des Handlungsspielraumes und der sozialen Unterstützung:
Ressourcenmerkmale des Handlungsspielraumes:
Eigene Arbeit selbst planen und einteilen
Einfluss auf die Arbeitsmenge
Ressourcenmerkmale der sozialen Unterstützung:
Hilfe/Unterstützung von Kollegen und Kolleginnen
Hilfe/Unterstützung von der direkten Führungskraft
Aus den Ergebnissen wurde deutlich, dass oft Personen mit einer hohen Anzahl an Beschwerden oder einem hohen Ausmaß an Erschöpfung angaben, "selten" oder "nie" die oben genannten Ressourcen in der Arbeit vorzufinden.
Abbildung 4 verdeutlicht zusätzlich, welchen Einfluss die Unterstützung des direkten Vorgesetzten hat. Die Befragten, die angeben, häufig unterstützt zu werden, geben deutlich weniger gesundheitliche Beschwerden an als die, die manchmal, selten oder nie Unterstützung erhalten.
Abb. 5
Anzahl Beschwerden & Hilfe/Unterstützung vom direkten Vorgesetzten. (Quelle: Lohmann-Haislah, A. (2012): Stressreport Deutschland 2012, S.124.)
Damit liefern diese Zusammenhänge weitere wichtige Hinweise dafür, bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung die Faktoren Handlungsspielraum und soziale Beziehung in Form von sozialer Unterstützung, insbesondere die Unterstützung durch den direkten Vorgesetzten oder die direkte Vorgesetzte zu ermitteln und ihre Ausprägung festzustellen. Wenn die beschriebenen Ressourcen fehlen, steigt die Wahrscheinlichkeit für gesundheitliche Beeinträchtigungen und es sollten präventiv Maßnahmen ergriffen werden.
Weitere Ressourcen für sicheres und gesundes Arbeiten sind (BAuA, 2017):
Handlungsspielraum bei der Arbeit einräumen
Arbeitsintensität angemessen gestalten
Kollegialität und gute Führung sowie wertschätzendes Miteinander im Unternehmen fördern (s. a. Soziale Unterstützung)
Arbeitszeit ergonomisch gestalten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen binden
Fortbildung und Qualifizierung im Unternehmen gezielt managen
Konflikt- und Kommunikationskultur im Unternehmen etablieren
www.baua.de → Themen → Arbeit und Gesundheit → Psychische Gesundheit
In den untersuchten Studien von Rau (2015) war dies der Oberbegriff für das Auftreten von affektiven Störungen, Angst- und Zwangsstörungen