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3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht

3.6.3.1 Einleitung

Das europäische und deutsche Niederspannungsrecht regelt im Kern die öffentlich-rechtlichen, genauer produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen an das Inverkehrbringen bzw. die Bereitstellung auf dem Markt von einer Vielzahl elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung bei einer sogenannten Niederspannung.

Niederspannungsrecht ist damit eine praktisch überaus relevante Rechtsmaterie: Denn zahlreiche jener industriellen Massengüter unserer modernen Industrie- und Konsumgesellschaft (um nur einige beispielhaft zu nennen: elektrische Geräte [wie Toaster, Waschmaschinen, Wasserkocher, Heizlüfter oder Grillgeräte], Beleuchtungseinrichtungen [Lampen], Schalt- und Steuergeräte, elektrische Motoren und Generatoren, Kabel und Leitungen) sind Elektrogeräte und als solche regelmäßig den regulativen Anforderungen aus dem europäischen und deutschen Niederspannungsrecht unterworfen.

Vor diesem Hintergrund erweist sich das Niederspannungsrecht für ganz unterschiedliche Branchen, die man unter dem Ober- oder Sammelbegriff der Elektroindustrie zusammenfassen kann, als das zentrale Normenwerk innerhalb des ausdifferenzierten öffentlich-rechtlichen Warenvertriebsrechts. Nach dem Maschinen- und Anlagenbau ist die Elektroindustrie die zweitwichtigste Industriebranche in Deutschland mit einem signifikanten Exportanteil. Für diesen Industriezweig bedeutet Product Compliance somit in erster Linie die Einhaltung niederspannungsrechtlicher Bestimmungen.

Im Folgenden soll zunächst das europäische (dazu Kap. 3.6.3.2) und sodann das deutsche Niederspannungsrecht in seinen Grundzügen dargestellt werden (dazu Kap. 3.6.3.3). Weil das deutsche Niederspannungsrecht mehr oder weniger nur nachvollzieht, was auf der europäischen Ebene als Recht gesetzt wird, liegt der Schwerpunkt auf dem europäischen (Niederspannungs-)Recht.

3.6.3.2 Europäisches Niederspannungsrecht

3.6.3.2.1 Rechtsgrundlagen und Materialien

Die zentrale Rechtsgrundlage des europäischen Niederspannungsrechts ist zweifellos die Richtlinie 2006/95/EG, die sogenannte EG-Niederspannungsrichtlinie. Die Niederspannungsrichtlinie trat am 16.1.2007 in Kraft. Mit dieser Richtlinie wurde zugleich die »alte« Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG vom 19.2.1973, zuletzt geändert durch Art. 13 der Richtlinie 93/68/EWG, aufgehoben. Die Richtlinie 93/68/EWG wird auch als CE-Änderungsrichtlinie bezeichnet. Sie hat unter anderem die Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG in den Stand einer Richtlinie der Neuen Konzeption (engl. New Approach) erhoben. Sachlich-inhaltliche  3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 2 – 01.09.2012>>Änderungen gingen mit diesem »Richtlinienwechsel« von der Richtlinie 73/23/EWG zur Richtlinie 2006/95/EG allerdings nicht einher: Die Neubekanntmachung des europäischen Niederspannungsrechts im Wege der Richtlinie 2006/95/EG wurde als erforderlich angesehen, um zuvor identifizierte Unstimmigkeiten zwischen den verschiedenen Sprachfassungen zu auszumerzen. Das europäische Niederspannungsrecht ist damit seit fast 40 Jahren ein Vehikel zur Förderung des europäischen Binnenmarktes für elektrische Betriebsmittel und zur Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für die Bürger.

Daneben sind die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (die sogenannte Marktüberwachungsverordnung) und die Richtlinie 2001/95/EG (die sogenannte allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie) als Grundpfeiler europäischer Produktsicherheitsarchitektur naturgemäß auch im europäischen Niederspannungsrecht von Bedeutung. Wendet man den Blick den technischen Normen zu, sind jene harmonisierten Normen bedeutsam, die unter der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG gelistet sind. Zuletzt wurde die Liste jener Normen im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14. August 2012 veröffentlicht (2012/C 245/01). Sie begründen im europäischen Niederspannungsrecht (wie auch bei den übrigen sogenannten New-Approach-Richtlinien wie z.B. der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG oder der EG-Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG) die produktsicherheitsrechtliche Konformitätsvermutung bzw. Vermutungswirkung. Darauf, dass daneben auch bestimmte internationale und nationale Normen ein richtlinienrechtlich anerkanntes Gewicht haben, wird zurückzukommen sein (dazu Kapitel 3.6.3.2.5).

Wer sich mit dem europäischen Niederspannungsrecht beschäftigt, sollte im Übrigen auch den Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 2006/95/EG zu Rate ziehen. Dieses Papier wird von der Europäischen Kommission, Generaldirektion Unternehmen und Industrie (engl. Enterprise and Industry) herausgegeben und liegt derzeit in einer Fassung aus dem Jahr 2007 (Deutsche Sprachfassung März 2008) vor. Auch wenn dieser Leitfaden nicht rechtsverbindlich ist, so spiegelt er doch die Standpunkte wesentlicher Akteure wider (Vertreter der Mitgliedstaaten, der Wirtschaft, der Anwender, der Normungsgremien und der benannten Stellen). Er soll die Grundlage für eine einheitliche Anwendung der Richtlinie durch alle Beteiligten bilden und ergänzt insoweit den Leitfaden für die Umsetzung der nach dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien (sogenannter Blue Guide).

Im Wesentlichen behandelt der Leitfaden die folgenden Themen:

  • Geltungsbereich der Niederspannungsrichtlinie

  • anwendbare Sicherheitsanforderungen

  • anwendbares Verfahren der Konformitätsbewertung, einschließlich der CE-Kennzeichnung

  • Beziehungen zwischen der Niederspannungsrichtlinie und bestimmten anderen Richtlinien

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 3 – 01.09.2012<<>>

Damit werden die zentralen rechtlichen Regelungen der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG abgedeckt. Die englische Originalfassung kann unter der folgenden Webseite heruntergeladen werden:

3.6.3.2.2 Richtlinie zur vollständigen Harmonisierung

Bei der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG handelt es sich um eine sogenannte EU-Binnenmarktrichtlinie, die mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages auf der Grundlage des Art. 114 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erlassen wird (ehemals Art. 95 des EG-Vertrages). Art. 114 AEUV ist ein wichtiges europarechtliches Instrument zur Rechtsangleichung. Diese Rechtsnorm ist Mittel zum Zweck der Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts.

Weil mit der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG eine vollständige Harmonisierung bezweckt wird, ersetzt sie zuvor bestehende nationale Bestimmungen. Sachlich-inhaltlich von der Niederspannungsrichtlinie erfasste elektrische Betriebsmittel dürfen nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn sie die Anforderungen der Niederspannungsrichtlinie erfüllen. In diesem Fall dürfen die Mitgliedstaaten den freien (Waren-) Verkehr richtlinienkonformer Produkte nicht behindern, und zwar weder durch tarifäre noch durch nichttarifäre Handelshemmnisse.

Aufgrund des Übereinkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum gelten die Bestimmungen des europäischen Niederspannungsrechts auch für die folgenden Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA):

  • Island

  • Liechtenstein

  • Norwegen

Die Schweiz gehört dem Europäischen Wirtschaftsraum demgegenüber nicht an, obgleich sie in der EFTA Mitglied ist.

3.6.3.2.3 Der sachliche Anwendungsbereich der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG: Elektrische Betriebsmittel mit bestimmter Nenn-Betriebsspannung

Gegenstand des europäischen Niederspannungsrechts sind allein elektrische Betriebsmittel zur Verwendung bei einer Nennspannung zwischen 50 und 1.000 V für Wechselstrom und zwischen 75 und 1.500 V für Gleichstrom,Art. 1 Richtlinie 2006/95/EG. Mit Art. 1 Richtlinie 2006/95/EG wird also der sachliche Anwendungsbereich des europäischen Niederspannungsrechts definiert.

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 4 – 01.09.2012<<>>

So klar und eindeutig die Angaben zur Nenn-Betriebsspannung prima facie erscheinen, so wenig konturiert ist der Begriff des elektrischen Betriebsmittels. Was hat es mit diesem Gesetzesbegriff auf sich? In der Literatur wird zur näheren Konkretisierung dieses Begriffs vielfach auf ein Wörterbuch der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (engl. International Electrotechnical Commission [IEC]) verwiesen. Danach ist ein elektrisches Betriebsmittel ein Element, das unter anderem für die Erzeugung, Umwandlung, Übertragung, Verteilung oder Nutzung elektrischer Energie verwendet wird, z.B. Maschinen, Transformatoren, Apparate, Messinstrumente, Schutzvorrichtungen, Installationsmaterial oder Geräte.

Das indes auch die richtlinienrechtliche Aussage zur Nenn-Betriebsspannung der elektrischen Betriebsmittel entgegen dem ersten Anschein nur vermeintlich klar ist, zeigen die sich um diese Voraussetzung rankenden Diskussionen: So etwa ist darauf hinzuweisen, dass sich die genannten Spannungsgrenzen auf die Eingangs- und die Ausgangsspannung beziehen: Ein elektrisches Betriebsmittel ist also immer dann von der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG erfasst, wenn entweder seine Nenn-Eingangsspannung oder seine Nenn-Ausgangsspannung innerhalb dieser Grenzen liegt. In diesem Fall ist es unschädlich, wenn im Innern des elektrischen Betriebsmittels höhere Spannungen zu gegenwärtigen sein sollten.

Batteriebetriebene Geräte zur Verwendung außerhalb der genannten Spannungsgrenzen fallen folglich nicht in den Geltungsbereich der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG. Die Richtlinie gilt indes für mitgelieferte Ladegeräte sowie für Geräte mit integrierter Stromversorgung innerhalb der Spannungsgrenzen der Richtlinie. Im Falle batteriebetriebener Geräte mit einer Betriebsspannung unter 50 V Wechselstrom und 75 V Gleichstrom gilt das europäische Niederspannungsrecht für die mitgelieferten Netzteile (z.B. Notebooks).

In Bezug auf die Spannungsgrenzen wird auf EU-Ebene darüber diskutiert, die unteren Spannungsgrenzen entfallen zu lassen. Ob sich dieser Vorschlag durchsetzen wird, wird die Zukunft erweisen.

Bestimmte Betriebsmittel hat der europäische Richtliniengeber ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich des Niederspannungsrechts herausgenommen: Die Betriebsmittel und Bereiche, die nicht unter die EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG fallen, sind in Anhang II der Richtlinie abschließend aufgezählt. Dabei handelt es sich um

  • elektrische Betriebsmittel zur Verwendung in explosibler Atmosphäre,

  • elektro-radiologische und elektro-medizinische Betriebsmittel,

  • elektrische Teile von Personen- und Lastenaufzügen,

  • Elektrizitätszähler,

  • Haushaltssteckvorrichtungen,

  • Vorrichtungen zur Stromversorgung von elektrischen Weidezäunen,

     3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 5 – 01.09.2012<<>>
  • Funkentstörung sowie

  • spezielle elektrische Betriebsmittel, die zur Verwendung auf Schiffen, in Flugzeugen oder in Eisenbahnen bestimmt sind und den Sicherheitsvorschriften internationaler Einrichtungen entsprechen, denen die Mitgliedstaaten angehören.

Unter diesen Ausnahmetatbeständen hervorzuheben sind die in der Lebenswirklichkeit praktisch überaus relevanten Haushaltssteckvorrichtungen. Weil sie vom Anwendungsbereich des europäischen Niederspannungsrechts ausdrücklich herausgenommen sind und damit in der Hoheit der einzelnen EU-Mitgliedstaaten verbleiben, ist das Ergebnis fehlender Harmonisierung in diesem Bereich eine kaum überschaubare Vielfalt von Steckern, Steckdosen und Steckvorrichtungen. Die Haushaltssteckvorrichtungen sind von den sogenannten Industriesteckvorrichtungen abzugrenzen, die von der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG ohne Weiteres erfasst werden. Bei der Abgrenzung dieser beiden Typen ist zu beachten, dass Ausnahmevorschriften grds. eng auszulegen sind, d.h. im Zweifel sind die in Rede stehenden Steckvorrichtungen keine Haushaltssteckvorrichtungen und damit von der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG erfasst. Dies gilt etwa für die neuartigen Steckvorrichtungen im Zusammenhang mit Ladestationen für Elektroautos: Hierbei handelt es sich richtigerweise nicht um Haushaltssteckvorrichtungen im Sinne des Anhangs II der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG, selbst wenn die Ladestationen in den Kellern oder Garagen von Privathäusern eingebaut werden. Im Ergebnis unterliegen sowohl die Steckdosen der Ladestationen für Elektroautos als auch die zugehörigen Verbindungskabel mit den beiden (fahrzeug- und wandseitigen) Steckern den Anforderungen der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG. An diesem Beispiel lässt sich im Übrigen gut die Entwicklungsoffenheit des europäischen Produktsicherheitsrechts für hochinnovative technische Entwicklungen zeigen; denn im Zeitpunkt der »alten« Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG, in welcher die Haushaltssteckvorrichtungen bereits außerhalb des Anwendungsbereichs des europäischen Niederspannungsrechts lagen, war naturgemäß noch nicht daran zu denken, dass dereinst die Infrastruktur für Elektroautos in den Anwendungsbereich des europäischen Niederspannungsrechts fallen würde.

Ebenfalls nicht am Maßstab der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG sollen die sogenannten Grundbauteile zu messen sein, wenn und soweit deren Sicherheit nur im eingebauten Zustand zutreffend bewertet werden kann. Zu diesen Grundbauteilen rechnen ebenso Bauelemente der Elektronik wie bestimmte andere Bauteile (sowohl aktive Bauteile wie z.B. Transistoren oder integrierte Schaltkreise als auch passive Bauteile wie z.B. Kondensatoren oder elektromechanische Bauteile [etwa Vorrichtungen zum mechanischen Schutz]).

Wenn elektrische Betriebsmittel zum Einbau in andere Geräte bestimmt und dessen ungeachtet einer Sicherheitsbewertung zugänglich sind, bleibt es bei der Anwendbarkeit der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG:  3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 6 – 01.09.2012<<>>Diese Produkte sind also insbesondere auch mit der CE-Kennzeichnung auszuzeichnen.

3.6.3.2.4 Die Anforderungen an das Inverkehrbringen

Herzstück des europäischen Niederspannungsrechts sind gewiss die Anforderungen an das Inverkehrbringen von elektrischen Betriebsmitteln. Dabei ist zwischen den »bloß« formellen und den materiellen, d.h. sicherheitsrelevanten Anforderungen zu unterscheiden. Auch wenn diese Begriffe in der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG selbst nicht verwendet werden, ist diese Differenzierung dort gleichwohl angelegt: Denn die einzelnen Anforderungen sind entweder sicherheitsrelevant oder nicht.

Die juristische Bedeutung dieser Klassifizierung von Inverkehrbringensvoraussetzungen darf nicht unterschätzt werden: Bei lediglich formellen Verstößen sind die Handlungsmöglichkeiten der Marktüberwachungsbehörden eingeschränkt: Weil Marktüberwachungsmaßnahmen im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stehen müssen, stünde ein endgültiges Bereitstellungsverbot, die Anordnung einer Rücknahme oder eines Rückrufes nicht mehr auf dem Boden einer um die unbedingte Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze bemühten Rechtsordnung. Mit anderen Worten ist das Auswahlermessen der Marktüberwachungsbehörden in Bezug auf die Auswahl des Mittels, also den Inhalt der Maßnahme, dahin gehend begrenzt, dass nur weniger eingriffsintensive Maßnahmen ergriffen werden dürfen.

Unter dem Begriff Inverkehrbringen wird seit dem 1.1.2010 »die erstmalige Bereitstellung eines Produkts auf dem Gemeinschaftsmarkt« verstanden, Art. 2 Nr. 2 VO (EG) Nr. 765/2008. Bereitstellung auf dem Markt wiederum ist »jede entgeltliche oder unentgeltliche Abgabe eines Produkts zum Vertrieb, Verbrauch oder zur Verwendung auf dem Gemeinschaftsmarkt im Rahmen einer Geschäftstätigkeit«, Art. 2 Nr. 1 VO (EG) Nr. 765/2008.

Formelle Anforderungen an das Inverkehrbringen

Was die formellen Anforderungen anbelangt, ist insbesondere auf die folgenden Punkte aufmerksam zu machen:

Erstens müssen die elektrischen Betriebsmittel mit der CE-Kennzeichnung versehen werden, und zwar vor dem Inverkehrbringen,Art. 10 Abs. 1 Richtlinie 2006/95/EG. Diese Pflicht wurde durch Art. 13 der oben schon erwähnten Richtlinie 93/68/EWG eingeführt und galt seit dem 1.1.1997 für von der Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG erfasste elektrische Betriebsmittel. Zweitens muss der Hersteller oder sein Bevollmächtigter eine schriftliche Konformitätserklärung ausstellen, Nr. 1 des Anhangs IV der Richtlinie 2006/95/EG. Der Inhalt dieser sogenannten EG-Konformitätserklärung ist unter B. des Anhangs III der Richtlinie 2006/95/EG 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 7 – 01.09.2012<<>>im Einzelnen dargelegt. So sind z.B. Name und Anschrift des Herstellers oder seines in der Gemeinschaft ansässigen Bevollmächtigten oder die Bezugnahme auf die angewandten harmonisierten Normen anzugeben. Drittens muss der Hersteller die technischen Unterlagen erstellen, Nr. 2 des Anhangs IV der Richtlinie 2006/95/EG. Anhand der technischen Unterlagen soll beurteilt werden können, ob das betreffende Produkt den Anforderungen der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG entspricht. Der Inhalt der technischen Unterlagen ist in Nr. 3 des Anhangs IV der Richtlinie 2006/95/EG niedergelegt. Die technischen Unterlagen beinhalten etwa eine allgemeine Beschreibung der elektrischen Betriebsmittel oder die Ergebnisse von Konstruktionsberechnungen, Prüfungen etc. Auch wenn der nächste Aspekt Eingang in Anhang I der Richtlinie 2006/95/EG gefunden hat, also dort, wo die elf Sicherheitsziele formuliert sind, die grundlegende Sicherheitsanforderungen im Sinne des Neues Konzepts (engl. New Approach) darstellen, handelt es sich bei der Kennzeichnungspflicht gemäß Nr. 1 lit. b) des Anhangs I der Richtlinie 2006/95/EG um eine rein formelle, nicht sicherheitsrelevante Rechtspflicht. Gegenstand der Kennzeichnungspflicht ist das Herstellerzeichen oder die Handelsmarke, die deutlich auf den elektrischen Betriebsmitteln oder, wenn dies nicht möglich ist, auf der Verpackung anzubringen ist. Eine spannende Frage ist, ob der Richtliniengeber damit eine abschließende Regelung zur Kennzeichnung getroffen hat oder ob es – wenn und soweit es sich um ein Verbraucherprodukt handelt – zur ergänzenden Anwendbarkeit der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG kommt. Dort hat der Richtliniengeber in Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 unter anderem auch eine Regelung zur »Kennzeichnung des Produkts« getroffen. Die besseren Gründe sprechen hier für eine abschließende Regelung im europäischen Niederspannungsrecht. Eine Produkt-Kennzeichnung bedarf es danach nicht, selbst wenn das elektrische Betriebsmittel ein Verbraucherprodukt ist (s. auch Kap. 3.6.3.2.7). Die Europäische Kommission ist allerdings anderer Ansicht. In dem erwähnten Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 2006/95/EG wird eine Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 Richtlinie 2001/95/EG das Wort geredet. Denn es handelt sich um eine spezifischere Bestimmung.

Ebenfalls formeller Natur ist die Pflicht zur Aufbewahrung der technischen Unterlagen zusammen mit einer Kopie der Konformitätserklärung für den Zeitraum von mindestens zehn Jahren nach Herstellung des letzten Produkts. Diese Rechtspflicht bezieht sich indes nicht unmittelbar auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens des jeweiligen Produkts: Denn sie erschöpft sich ersichtlich nicht mit diesem Inverkehrbringen, sondern erst nach Ablauf von mindestens zehn Jahren ab dem letzten Herstellungstag des betreffenden Produkts.

Materielle Anforderungen an das Inverkehrbringen

Die materiellen Anforderungen an das Inverkehrbringen elektrischer Betriebsmittel hat der Gesetzgeber in Art. 2 Richtlinie 2006/95/EG formuliert. Dort heißt es wie folgt:

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 8 – 01.09.2012<<>>
  1. »1.

    Die Mitgliedstaaten treffen alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit die elektrischen Betriebsmittel nur dann in Verkehr gebracht werden können, wenn sie – entsprechend dem in der Gemeinschaft gegebenen Stand der Sicherheitstechnik – so hergestellt sind, dass sie bei einer ordnungsgemäßen Installation und Wartung sowie einer bestimmungsgemäßen Verwendung die Sicherheit von Menschen und Nutztieren sowie die Erhaltung von Sachwerten nicht gefährden.

  2. 2.

    Anhang I enthält eine Zusammenfassung der wichtigsten Angaben über die in Absatz 1 genannten Sicherheitsziele.«

In Anhang I der Richtlinie 2006/95/EG werden in drei Nummern die wichtigsten Angaben über die Sicherheitsziele für elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen gemacht. Es handelt sich um »Allgemeine Bedingungen« (Nr. 1), den »Schutz vor Gefahren, die von elektrischen Betriebsmittel ausgehen können« (Nr. 2) und den »Schutz vor Gefahren, die durch äußere Einwirkungen auf elektrische Betriebsmittel entstehen können« (Nr. 3). Dabei ist wichtig, dass die Nummern 2 und 3 ausdrücklich »Technische Maßnahmen« in Bezug nehmen, die vorgesehen sein müssen, damit z.B. »Menschen und Nutztiere angemessen vor den Gefahren einer Verletzung oder anderen Schäden geschützt sind, die durch direkte oder indirekte Berührung verursacht werden können« (Nr. 2 lit. a)), oder damit »Menschen, Nutztiere und Sachen angemessen vor nicht elektrischen Gefahren geschützt werden, die erfahrungsgemäß von elektrischen Betriebsmitteln ausgehen« (Nr. 2 lit. c)). Der Richtliniengeber hat damit verbindlich vorgegeben, dass es zur Erreichung der in den Nummern 2 und 3 des Anhangs I genannten Ziele konstruktiv-technischer Lösungen bedarf: Ein Vorgehen über Instruktionen genügt demgegenüber nicht.

Besondere Beachtung aus einer Perspektive des Brandschutzes verdient gewiss die Anforderung aus Nr. 2 lit. b) des Anhangs I der Richtlinie 2006/95/EG. Danach sind technische Maßnahmen vorgesehen, »damit »keine Temperaturen, Lichtbogen oder Strahlungen entstehen, aus denen sich Gefahren ergeben können«. Hinter dieser Bestimmung versteckt sich unter anderem die Grundlage für die vieldiskutierte Thematik der heißen Oberflächen. Denn diese sollen durch technische Maßnahmen vermieden werden. Die unter der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG gelisteten harmonisierten Normen bilden diese richtlinienrechtlich unverhandelbare Anforderung jedoch nicht durchgehend ab. In den Fokus geriet die EN 60335-2-9:2003 Sicherheit elektrischer Geräte für den Hausgebrauch und ähnliche Zwecke – Teil 2-9: Besondere Anforderungen für Grillgeräte, Brotröster und ähnliche ortsveränderliche Kochgeräte. In einer Stellungnahme der Europäischen Kommission vom 30.3.2000 (2000/C 104/07) wurde Folgendes konstatiert:

»Dabei geht es um das Risiko hoher Temperaturen an anderen Flächen als der Arbeitsfläche bei Geräten, die unter die EN 60335-2-9 fallen. Diese Norm in ihrer derzeitigen Fassung geht nicht auf das Risiko von Temperaturen an anderen Flächen als der Arbeitsfläche ein. Den Sicherheitszielen in Anhang I Abschnitt 1 Buchstabe d) und 2 Buchstabe b) 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 9 – 01.12.2012<<>>der Richtlinie 73/23/EWG [entspricht Nr. 1 lit. d), Nr. 2 lit. b) des Anhangs I der Richtlinie 2006/95/EG] entsprechend müssen elektrische Geräte so konzipiert und beschaffen sein, dass der Schutz gegen Risiken im Zusammenhang mit Oberflächentemperaturen gewährleistet ist. Da die EN 60335-2-9 keine geeigneten Spezifikationen für Temperaturen an anderen Flächen als der Arbeitsfläche enthält, gewährleistet sie nicht zwangsläufig die vollständige Einhaltung der Niederspannungsrichtlinie. Was die genannten Risiken betrifft, ist daher nicht davon auszugehen, dass die EN 60335-2-9 (Ziffer 11) und EN 60335-1 (Ziffer 11), die in der vorgenannten Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften aufgeführt sind, den erwähnten Sicherheitszielen gerecht werden.«

Bemerkenswerterweise heißt es noch heute und damit mehr als zehn Jahre später in der aktuellen Liste harmonisierter, unter der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG gelisteter Normen (2012/C 245/01) wie folgt:

»EN 60335-2-9:2003 deckt die Schutzziele der Richtlinie 2006/95/EG nur ab, wenn in Verbindung damit die Kommissionsmeinung 2000/C 104/07 berücksichtigt wird.«

Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass es inzwischen einen von der Normungsorganisation CENELEC herausgegebenen Leitfaden zum Umgang mit heißen Oberflächen gibt (CENELEC Guide 29: Temperatures of hot surfaces likely to be touched, Guidance document for Technical Committees and manufacturers). Weit über die EN 60335-2-9:2003 hinausgehend, heißt es zum Anwendungsbereich dieses Leitfadens unter der Ziff. 1:

»This document provides guidance for assessing the risk of a burn from unintentional contact with readily accessible surfaces of electrical equipment under the scope of the Low Voltage Directive.«

Die heißen Oberflächen sind ein anschauliches Beispiel dafür, dass das Befolgen technischer Normen – so hilfreiche Dienste sie im Regelfall auch leisten – aus einer genuin produktsicherheitsrechtlichen Perspektive mitunter in eine Sackgasse führen kann: Denn maßgeblich für das rechtmäßige Inverkehrbringen von Produkten ist die Beachtung der rechtlichen und damit rechtsverbindlichen Anforderungen und nicht die Beachtung etwaiger technischer Normen. Wenn eine technische Norm, und sei es eine harmonisierte Norm wie im genannten Beispiel, einen rechtlich relevanten Aspekt nicht abdeckt (hier: die heißen Oberflächen an anderen Flächen als der Arbeitsfläche [das sind die sog. nicht-funktionalen Arbeitsflächen]), verstößt gegen die rechtlichen Anforderungen des Warenvertriebsrechts, wer sich allein an dieser Norm orientiert.

Art. 2 Richtlinie 2006/95/EG i.V.m. Anhang I zu dieser Richtlinie bildet somit die grundlegenden Sicherheitsanforderungen im Sinne der Entschließung des Rates vom 7.5.1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung (sog. Neues 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 10 – 01.12.2012<<>>Konzept [engl. New Approach]). Damit in engem Zusammenhang steht Art. 3 Richtlinie 2006/95/EG. Dort heißt es wie folgt:

»Die Mitgliedstaaten treffen alle zweckdienlichen Maßnahmen, damit der freie Verkehr der elektrischen Betriebsmittel innerhalb der Gemeinschaft nicht aus Sicherheitsgründen behindert wird, wenn diese Betriebsmittel unter den Voraussetzungen der Artikel 5, 6, 7 oder 8 den Bestimmungen des Artikels 2 entsprechen.«

Während die Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG allein auf die bestimmungsgemäße Verwendung abstellt, kann es dabei seit dem 1.1.2010 nicht mehr sein Bewenden haben: Denn mit dem Maßnahmenpaket des New Legislative Framework, der dem Zwecke der Überarbeitung des Neuen Konzepts [engl. New Approach] dient und aus den beiden Verordnungen (EG) Nr. 764/2008 und Nr. 765/2008 sowie dem Beschluss Nr. 768/2008/EG besteht, hat Brüssel keinen Zweifel daran gelassen, dass »unter Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft fallende Produkte« (also z.B. auch elektrische Betriebsmittel im Sinne des Art. 1 Richtlinie 2006/95/EG) weder »bei bestimmungsgemäßer Verwendung« noch »bei einer Verwendung, die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbar ist, (…) die Gesundheit oder Sicherheit der Benutzer gefährden« dürfen. Erfüllen die europäisch-harmonisierten Produkte diese Anforderung gleichwohl nicht, sind die europäischen Marktüberwachungsbehörden aufgerufen, die entsprechenden Produkte vom Markt zu nehmen bzw. ihre Bereitstellung auf dem Markt zu untersagen oder einzuschränken. Der Verordnungsgeber hat damit das Profil der vorhersehbaren Fehlanwendung (so noch § 2 Abs. 6 GPSG) bzw. der vorhersehbaren Verwendung (§ 2 Nr. 28 ProdSG) deutlich geschärft. Jeder Inverkehrbringer europäisch-harmonisierter Produkte muss sich also de jure offiziell auch mit den Risiken seiner Produkte beschäftigen, die aus einer bloß vorhersehbaren Fehlanwendung resultieren. Zusätzlich sind die Öffentlichkeit, die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß über den Vorgang zu informieren. Diese Regelungen sind allesamt in Art. 16 Abs. 2 VO (EG) Nr. 765/2008 normiert und gelten seit dem 1.1.2010 unmittelbar in jedem der 27 EU-Mitgliedstaaten. Einer Umsetzung dieser Bestimmung durch den jeweiligen nationalen Gesetzgeber bedurfte es mithin nicht. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 16 Abs. 2 VO (EG) Nr. 765/2008 nicht für Lebensmittel, Futtermittel, lebende Pflanzen und Tiere, Erzeugnisse menschlichen Ursprungs und Erzeugnisse von Pflanzen und Tieren, die unmittelbar mit ihrer künftigen Reproduktion zusammenhängen, gilt: Diese Sachen sind gemäß Art. 15 Abs. 4 VO (EG) Nr. 765/2008 keine Produkte im Sinne der Artt. 16 ff. VO (EG) Nr. 765/2008.

Last but not least ist darauf aufmerksam zu machen, dass Maßstab für die Erfüllung der grundlegenden Sicherheitsanforderungen im europäischen Niederspannungsrecht ausweislich der Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 2006/95/EGder in der Gemeinschaft gegebene Stand der Sicherheitstechnik ist. Damit wird klipp und klar verdeutlicht, dass das Niederspannungsrecht den Stand der (Sicherheits-)Technik in Bezug nimmt: Wer dahinter zurückbleibt, hält die Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG nicht eins-zu-eins ein.

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 11 – 01.09.2012<<>>

3.6.3.2.5 Die Konformitätsvermutung

Die das Neue Konzept (engl. New Approach) kennzeichnende Konformitätsvermutung oder Vermutungswirkung ist in den Artt. 5–7 Richtlinie 2006/95/EG geregelt. Dabei weicht die EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG von anderen CE-Richtlinien ab: Denn die Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG interessiert sich nicht nur für (europäisch-)harmonisierte Normen (Art. 5), sondern auch für internationale Normen z.B. der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (engl. International Electrotechnical Commission [IEC]) (Art. 6) oder für nationale Normen des Mitgliedstaates des Herstellers (Art. 7). Was Art. 7 Richtlinie 2006/95/EG mit seiner Bestimmung zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Normen anbetrifft, ist auf folgende Punkte hinzuweisen: Erstens erlangen nationale Normen erst und nur dann Bedeutung, wenn weder harmonisierte noch internationale Normen existieren. Und zweitens ist zu beachten, dass nationale Normen nicht immer allen Sicherheitsanforderungen der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund ist es für jeden Hersteller, der nationale Normen anwendet, ratsam, sorgfältig zu prüfen, ob alle niederspannrechtlich relevanten Sicherheitsanforderungen erfüllt sind.

Harmonisierte Normen dienen dem Zweck, die aus Unterschieden zwischen den einzelstaatlichen Normen für den Handel entstehenden Nachteile zu beseitigen. Im Hinblick auf diese Normen besagt die Konformitätsvermutung im europäischen Niederspannungsrecht, dass »die zuständigen Verwaltungsbehörden für das Inverkehrbringen (…) insbesondere solche elektrischen Betriebsmittel als mit den Bestimmungen des Artikels 2 übereinstimmend erachten, die den Sicherheitsanforderungen der harmonisierten Normen genügen«, Art. 5 Unterabs. 1 Richtlinie 2006/95/EG. In diesem Zusammenhang ist auch auf den oben schon erwähnten Art. 3 Richtlinie 2006/95/EG hinzuweisen, der sich mit dem freien Verkehr elektrischer Betriebsmittel befasst. Entsprechendes gilt für die durch Art. 6 Richtlinie 2006/95/EG in Bezug genommenen internationalen Normen,Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2006/95/EG.

Was die harmonisierten Normen anbelangt, darf nicht übersehen werden, dass es normativ Unterschiede zwischen den harmonisierten Normen gemäß Art. 5 Richtlinie 2006/95/EG und den harmonisierten Normen im Sinne des Neuen Konzepts (engl. New Approach) gibt. In der (Normungs-) Praxis hat freilich eine Annäherung stattgefunden, sodass auf die Einzelheiten nicht näher einzugehen ist.

Auch wenn (harmonisierte) technische Normen einen beachtlichen Raum innerhalb der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG einnehmen und die produktsicherheitsrechtliche Vermutungswirkung ein hilfreiches Instrument für den Hersteller darstellt, ändert all dies doch nichts daran, dass die Konformität mit den Anforderungen der Niederspannungsrichtlinie auch anderweitig sichergestellt werden kann. Denn entscheidend ist und bleibt die Einhaltung der richtlinienrechtlichen Anforderungen. Technische Normen, insbesondere im Falle ihrer europäischen Harmonisierung, stellen insofern lediglich ein durch die Europäische Union  3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 12 – 01.09.2012<<>>sanktioniertes Angebot des CENELEC an die Hersteller dar, auf welches diese zurückgreifen können, aber eben nicht müssen. Entscheidet sich ein Hersteller für einen Weg jenseits technischer Normen, muss er allerdings in den technischen Unterlagen seine Lösung beschreiben, die er zur Erfüllung der Sicherheitsaspekte der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG gewählt hat, vgl. Nr. 3 tir. des Anhangs IV der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG.

3.6.3.2.6 Das Konformitätsbewertungsverfahren

Das Konformitätsbewertungsverfahren ist in Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2006/95/EG in Verbindung mit Anhang IV der Richtlinie 2006/95/EG detailliert geregelt. Danach ist die interne Fertigungskontrolle das maßgebliche Verfahren zur Sicherstellung und Erklärung der Konformität mit der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG. Die interne Fertigungskontrolle ist in Modul A des Anhangs II des Beschlusses Nr. 768/2008/EG geregelt.

Das Verfahren setzt sich im Wesentlichen aus den drei folgenden Schritten zusammen:

  • Erstellen der technischen Unterlagen (Hersteller)

  • Ausstellen der EG-Konformitätserklärung (Hersteller oder Bevollmächtigter und

  • Anbringen der CE-Kennzeichnung (Hersteller oder Bevollmächtigter)

Der Hersteller oder sein Bevollmächtigter halten die technischen Unterlagen mindestens zehn Jahre lang nach Herstellung des letzten Produkts zur Einsichtnahme durch die nationalen Behörden bereit, Nr. 2 des Anhangs IV der Richtlinie 2006/95/EG. Dabei können die technischen Unterlagen auch in elektronischer Form gespeichert werden. Wichtig ist, dass die Unterlagen so aufbewahrt werden, dass sie nach Aufforderung durch eine Marktüberwachungsbehörde innerhalb eines angemessenen Zeitraums (genannt werden im Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 2006/95/EG zwei Wochen) vorgelegt werden können. Zusammen mit den technischen Unterlagen ist auch eine Kopie der EG-Konformitätserklärung aufzubewahren, Nr. 4 des Anhangs IV der Richtlinie 2006/95/EG.

3.6.3.2.7 Das Verhältnis zu anderen Richtlinien des Neuen Konzepts (engl. New Approach)

Elektrische Betriebsmittel, die unter die Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG fallen, können daneben auch noch von anderen New-Approach-Richtlinien oder allgemeiner: von anderen europäischen Harmonisierungsrechtsvorschriften gegenständlich erfasst werden. So kommt es z.B. häufig vor, dass elektrische Betriebsmittel neben der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG auch die Anforderungen der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG und/oder der EMV-Richtlinie 2004/108/EG erfüllen müssen.

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Mit der CE-Kennzeichnung des jeweiligen Produkts wird in diesem Szenario entsprechend zum Ausdruck gebracht, dass sämtliche anwendbaren CE-Richtlinien beachtet, d.h. deren Anforderungen eingehalten wurden, vgl. Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Richtlinie 2006/95/EG.

Was das Verhältnis der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG zur parallel anwendbaren EMV-Richtlinie 2004/108/EG anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Niederspannungsrichtlinie sehr wohl den Aspekt der elektromagnetischen Verträglichkeit erfasst, wenn und soweit eine Sicherheitsrelevanz bestehen sollte. Die EMV-Richtlinie 2004/108/EG ist »nur« im Hinblick auf all jene Aspekte elektromagnetischer Verträglichkeit anwendbar, die keinen Sicherheits- oder Gefährdungsbezug haben.

Das Verhältnis zur EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG

Bestimmte elektrische Betriebsmittel im Sinne des Art. 1 Richtlinie 2006/95/EG sind auch Maschinen im Sinne des europäischen Maschinenrechts (vgl. Art. 2 S. 1, 2 lit. a) EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG). In dieser Konstellation können beide EU-Richtlinien entweder nebeneinander anwendbar sein, wobei dann in der EG-Konformitätserklärung nur die EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG aufgeführt werden soll. Es kann aber auch dazu kommen, dass eine der beiden Richtlinien mit ihrem Geltungsanspruch zurücktreten muss: Während die »alte« EG-Maschinenrichtlinie 98/37/EG insoweit einer gefahrenorientierten bzw. phänomenbezogenen Abgrenzung das Wort redete, indem sie danach fragte, ob »von einer Maschine hauptsächlich Gefahren aufgrund von Elektrizität« ausgingen (= Anwendbarkeit der Richtlinie 73/23/EWG, also der »alten« Niederspannungsrichtlinie), und somit eine entsprechende Risikobewertung evozierte, ging mit der neuen EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG insoweit ein Paradigmenwechsel einher: Im Sinne einer produktspezifischen oder -bezogenen Abgrenzung hat der Richtliniengeber nunmehr bestimmte elektrische Betriebsmittel abschließend aufgezählt, die nur und allein am Maßstab des europäischen Niederspannungsrechts zu messen sind. Damit wollte der Richtliniengeber für eine Klarstellung der Abgrenzung der Anwendungsbereiche von Maschinenrichtlinie und Niederspannungsrichtlinie sorgen und eine größere Rechtssicherheit für die Hersteller schaffen.

Um welche elektrischen und elektronischen Erzeugnisse handelt es sich?

Es sind

  • für den häuslichen Gebrauch bestimmte Haushaltsgeräte,

  • Audio- und Videogeräte,

  • informationstechnische Geräte,

  • gewöhnliche Büromaschinen,

  • Niederspannungsschaltgeräte und -steuergeräte und

  • Elektromotoren.

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Für diese Erzeugnisse gelten damit allein die Anforderungen aus der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG. Alle übrigen elektrisch betriebenen Maschinen fallen somit in den Anwendungsbereich der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG. Für sie gilt damit auch Nr. 1.5.1. des Anhangs I der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG, wo es wie folgt heißt:

»Eine mit elektrischer Energie versorgte Maschine muss so konstruiert, gebaut und ausgerüstet sein, dass alle von Elektrizität ausgehenden Gefährdungen vermieden werden oder vermieden werden können.

Die Schutzziele der Richtlinie 73/23/EWG gelten für Maschinen. In Bezug auf die Gefährdungen, die von elektrischem Strom ausgehen, werden die Verpflichtungen betreffend die Konformitätsbewertung und das Inverkehrbringen und/oder die Inbetriebnahme von Maschinen jedoch ausschließlich durch die vorliegende Richtlinie geregelt.«

Damit übernimmt die EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG die Sicherheitsziele der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG eins-zu-eins.

Das Verhältnis zur Richtlinie 2001/95/EG

Schwierige Abgrenzungsfragen stellen sich auch im Verhältnis zur allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG. Dies liegt daran, dass eine Vielzahl der elektrischen Betriebsmittel im Sinne des Art. 1 Richtlinie 2006/95/EG auch Produkte im Sinne des Art. 2 lit. a) Richtlinie 2001/95/EG sind. Denn Produkt in diesem Sinne ist – neben anderen Voraussetzungen – »jedes Produkt, das – auch im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung – für Verbraucher bestimmt ist oder unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen von Verbrauchern benutzt werden könnte, selbst wenn es nicht für diese bestimmt ist«. Kurz gesagt handelt es sich um Verbraucherprodukte.

In welchen Fällen die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG neben speziellerem Inverkehrbringensrecht (wie z.B. der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG oder der EG-Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG) zur Anwendung gelangt, regelt Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 1 Richtlinie 2001/95/EG wie folgt:

»Die Richtlinie findet auf alle in Artikel 2 Buchstabe a) definierten Produkte Anwendung. Jede Vorschrift dieser Richtlinie gilt insoweit, als es im Rahmen gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften keine spezifischen Bestimmungen über die Sicherheit der betreffenden Produkte gibt, mit denen dasselbe Ziel verfolgt wird.«

In Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 Richtlinie 2001/95/EG wird diese allgemeine Regelung noch weiter ausdifferenziert, und zwar in Bezug auf die Anwendbarkeit der Art. 2 lit. b)–c), 3, 4 Richtlinie 2001/95/EG einerseits, in Bezug auf die Anwendbarkeit der Artt. 5–18 Richtlinie 2001/95/EG andererseits.

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 15 – 01.09.2012<<>>

Entscheidend ist danach stets die Frage, ob das speziellere Inverkehrbringensrecht spezifische Rechtsvorschriften bzw. Bestimmungen vorhält. Spezifisch bedeutet, dass die Anforderungen entsprechend oder weiter gehend sein können; spezifisch bedeutet allerdings auch, dass die speziellen Anforderungen hinter den allgemeinen Anforderungen der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG zurückbleiben können, mit der Folge, dass der Rückgriff auf die Richtlinie 2001/95/EG nicht zulässig ist.

Was im Einzelfall spezifisch ist und was nicht, ist mitunter naturgemäß schwierig zu beurteilen. Einigkeit besteht dahin gehend, dass im Falle einer ausbleibenden Regelung im spezielleren Gesetz (Schweigen des Richtliniengebers) auf die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG zurückgegriffen werden kann.

Wie diffizil eine Abgrenzung im Einzelfall sein kann, zeigt die bereits angesprochene Frage der Kennzeichnungsvorschriften: Während im europäischen Niederspannungsrecht nur eine Regelung zur Kennzeichnung in Bezug auf die Herstellerangaben zu finden ist, sieht die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie auch die Möglichkeit der Produkt-Kennzeichnung vor (vgl. Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 Richtlinie 2001/95/EG). Hier dürfte es sich bei der Kennzeichnungsvorschrift in Nr. 1 lit. b) des Anhangs I der Richtlinie 2006/95/EG um eine spezifische Bestimmung handeln, die sich abschließend mit der Kennzeichnung elektrischer Betriebsmittel befasst. Hinzu kommt noch, dass die Richtlinie 2001/95/EG die Kennzeichnung in Bezug auf die Produkt-Kennzeichnung nicht verbindlich anordnet, sondern nur beispielhaft in einem Katalog möglicher, vom Hersteller zu ergreifender Maßnahmen aufzählt. Gleichwohl ist die Europäische Kommission anderer Ansicht und hält Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 Richtlinie 2001/95/EG im europäischen Niederspannungsrecht für anwendbar.

3.6.3.3 Deutsches Niederspannungsrecht

Das deutsche Niederspannungsrecht wird durch die Erste Verordnung zum Produktsicherheitsgesetz (Verordnung über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt – 1. ProdSV) vom 11.6.1979 verkörpert. Diese 1. ProdSV wird auch als Niederspannungsverordnung bezeichnet.

Die Niederspannungsverordnung ist der deutsche Umsetzungsakt der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG. Die Unterschiede zwischen europäischer EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG und deutscher Niederspannungsverordnung sind daher gering. Im Folgenden ist der Fokus nur noch auf jene rechtlichen Aspekte zu richten, die ohne Vorbild auf europäischer Ebene sind und daher genuin deutsches Niederspannungsrecht darstellen.

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 16 – 01.09.2012<<>>

3.6.3.3.1 Der sachliche Anwendungsbereich der 1. ProdSV: Neue elektrische Betriebsmittel

Die Niederspannungsverordnung gilt gemäß § 2 Abs. 1 für neue elektrische Betriebsmittel. Der deutsche Gesetzgeber hat also dafür gesorgt, dass nicht nur (und damit eben abweichend vom europäischen Niederspannungsrecht) das Inverkehrbringen, also die erstmalige Bereitstellung eines elektrischen Betriebsmittels auf dem Markt, am Maßstab der Niederspannungsverordnung zu messen ist, sondern darüber hinaus sämtliche Abgabeprozesse in der Liefer- und Vertriebskette (z.B. die Abgabe vom Großhändler an den Zwischenhändler, der es wiederum an den Einzelhändler weiterreicht). Erst in dem Zeitpunkt, in dem das elektrische Betriebsmittel in Betrieb genommen und damit erstmals ge- und benutzt wird, wird aus dem vormals »neuen« elektrischen Betriebsmittel ein altes oder gebrauchtes elektrisches Betriebsmittel. Die etwaige Abgabe dieses – dann alten oder gebrauchten – elektrischen Betriebsmittels ist nicht mehr am Maßstab der Niederspannungsverordnung zu messen.

3.6.3.3.2 Die Anwendbarkeit von § 3 Abs. 1, 2 ProdSG

Aus einer rechtsdogmatischen, am ProdSG orientierten Perspektive ergibt sich vor diesem Hintergrund folgendes Bild: Wer ein elektrisches Betriebsmittel auf dem Markt bereitzustellen beabsichtigt, muss die Anforderungen aus § 3 Abs. 1 ProdSG in Verbindung mit der 1. ProdSV (= Niederspannungsverordnung) beachten, wenn und soweit das elektrische Betriebsmittel neu ist. Damit allein sind allerdings noch nicht alle Fragen beantwortet: Denn welche Rechtslage gilt, wenn z.B. nach der ersten Abgabe in der Liefer- bzw. Vertriebskette eine Rechtsänderung eintritt? Das durch das ProdSG abgelöste Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) hat diese Frage noch klar und eindeutig geregelt: Unabhängig davon, ob es sich bei dem in Rede stehenden Produkt um ein technisches Arbeitsmittel oder um ein Verbraucherprodukt gehandelt habe, sollte stets »die Rechtslage im Zeitpunkt seines erstmaligen Inverkehrbringens in den Europäischen Wirtschaftsraum« gelten, § 4 Abs. 3 S. 1, 2 GPSG. Diese Regelung hat der Gesetzgeber nicht in das ProdSG übernommen: Ausweislich der Gesetzesbegründung zum ProdSG habe sie sich zwar bewährt; sie sei aber immer stark erklärungsbedürftig gewesen. Die neue Bestimmung des § 3 Abs. 2 S. 3 ProdSG sei weitaus besser verständlich und verfolge das gleiche Ziel. Entscheidend ist der in der Gesetzesbegründung deutlich zum Ausdruck kommende Wille des Gesetzgebers, an die alte und bewährte Rechtslage unter dem GPSG anzuknüpfen. Danach bleibt es auch unter dem ProdSG dabei: Die maßgebliche Rechtslage ist jene im Zeitpunkt des erstmaligen Inverkehrbringens in den Europäischen Wirtschaftsraum. Nachträgliche Rechtsänderungen führen nicht dazu, dass das nach wie vor neue elektrische Betriebsmittel etwa um- oder nachgerüstet werden müsste, um im Einklang mit den geltenden Anforderungen des nationalen Produktsicherheitsrechts auf dem Markt bereitgestellt zu werden.

 3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 17 – 01.12.2012<<>>

Sobald ein elektrisches Betriebsmittel auf dem Markt bereitgestellt werden soll, das nicht mehr neu (und damit alt oder besser: gebraucht) ist, ergibt sich der produktsicherheitsrechtliche Maßstab aus § 3 Abs. 2 ProdSG. Das gebrauchte elektrische Betriebsmittel (das noch beim Inverkehrbringen bzw. im Zustand der Neuheit von der Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG bzw. der 1. ProdSV erfasst wurde) darf daher nur dann auf dem Markt bereitgestellt werden, »wenn es bei bestimmungsgemäßer oder vorhersehbarer Fehlanwendung die Sicherheit und Gesundheit von Personen nicht gefährdet«. Eines Blickes auch in die 1. ProdSV bedarf es nicht mehr. Was die maßgebliche Rechtslage anbelangt gilt wiederum § 3 Abs. 2 S. 3 ProdSG. Zum besseren Verständnis sollte man auch hier § 4 Abs. 3 S. 3, 4 GPSG zu Rate ziehen.

3.6.3.3.3 Der Vollzug der Niederspannungsverordnung

Was den Vollzug der Niederspannungsverordnung anbelangt, gelten keine Besonderheiten: Für die Marktüberwachung gilt Abschnitt 6 des ProdSG und damit die §§ 24 ff. ProdSG.

Damit obliegt die Marktüberwachung den nach Landesrecht zuständigen Behörden,§ 24 Abs. 1 S. 1 ProdSG. Wer dies in concreto ist, muss dem Verwaltungsorganisationsrecht des betreffenden Landes entnommen werden. Den hiermit angesprochenen Marktüberwachungsbehörden stehen die Befugnisse aus den §§ 26–28 ProdSG zu, das heißt, sie können insbesondere die Marktüberwachungsmaßnahmen gemäß § 26 Abs. 2, 4 ProdSG treffen. Im Falle der Non-Konformität eines elektrischen Betriebsmittels sind sie sogar verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen gemäß § 26 Abs. 2 S. 1, 2 ProdSG zu treffen. Ein Entschließungsermessen ist den Marktüberwachungsbehörden nicht eingeräumt.

Kommt eine Marktüberwachungsbehörde im Rahmen einer Risikobewertung zu dem Ergebnis, dass von dem betreffenden Produkt sogar ein ernstes Risiko ausgeht, muss sie mit Rückruf, Rücknahme und/oder einem (endgültigen) Bereitstellungsverbot reagieren, § 26 Abs. 4 S. 1 ProdSG. Dies gilt allerdings nur dann, wenn ein Monitoring freiwilliger Maßnahmen des verantwortlichen Wirtschaftsakteurs nicht in Betracht kommt. Im Falle ernster Risiken ist immer auch an das europäische Meldesystem namens RAPEX zu denken, welches seit dem 1.1.2010 nicht mehr nur Verbraucherprodukte, sondern auch (europäisch-harmonisierte) B2B-Produkte erfasst.

Für das Wirtschaftsverwaltungsrecht typische Nachschaubefugnisse der Marktüberwachungsbehörden sind in § 28 ProdSG geregelt.

3.6.3.3.4 Ordnungswidrigkeiten

§ 4 der 1. ProdSV enthält zwei niederspannungsrechtliche Ordnungswidrigkeitentatbestände: § 4 Nr. 1 der 1. ProdSV sanktioniert das Bereitstellen von elektrischen Betriebsmitteln auf dem Markt, wenn die de jure (von  3.6.3 Europäisches und deutsches Niederspannungsrecht – Seite 18 – 01.12.2012<<Rechts wegen) erforderliche CE-Kennzeichnung nicht vorhanden ist. Und § 4 Nr. 2 der 1. ProdSV befasst sich mit dem fehlenden Bereithalten der in § 3 Abs. 4 der 1. ProdSV genannten Unterlagen. Bei den dort genannten Unterlagen handelt es zum einen um die EG-Konformitätserklärung und zum anderen um die technischen Unterlagen.

Bei beiden Übertretungen handelt es sich um Ordnungswidrigkeiten gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 7 lit. a) ProdSG. Sie können jeweils mit einer Geldbuße bis zu 100.000 € geahndet werden, § 39 Abs. 2 ProdSG.

Der in § 4 Nr. 1 der 1. ProdSV angesprochene Verstoß ist zugleich eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 6 ProdSG, die mit einer Geldbuße bis zu 10.000 € geahndet werden kann. Dieses Nebeneinander zweier Ordnungswidrigkeitentatbestände mit unterschiedlicher Bußgelddrohung für den Fall des Bereitstellens eines Produkts (hier: eines elektrischen Betriebsmittels) auf dem Markt ohne die erforderliche CE-Kennzeichnung wird für die Rechtsanwender eine Herausforderung darstellen.

Literatur

Literatur zum europäischen Niederspannungsrecht:

Barz; Moritz: EG-Niederspannungsrichtlinie, 3. Aufl. 2008 (VDE-Schriftenreihe Normen verständlich 69);

Kommentar zur Niederspannungs-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaften (VDE-Schriftenreihe Heft 27), 1974

Langner; Klindt: Technische Sicherheitsvorschriften und Normen, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, Losebl., 27. Erg.-Lfg., 2010, C. VI, Rn. 72 ff.

Leitfaden zur Anwendung der Richtlinie 2006/95/EG, hrsg. v. der Europäischen Kommission, August 2007 (Deutsche Sprachfassung März 2008)

Loerzer: EMV und Niederspannungsrichtlinie, 2009