Abschnitt 3.6 - 3.6 Eine Bewegte Schule fördert die neue Lernkultur durch eine pädagogische Architektur
Jede Zeit stellt die Frage nach einer zukunftsorientierten zuverlässigen Bildung. Europaweit zeichnen sich deutliche Entwicklungslinien ab, wohin sich Schulen bewegen können, wollen und auch müssen. Formen des aktiven, selbstgesteuerten Lernens nehmen in der gegenwärtigen und zukünftigen Schule zunehmend breiteren Raum ein (Watschinger/Kühebacher 2007). 20 Schulen werden zu "bewegten Lernlandschaften«, in denen angeleitetes Lernen und direkte Instruktion, selbstentdeckendes, forschendes Lernen, Erarbeitungssowie Übungsphasen, Einzel- bzw. Teamarbeit sich abwechseln. Das Von- und Miteinander erfährt eine neue Gewichtung. Kindergarten- und Schulbauten müssen sich in den Dienst dieser Ziele stellen und die Entwicklung fördern und stützen. Der Aufbau einer Kompetenzkultur erfordert andere Lernarrangements als bisher und damit veränderte Schul- und Raumkompositionen. Die Schularchitektur muss mit der "pädagogischen Architektur"in Passung gebracht werden und die neue Lernkultur geradezu herausfordern (➝ 7.1-7.3).
Mit dem Konzept des neuen Lernens wird der Aufbau einer Kompetenzkultur angestrebt, in der Lernende aktiv handeln und bewegt lernen. Schülerinnen und Schüler sollen ihre Lernwege zunehmend selbst planen, selbst tätig werden, Verantwortung für ihr Lernen übernehmen und ihre Lernprozesse reflektieren, um die Gestaltung des eigenen Lebens verantwortungsbewusst und kompetent in die eigenen Hände nehmen zu können. Das Rüstzeug dazu entwickelt sich allmählich aus vielfältigen Erfahrungen, aus eigenem Tun, aus selbst gewonnenem Wissen, aus Einsichten, aus gelebten Beziehungen - aus unzähligen Bausteinen, die sich zu einem größeren Ganzen zusammenfügen und wirksam werden.
Wie sollen die Lernräume einer Schule angeordnet werden, damit sie den Aufbau einer neuen Lernkultur unterstützen? Dazu gibt es keine eindeutigen Rezepte, wohl aber Erfahrungen, die belegen, dass die Art und Weise, wie Räume beschaffen, wie sie miteinander verbunden und wie sie eingerichtet sind, Auswirkungen darauf haben, wie sich Menschen in diesen Räumen bewegen, wie sie arbeiten und lernen, wie sie sich verhalten und wie sie sich wohlfühlen.
Eine Schule, in der die Klassenräume wie Perlen an einem langen Gang aufgefädelt sind, jede zur anderen hin "hermetisch"abgeriegelt, gibt vom Bau her eine klare Botschaft: Lernen hat im Gleichtakt zu erfolgen, in einer räumlichen und zeitlichen Ordnung, die für alle dieselbe ist. Trotzdem kann auch in solchen Schulen im Sinne des neuen Lernens unterrichtet werden. Viele Lehrerinnen und Lehrer beweisen tagtäglich, dass auch in beengenden Strukturen das Arbeiten im Sinne der neuen Lernkultur möglich ist.
Es sind vor allem die alten, anscheinend so schwer überwindbaren Muster, die festschreiben, dass klar definierte Gruppen von Schülerinnen und Schülern sich von einem Glockengong zum anderen in bestimmten Räumen aufzuhalten haben, oft wie Sardinen in die Dose gezwängt, während in anderen Räumen gleichzeitig gähnende Leere herrscht. Schulen, die als zu eng und zu klein beschrieben werden, bieten plötzlich ausreichend Platz, wenn darin auf eine andere Art und Weise gearbeitet und gelernt wird. "Lernplatz ist überall"könnte die Devise lauten, wenn Einzelne bzw. Gruppen, die wissen, woran sie arbeiten sollen und die sich an Vereinbarungen und Verbindlichkeiten halten können, sich ihren Platz zum Arbeiten selbst suchen.
Die Gestaltung der Lernorte, die Art und Weise, wie Räume miteinander in Beziehung stehen, das Ineinanderfließen von Innen und Außen, das richtige Verhältnis zwischen persönlichen Räumen und Gemeinschaftsräumen, die Anordnung der verschiedenen Lernlandschaften, die farbliche Gestaltung, die Qualität des Lichtes, all das beeinflusst die Lernprozesse nachhaltig. Eine pädagogische Architektur, die sich an der neuen Lernkultur orientiert und die Bedürfnissen der in ihr lebenden, arbeitenden und lerndenden Menschen berücksichtigt, zeichnet sich durch folgende Eigenschaften und Besonderheiten aus.
Die Bezeichnung ›Lernkultur‹ wird immer öfter verwendet, wenn verdeutlicht werden soll, dass schulisches Lernen sich in seinen Zielen und in seinen Verfahren grundlegend ändert. Der Begriff ›Lernkultur‹ macht zugleich deutlich, dass alles ›passen‹ muss. Es geht um das Zusammenwirken der Kräfte und Strukturen, die das Lernen tragen, also die Ziele und Arbeitsverfahren, um die Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie die Schülerinnen und Schüler in ihrer Einstellung zur ›Lernarbeit‹. Erfolgreiches Lernen ist nicht gleichzusetzen mit abrufbarem Wissen. Es ist vielmehr immer ›bildendes‹ Lernen. Der Einzelne mag in unterschiedlichen Fächern unterschiedliche Ergebnisse bzw. Leistungen vorweisen können: Die Kernfrage ist, ob die Ergebnisse seiner Lernarbeit dazu beitragen, ihn zu bilden, d. h. seine Persönlichkeit zu formen. | ||
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Rainer Brockmeyer |
Merkmale einer pädagogischen Architektur der Bewegten Schule21:
Das architektonische Gesamtkonzept spiegelt die pädagogische Philosophie der Schule wider. Die einzelnen Räume stehen in einer Beziehung zueinander. Das Ensemble der Räume vermittelt das Programm der Schule. Schon beim Betreten der Anlage spürt man, wie hier gearbeitet, gelebt, gelehrt und gelernt wird.
Die Architektur und die Einrichtung entsprechen dem Entwicklungsalter der Kinder und Jugendlichen, ihren Lern- und Bewegungsbedürfnissen und jeweiligen Erfahrungs-, Arbeits- und Lernnotwendigkeiten.
Die Gesamtanlage ist so konzipiert, dass sich überschaubare Gemeinschaften bilden können.
Offene, halboffene und geschlossene Räume sind in einem ausgewogenen Verhältnis vorhanden.
Jedes Kind/jeder Jugendliche hat seinen persönlichen Kleinbereich - einen ganz eigenen Schrank, ein eigenes Fach oder gar den eigenen Arbeitsplatz, von dem Elemente in die Gruppenbereiche mitgenommen werden können.
Grundschule Brixen, Südtirol/Italien
Quelle: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007
Grundschule Brixen, Südtirol/Italien
Quelle: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007
Die Schule ist als bewegungsfreundliche und einladende Lernlandschaft konzipiert, in der Kinder und Jugendliche Dinge vorfinden und Situationen erleben, die zum Tätig-Werden auffordern, die zum Probieren animieren, die dazu anregen, Neuland zu erkunden.
"Klassenräume"präsentieren sich als multifunktionale Arbeits- und Lernräume, die sich - je nach Leitbild der Schule - mehr oder weniger bis hin zu Lernwerkstätten gestalten lassen. Auch für die Phasen der frontalen Vermittlung ist Raum da.
Lernplatz ist überall. "Zwischenräume"sind Lernräume. Die Gänge sind einbezogen, Arbeitsecken und Medieninseln verteilen sich im gesamten Haus. Regale und Abstellplätze ermöglichen ein übersichtliches Verstauen der Materialien.
Die räumlichen Gegebenheiten, das flexible Mobiliar und die Unterrichtsorganisation fordern Bewegungen geradezu heraus. Einführungen in Unterrichtsgegenstände, Vorträge, Erklärungen nehmen eine begrenzte Zeit ein - dann arbeiten die Kinder und Jugendlichen an den Lernplätzen, die sie sich selbst suchen: auf dem Boden, an einer der großen Fensterbrüstungen, auf der Treppe, die Kinder finden ihre Plätze, die sie gerade brauchen. Sie agieren intuitiv und aus sich heraus auf ihre ganz eigenen Bewegungsbedürfnisse hin. Die einen brauchen viel an Bewegung, die anderen weniger. 22
Sekundarschule Bürglen, Schweiz: Individuelles und kooperatives Lernen in Lernlandschaften
Quelle: IQES online; Foto: Daniel Rihs
Primarschule Bürglen, Schweiz: Individuelles und kooperatives Lernen in Tischgruppen
Quelle: IQES online; Foto: Daniel Rihs
Bewegung gehört zum Kindergarten- und Schulalltag: Kinder bewegen sich von einem Ort zum andern, sie holen Arbeitsmaterialien, gehen Treppen hoch und runter, ... • Kindergarten Reschen, Südtirol/Italien
Quelle: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007
Neben Gruppenarbeitszonen, einladenden Treffpunkten und Bereichen für Einzelarbeiten ist genügend Platz für Gesprächskreise vorhanden. Die Architektur fördert die Kommunikation.
Produktives selbstständiges Arbeiten in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeiten erfordert eine gute Ausstattung mit Büchern, Lernspielen, Computern und anderen Materialien, die in möglichst unmittelbarer Umgebung der Arbeitstische vorhanden sein sollten.
Die Bibliothek ist als "Selbstlernzentrum"konzipiert, oder sie integriert sich als Arbeitsbibliothek in die Lernwerkstätten. Die Bibliothek enthält neben den Büchern auch die neuen Medien sowie Werkzeuge für die Informationsbearbeitung.
Mittelschule Welsberg und Grundschule Brixen, Südtirol/Italien
Quelle: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007
Die Spezialräume sind logisch in das Gesamtgefüge der Räume integriert und so eingerichtet, dass sie die dort stattfindenden Aktivitäten unterstützen. "Laute"Räume sind so positioniert, dass sie die "leisen"Tätigkeiten nicht stören.
Ein wichtiger Knotenpunkt im Raumgeflecht ist der gemeinsame Versammlungsraum, die Aula.
Das Mobiliar unterstützt die jeweiligen Tätigkeiten und ist flexibel handhabbar. Tische und Stühle sind nicht auf stundenlanges Sitzen hin konzipiert, sondern fordern selbst Bewegung ein.
Die Unterrichtsräume sind so gestaltet, dass sie zum bewegten Lernen einladen. Ein Wechsel der Arbeitsplätze entsprechend dem Arbeitsrhythmus und den Bedürfnissen der Kinder ist ausdrücklich erlaubt.
Die Tatsache, dass die Kinder ihre Hefte und Bücher nicht mehr unter der eigenen Bank sondern in ihrem persönlichen Kleinbereich haben, veranlasst sie, immer wieder aufzustehen, ein Buch oder Heft zu holen, ein Arbeitsblatt in die Mappe zu legen. 23
Bibliothek ist überall. Die gesamte Schule wird zum Leseort. Jede und jeder sucht sich seinen Lieblingsplatz zum Lesen. Grundschule Welsberg, Südtirol/Italien
Quelle: IQES online; Fotos: Josef Watschinger
Arbeit mit Selbstlernpaketen in vorbereiteten
Lernumgebungen; Grundschule Graun, Südtirol/Italien
Quelle: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007
Der Klassenraum ermöglicht, verschiedene selbst gewählte Arbeitshaltungen: am Boden oder an Tischen zu sitzen, stehend zu arbeiten, sich im Raum zu bewegen
Primarschule Chur, Schweiz (➝ 7.2)
Quelle: IQES online
Licht und Farbe sind wichtige Gestaltungselemente. Akustik, Luft und Raumklima sind gebührend berücksichtigt.
Die Gestaltung entspricht dem Empfinden von Kindern und Jugendlichen. Gute Beispiele schulen sinnliches Empfinden. Auch ist Raum vorhanden für ästhetische Projekte mit Kindern und Jugendlichen.
Die Architektur wird dem ausgeprägten Bewegungsbedürfnis der Kinder und Jugendlichen sowohl im Inneren des Schulhauses als auch in der Gestaltung des Schulhofes und Schulgartens gerecht.
Lernplätze für stilles, konzentriertes Arbeiten und für Lernen zu zweit oder in Gruppen
Grundschule Welsberg, Südtirol/Italien
Quelle: IQES online; Foto: Josef Watschinger
Lernplätze für stilles konzentriertes Arbeiten und für Lernen zu zweit oder in Gruppen
Quelle: IQES online; Foto: Josef Watschinger
Schulräume sind als Lernwerkstätten gestaltet. Flexibles Mobiliar erleichtert einen variablen Einsatz unterschiedlicher Lehr- und Lernformen
Grundschule Welsberg, Südtirol/Italien
Quelle: IQES online; Foto: Josef Watschinger
Der Schulhof ist in Aktivitäts- und Ruhezonen gegliedert. Gestaltete Flächen gehen gleitend in Freiflächen und "Gestaltungsbaustellen für Kinder und Jugendliche"über. Grünflächen sind ausreichend vorhanden. Innen und Außen stehen in Beziehung.
Das Schulhausareal und der Schulgarten entsprechen ökologischen Ansprüchen.
Eine pädagogisch durchdachte Lernraumgestaltung fördert physisch, psychisch und sozial bewegendes Lernen. In "Häusern des Lernens"können bewusst gestaltete Lernräume die Entwicklung von Lernkompetenzen und den Erwerb von Team- und Kommunikationsfähigkeiten unterstützen (Buddensiek 2008) (➝ 7.1-7.3, 8.1).
Auch das Außengelände wird als Lernraum genutzt
Grundschule Welsberg, Südtirol/Italien
Quelle: IQES online; Foto: Josef Watschinger
Abb. 3.3: Begründungszusammenhang einer pädagogisch funktionalen Lernraumgestaltung
Quelle: Buddensiek 200824
Die pädagogische Architektur der Bewegten Schule unterstützt und fördert vielfältige Formen des eigenständigen und bewegten Lernens. Die Schule wird bewusst als Lern-, Erfahrungs- und Bewegungsraum gestaltet. |
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Dieses Kapitel beruht in wesentlichen Teilen auf der Publikation: Josef Watschinger, Josef Kühebacher (Hrsg.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Bern: h.e.p.-Verlag 2007, S. 355 ff. Wir danken dem Verlag für die Publikationserlaubnis. Rainer Brockmeyer: Neues Lernen und die Erwartungen an eine neue Lernkultur. In: Watschinger, Kühebacher (Hrsg.) 2007, S. 21
Quelle: Josef Watschinger "Südtirol auf dem Weg zu pädagogisch gestalteten Lehr- und Lernräumen«; In: Wolfgang Schönig, Christina Schmidtlein-Mauderer (Hg.): Gestalten des Schulraums, hep-Verlag, Bern 2013; S. 266 f.;
Anmerkung der Verfasser: Wir danken dem hep-Verlag für die freundliche Publikationserlaubnis.
Josef Watschinger: Der Schulsprengel Welsberg. IQES online >Unterrichtsentwicklung >Unterrichtskonzepte von IQES-Partnerschulen: Schulsprengel Welsberg
Josef Watschinger: Der Schulsprengel Welsberg. IQES online >Unterrichtsentwicklung >Schulsprengel Welsberg
Wilfried Buddensiek: Lernräume als gesundheits- und kommunikationsfördernde Lebensräume gestalten. In: Brägger, Gerold/Israel, Georg/Posse, Norbert (Red.): Bildung und Gesundheit. Argumente für gute und gesunde Schulen. Mit Beiträgen von H.-G. Rolff.; B. Sieland; K. Hurrelmann; B. Badura, G. Brägger, B. Bucher, N. Posse u. a. Bern 2008: h.e.p- Verlag