Scheuermann, Praxishandbuch Brandschutz

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4.1 Ingenieurmethoden im Brandschutz – Wissenschaft oder Erfahrung

Die etwas provokative Formulierung soll nicht die Erfahrung gegen die Wissenschaft ausspielen, sondern das ganze Spektrum der Ingenieurmethoden im Brandschutz abstecken. Während in der vergangenen Zeit vor allem die Erfahrung den anerkannten Brandschutzingenieur auszeichnete, verlangt die Zukunft nach dem Einbezug branchenfremder Fachgebiete. Der vielseitigen, noch jungen Disziplin im Dienst der Sicherheit eröffnen sich durch moderne Technologien neue Möglichkeiten.

Erfahrung aus Schäden

Blickt man zurück, so hat der Brandschutz am Anfang des letzten Jahrhunderts daraus bestanden, dass beispielsweise hölzerne Schornsteine oder Stroh als Dachbelag verboten wurden. Mit dem Automobil tauchte um die Jahrhundertwende eine neue Gefahr auf, da der ungewohnte Umgang mit dem feuergefährlichen Treibstoff zu teils heftigen Reaktionen und Bränden führte. Mit dem Aufkommen der Kinematographen-Theater verlief es ähnlich. Nachdem die ersten Kinos abgebrannt waren, wurden Vorschriften erlassen, um die Gefahren im Zusammenhang mit den leicht brennbaren Zelluloid-Filmen und den alten Projektionsapparaten in den Griff zu bekommen.

Vorschriften zum Brandschutz waren damals fast ausschließlich die Folge von negativen Erfahrungen bei Schadenereignissen. Jahrhundertelang hatten Brandereignisse den Stellenwert von Naturkatastrophen. Der Bekämpfung solcher Ereignisse war aufgrund der noch fehlenden Löschtechnik mäßiger Erfolg beschieden. Brände zur damaligen Zeit führten meistens zum Totalschaden des Gebäudes. Erst die beginnende Industrialisierung, begleitet von Aufbruchstimmung und selbstbewusster Ingenieurleistung, führte aus dieser Ohnmacht hinaus.

Gefahren voraussehen

Im Laufe der 30er Jahre begannen sich auch die Vorschriften strukturell der Zeit anzupassen, indem sie sich gezielt an unterschiedlichen Nutzungen orientierten. In den Regelwerken wurden vorausblickend vorbeugende und brandbegrenzende Maßnahmen festgeschrieben. Diese konnten als vorkonfektionierte Brandschutzkonzepte an Bauwerke angepasst werden.

In jener Zeit wurde der Grundstein für das Brandschutz-Ingenieurwesen gelegt, indem nun auf einmal mit einem Bauvorhaben Brandschutzmaßnahmen – wie die Unterteilung in einzelne Brandabschnitte oder die Ausgestaltung gesicherter Rettungswege – eingeplant werden mussten. Ab  4.1 Ingenieurmethoden im Brandschutz – Wissenschaft oder Erfahrung – Seite 2 – 01.05.2012>>Mitte des Jahrhunderts tauchten die ersten Berechnungsmethoden auf, mit denen Sicherheitskonzepte erarbeitet oder überprüft werden konnten. Solche Berechnungsverfahren wie z.B. der Nachweis nach DIN 18230-1:2010-09 »Baulicher Brandschutz im Industriebau – Teil 1: Rechnerisch erforderliche Feuerwiderstandsdauer« ermöglichen es dem Anwender, den individuellen Istzustand nach einheitlichen Kriterien mit dem vom Recht akzeptierten, minimalen Sicherheitslevel zu vergleichen. Die Berechnungsverfahren dienen als kostengünstige Möglichkeit, Brandschutzkonzepte in Industrieobjekten zu beurteilen.

Parallel zur beschriebenen Entwicklung hat sich der Brandschutz zur vorausschauenden Disziplin gewandelt. Man spricht denn auch heute richtigerweise vom vorbeugenden Brandschutz. Dieser beinhaltet nebst den baulichen Maßnahmen auch den technischen und den organisatorischen Brandschutz und unterscheidet sich speziell in Bezug auf den Zeitpunkt des Agierens vom abwehrenden Brandschutz (Feuerwehr), welcher erst als Reaktion auf ein Ereignis interveniert. Zwischen den beiden Gebieten bestehen jedoch aufgrund sachlicher Abhängigkeiten enge Verknüpfungen, da eine effiziente Brandbekämpfung nur sichergestellt werden kann, wenn sich die Einsatzkräfte auf vorbeugende Brandschutzmaßnahmen – wie gesicherte Löschangriffswege, Rauchabzugseinrichtungen usw. – einstellen können.

Brandereignisse simulieren

Die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte führte zu einer Öffnung des Brandschutzes gegenüber anderen Disziplinen. Fachübergreifend begannen sich Physiker, Mathematiker und Informatiker mit der Problematik Brandschutz auseinanderzusetzen. Als Resultat stehen heute Brandsimulationsprogramme als Anwendersoftware zur Verfügung, mittels derer die Auswirkungen möglicher Brandszenarien, bezogen auf die individuelle Raumgeometrie, rechnerisch ermittelt werden können.

Mit diesen Modellrechnungen kann jedoch die Realität nie als Abbild dargestellt werden, da die Physik stark vereinfacht werden muss, um überhaupt mathematisch erfasst werden zu können. Zur Verifizierung werden deshalb reale Brandereignisse, welche gut dokumentiert sind, nachgerechnet oder aber 1:1-Versuche zur Überprüfung von Berechnungen durchgeführt. Die Einflussnahme anderer Disziplinen, insbesondere die Verwissenschaftlichung des Ingenieurbrandschutzes, birgt die Gefahr, dass in euphorischer Technikgläubigkeit die exakten Simulationsergebnisse nur ungenügend mit der Erfahrung rückgekoppelt werden. Die Folge davon sind z.B. zentimetergenau ausgewiesene Rauchschichthöhen oder Sichtweiten, obwohl die Praxis lehrt, dass je nach Brandszenario und Brandgut stark abweichende Verhältnisse bestehen können. Erst das Zusammenspiel der wissenschaftlichen Methoden mit der praktischen Erfahrung ermöglicht, mit realistischen Szenarien Parameterstudien durchzuführen, welche anschließend erlauben, ausreichend gesicherte Prognosen zu stellen.

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Einsatzmöglichkeiten für die Brandsimulation

Die Einsatzmöglichkeiten für die Brandsimulation werden beispielsweise mit den folgenden Annahmen erläutert. Das als Beispiel dienende Shoppingcenter verfügt über eine zweigeschossige, das ganze Gebäude durchziehende Ladenstraße von ungefähr 200 m Länge. Die beiden übereinanderliegenden Ladenstraßenbereiche sind mit großflächigen Öffnungen verbunden, zudem bestehen unterschiedliche Raumhöhen. Die Ladenstraße besteht aus drei Hallen, wobei die Hauptmall 20 x 40 m Grundfläche aufweist. Im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben hätten für den Hallenbereich über die ganze Länge verteilt Rauchabzugsklappen eingebaut werden sollen. Die vorgesehenen, großflächigen Spitzoberlichter in Pyramidenform eigneten sich nicht, um als Rauchabzugsklappen ausgestattet zu werden. Insbesondere die Prioritätensetzung bei der Oberlichtgestaltung zugunsten der Architektur führte dazu, dass als Alternative eine Rauchfreihaltung der als Fluchtweg dienenden Hallenbereiche mittels mechanischer Rauchabzugsanlage in Betracht gezogen wurde. Zusammen mit Bauherr, Behörde und Planer wurde festgelegt, dass das obere Mallgeschoss während der ersten 15 Minuten nach Brandausbruch ausreichende Rauchfreiheit bieten sollte, damit zirkulierende Personen nicht beeinträchtigt würden. Weitere Vereinbarungen betrafen die Auslösung der Rauchabzugsanlage via automatischer Rauchmeldeanlage sowie die Mitberücksichtigung der vorhandenen Sprinkleranlage.

Vier verschiedene Brandorte wurden als relevant bestimmt und festgelegt, dass diese Brandorte mit jeweils drei unterschiedlichen Brandszenarien zu variieren seien. Die zusätzliche Kombination mit unterschiedlichen Ventilatorenleistungen sollte schließlich zur, auch aus ökonomischen Überlegungen, sinnvollen Dimensionierung der Rauchgasventilatoren führen.

Die Festlegung all dieser Werte geschieht losgelöst vom gewählten Berechnungsmodell. Diese Eingangsparameter bestimmen entscheidend das Ergebnis der Berechnungen, weshalb sie mit größter Sorgfalt unter Einbringung der praktischen Erfahrung zu wählen sind.

Wenn aus Überängstlichkeit der GAU (größter anzunehmender Unfall) zugrunde gelegt wird, so kann man sich die Simulation sparen. Umgekehrt führt die leichtsinnige Einschränkung auf ein Bagatellereignis dazu, dass alles und jedes bewiesen werden kann. Die Auswahl von realistischen Szenarien ist einer der wesentlichen Schritte bei der Rauch- und Brandsimulation. Für die Simulationsberechnung wurde das Mehrraum-Mehrzonenmodell MRFC (Multi Room Fire Code) verwendet. Die Hallensituation im Einkaufscenter wurde auf ein kubisches 8-Raum-Modell reduziert. Diese acht Räume kommunizieren miteinander über 25 Öffnungen. In insgesamt 45 Simulationsläufen wurden Parameterstudien durchgeführt, welche anschließend erlaubten, eine minimal erforderliche Ventilatorenleistung festzulegen. Das abzuführende Volumen von 220.000 m3/h musste nach genauen Vorgaben auf die Dachfläche verteilt werden.

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Insbesondere der Umstand, dass die in der Mitte liegende Hauptmall die angrenzenden Ladenstraßen-Bereiche um ca. 3 m überragt, ermöglichte, dieses zusätzliche Volumen als Rauchreservoir zu nutzen und in diesem Teil des Daches ungefähr die Hälfte der notwendigen Abzugsleistung anzuordnen. Auch die Frischluftzuführung konnte nicht dem Zufall überlassen werden. Es wurden Vorkehrungen getroffen, damit immer und ständig in die Ladenstraße sowie in die Hauptmall Frischluft nachströmen konnte.

Im konkreten Fall konnte mit Hilfe des Ingenieurbrandschutzes eine architektonische Idee verwirklicht werden, welche andernfalls an gestalterischen Einschränkungen und an den Kosten gescheitert wäre. Zudem haben die Berechnungen aufgezeigt, dass während der personenschutzrelevanten ersten Viertelstunde mit der mechanischen Rauchabzugsanlage effizienter Qualm abgeführt werden kann als mit den ursprünglich vorgesehenen Rauchabzugsklappen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die Abzugsleistung von auf dem Prinzip des natürlichen Auftriebs basierenden Rauchabzugsklappen dynamisch verhält, während bei mechanischen Rauchabzugsanlagen von Anbeginn weg mit einer konstanten Leistung gerechnet werden kann.

Das große Volumen der zweigeschossigen Ladenstraße in Kombination mit der vorhandenen Sprinkleranlage verhindert jedoch, dass während der ersten Viertelstunde die Temperatur derart ansteigt, dass ausreichend Thermik für eine optimale Funktion von Rauchabzugsklappen entsteht. Mit diesem Beispiel wird deutlich, dass Simulationsberechnungen insbesondere bei der Festlegung der Eingangsparameter, aber auch bei der Auswertung sehr stark subjektiv geprägt sind. Sie dürfen deshalb keinesfalls als exakte Resultate, sondern lediglich als Streuungsbereich von Parameterstudien, welche mit der Erfahrung des Brandschutzingenieurs zu interpretieren sind, qualifiziert werden.

Fazit

Die Komplexität des Brandschutzes erfordert es, dass sich die Praktiker zu Generalisten öffnen und die modernen Hilfsmittel als selbstverständliche Arbeitsinstrumente in ihre vielseitige Tätigkeit einbinden. Nur so lässt sich sicherstellen, dass die modernen Möglichkeiten konzeptionelle Hilfsmittel bleiben und nicht an die Stelle der Konzeptarbeit treten.