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3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht

3.6.2.1 Einleitung

Neben dem nationalen Produktsicherheitsrecht in Deutschland – mit dem Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) im Zentrum (dazu Kap. 3.6.1) – existiert parallel das europäische Produktsicherheitsrecht. Mit dem europäischen Produktsicherheitsrecht werden die produktsicherheitsrechtlichen Bestimmungen der Europäischen Union (EU) in Bezug genommen. Aufgrund des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gilt das europäische Produktsicherheitsrecht allerdings auch in Island, Liechtenstein und Norwegen. Die Schweiz ist demgegenüber zwar Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), nicht aber auch im EWR.

Das europäische Produktsicherheitsrecht lässt sich – im Übrigen ebenso wie das deutsche Produktsicherheitsrecht – in einen allgemeinen und einen besonderen Teil gliedern: Der besondere Teil des europäischen Produktsicherheitsrechts wird durch die produktbezogenen (vertikalen) wie gefahrenspezifischen (horizontalen) Harmonisierungsrechtsvorschriften (regelmäßig europäische Richtlinien) geprägt. Hierzu zählen aus einer brandschutzrechtlichen Perspektive etwa

  • die Richtlinie 97/23/EG (EG-Druckgeräterichtlinie),

  • die Richtlinie 2004/108 (EMV-Richtlinie),

  • die Richtlinie 2006/42/EG (EG-Maschinenrichtlinie) oder

  • die Richtlinie 2006/95/EG (EG-Niederspannungsrichtlinie)

Dass europäisches Produktsicherheitsrecht nicht notwendigerweise in der Gestalt von Richtlinien in Erscheinung tritt, zeigt das – brandschutzrechtlich ebenfalls zu beachtende – europäische Bauproduktenrecht: Mit der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.3.2011 zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 89/106/ EWG des Rates (sogenannte Bauproduktenverordnung) hat Brüssel unmittelbar geltendes Produktsicherheitsrecht erlassen; denn europäische Verordnungen sind in all ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem EU-Mitgliedstaat, Art. 288 Unterabs. 2 S. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Im Hinblick auf die Bauproduktenverordnung ist jedoch zu beachten, dass wesentliche Teile dieser Verordnung erst am 1.7.2013 in Kraft treten, vgl. Art. 68 Unterabs. 2 VO (EU) Nr. 305/2011. Das europäische Bauproduktenrecht zeigt zugleich, dass europäisches Produktsicherheitsrecht bald als Richtlinie (so noch die »alte« EG-Bauproduktenrichtlinie 89/106/EG) und bald als (unmittelbar geltende) Verordnung erlassen werden kann.

Dieses besondere europäische Produktsicherheitsrecht soll im Folgenden indes nicht näher behandelt werden. Wenn und soweit diese Rechtsakte brandschutzrechtliche Relevanz aufweisen, werden sie in gesonderten  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 2 – 01.06.2013>>Kapiteln dargestellt (vgl. Kap. 3.6.3 zum europäischen Niederspannungsrecht und Kap. 3.6.4 zum europäischen Recht der elektromagnetischen Verträglichkeit).

Gegenstand dieses Kapitels soll vielmehr der allgemeine Teil des europäischen Produktsicherheitsrechts sein. Damit sind die übergeordneten, d.h. nicht bloß bestimmte Produkte wie z.B. Maschinen oder Druckgeräte in den Fokus rückenden Bestimmungen gemeint, welche das Fundament des europäischen Produktsicherheitsrechts bilden. Im Wesentlichen wird der allgemeine Teil des europäischen Produktsicherheitsrechts derzeit durch die folgenden Rechtsakte geprägt:

  • Entschließung des Rates vom 7.5.1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung (sogenanntes Neues Konzept (engl. New Approach),

  • Richtlinie 2001/95/EG (sogenannte allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie)

  • Beschluss Nr. 768/2008/EG

  • Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (sogenannte Marktüberwachungsverordnung)

  • Verordnung (EG) Nr. 764/2008

Während der zuerst genannte Rechtsakt das zuvor in der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) herrschende Konzept der Detailharmonisierung ablöste und zugleich das seitdem dominierende Neue Konzept (engl. New Approach) aus der Taufe hob, bilden die drei zuletzt genannten Rechtsakte zusammen den sogenannten New Legislative Framework (NLF). Dieses europäische Maßnahmenpaket zielte darauf ab, das Neue Konzept und damit die zentrale Leitidee des europäischen Produktsicherheitsrechts seit dem Jahr 1985 im Wege der Reform behutsam zu modernisieren und zu verbessern. Die Richtlinie 2001/95/EG wiederum ist die zentrale produktsicherheitsrechtliche Grundlage für das Inverkehrbringen von Verbraucherprodukten in der EU. Das Inverkehrbringen von Verbraucherprodukten, die wie z.B. eine Vielzahl von elektrischen Betriebsmitteln zur Verwendung bei einer Nennspannung zwischen 50 und 1.000 V für Wechselstrom und zwischen 75 und 1.500 V für Gleichstrom zugleich vom besonderen Produktsicherheitsrecht auf europäischer Ebene erfasst werden (im Beispiel die EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG), kann sich daher auch am Maßstab der subsidiär anwendbaren Richtlinie 2001/95/EG messen lassen müssen. Das Verhältnis zwischen der Richtlinie 2001/95/EG und den besonderen Harmonisierungsrechtsvorschriften des europäischen Produktsicherheitsrechts ist im Einzelfall überaus kompliziert. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die Europäische Kommission allein für diese Rechtsfragen Leitlinien erlassen (dazu Kap. 3.6.2.3).

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 3 – 01.06.2013<<>>

3.6.2.2 Bedeutung für das nationale Produktsicherheitsrecht

Das nationale, deutsche Produktsicherheitsrecht ist stark vom europäischen Produktsicherheitsrecht geprägt. Zumeist dienen die genuin deutschen Rechtsakte allein dem Zweck, europäisches Produktsicherheitsrecht (mehr oder weniger) eins-zu-eins in nationales Recht zu transformieren. Welche europarechtlichen Impulse für den Erlass des Produktsicherheitsgesetzes maßgeblich waren, wird im Kap. 3.6.1.3 ausführlich dargestellt. Der Blick auf das deutsche Niederspannungsrecht in der Ersten Verordnung zum Produktsicherheitsgesetz (Verordnung über die Bereitstellung elektrischer Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen auf dem Markt – 1. ProdSV) und das deutsche Recht der elektromagnetischen Verträglichkeit im Gesetz über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln (EMVG) wiederum haben gezeigt, wie sehr insbesondere das besondere nationale Produktsicherheitsrecht von der Rechtsetzung auf der Ebene der EU determiniert wird (dazu die Kap. 3.6.3 und 3.6.4).

Originär deutsches Produktsicherheitsrecht wie namentlich das Recht des GS-Zeichens in den §§ 20 ff. ProdSG oder das produktsicherheitsrechtliche Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht in den §§ 39 f. ProdSG muss angesichts der Dominanz europarechtlicher Vorgaben als produktsicherheitsrechtlicher Ausnahmefall angesehen werden. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Gestaltungsmöglichkeiten des deutschen Gesetzgebers beschränkt sind. Dies mag aus einer nationalstaatlichen Perspektive mit Blick auf den zunehmend schwindenden Einfluss der deutschen Gesetzgebungsorgane Bundestag und Bundesrat beklagt werden. Auf der anderen Seite dürfen die Vorteile nicht übersehen werden, die mit der prägenden Kraft Brüssels in diesem industriepolitisch bedeutsamen Politikfeld einhergehen: Europäisches Produktsicherheitsrecht leistet eine wichtigen Beitrag dazu, den freien Warenverkehr innerhalb der Europäischen Union zu verwirklichen: Europäisch-harmonisiertes Produktsicherheitsrecht ist damit nichts weniger als ein Vehikel zur Verwirklichung europäischer Grundfreiheiten. Denn naturgemäß schafft erst supranationales Recht wie das der EU die Grundlage für einen reibungslosen grenzüberschreitenden Handel im europäischen Binnenmarkt.

3.6.2.3 Materialien zum europäischen Produktsicherheitsrecht

Ebenso wie im durch das Produktsicherheitsgesetz geprägten deutschen Produktsicherheitsrecht kann das europäische Produktsicherheitsrecht in all seinen Facetten nur verstanden werden, wenn neben den rechtsverbindlichen Rechtsakten weitere Materialien zu Rate gezogen werden.

Aus der Fülle der Leitfäden, Leitlinien, Guides und Guidelines, die sich mit dem allgemeinen Teil des europäischen Produktsicherheitsrechts befassen und diesen erläutern, verdienen die folgenden Dokumente (in chronologischer Reihenfolge) besondere Beachtung:

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 4 – 01.06.2013<<>>
  • Leitfaden für die Umsetzung der nach dem neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien (sogenannter Blue Guide)

  • Leitlinien betreffend das Verhältnis zwischen der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit und bestimmten sektoralen Richtlinien mit Vorschriften über die Produktsicherheit

  • Entscheidung der Kommission 2004/905/EG vom 14.12.2004 zur Festlegung von Leitlinien zur Meldung gefährlicher Verbrauchsgüter bei den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten durch Hersteller und Händler nach Art. 5 Absatz 3 der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (sogenannte Unternehmensleitlinien)

  • Entscheidung der Kommission 2010/15/EU vom 16.12.2009 zur Festlegung von Leitlinien für die Verwaltung des gemeinschaftlichen Systems zum raschen Informationsaustausch »RAPEX« gemäß Artikel 12 und das Meldeverfahren gemäß Artikel 11 der Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit (sogenannte RAPEX-Leitlinien)

Der Blue Guide wurde von der Europäischen Kommission (damalige Generaldirektion Industrie) im Jahr 2000 herausgegeben und war in seiner Bedeutung lange Zeit unangefochten. Der Leitfaden sollte die Bedeutung, die Tragweite und die praktischen Konsequenzen der New-Approach-Richtlinien aufzeigen. Er richtete sich in erster Linie an die Mitgliedstaaten der damaligen EG, da er insbesondere auf eine einheitlichere und konsequentere Anwendung dieser Richtlinien in den verschiedenen Bereichen und im gesamten Binnenmarkt abzielte. Zugleich sollte er jedoch auch Handels- und Verbraucherverbände, Normungsorganisationen, Hersteller, Importeure, Händler, Konformitätsbewertungsstellen und Gewerkschaften ein besseres Verständnis des europäischen Produktsicherheitsrechts vermitteln.

Mit der Überarbeitung des »Neuen Konzepts« durch den NLF im Jahr 2010 ging naturgemäß ein Bedeutungsverlust des Blue Guides einher. Aufgrund der unverändert fortgeltenden Grundkonzeption des europäischen Produktsicherheitsrechts ist der Griff zum Blue Guide in der (Rechts-)Praxis gleichwohl weiterhin häufig zu besichtigen.

Die Leitlinien betreffend das Verhältnis zwischen der Richtlinie über die allgemeine Produktsicherheit und bestimmten sektoralen Richtlinien mit Vorschriften über die Produktsicherheit wurden im Jahr 2003 von der Europäischen Kommission (Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher) erlassen. Diese Leitlinien befassen sich mit dem rechtlich überaus schwierigen Verhältnis zwischen der Richtlinie 2001/95/EG als allgemeiner Produktsicherheitsrichtlinie (für Verbraucherprodukte) und den vier folgenden spezifischen europäischen Harmonisierungsrechtsakten:

  • Spielzeugrichtlinie (88/378/EWG),

  • Niederspannungsrichtlinie (73/23/EWG),

     3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 5 – 01.06.2013<<>>
  • Richtlinie über persönliche Schutzausrüstungen (89/686/EWG) und

  • Kosmetikrichtlinie (76/768/EWG)

Aufgrund der zahlreichen Rechtsänderungen im europäischen Produktsicherheitsrecht im Allgemeinen und in den vier genannten Produktbereichen im Besonderen seit dem Erlass dieser Leitlinien im Jahr 2003 vermag dieses Dokument vielfach keine verlässlichen Auskünfte mehr zu geben. Gleichwohl kann ein Blick in diese Leitlinien im Einzelfall noch immer interessante Erkenntnisse zutage fördern. Dies gilt namentlich für den Abschnitt 2 dieser Leitlinien, der sich im Sinne einer Einführung insbesondere mit der Anwendbarkeit der einzelnen Bestimmungen der unverändert geltenden allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG auseinandersetzt.

Die Unternehmensleitlinien 2004/905/EG sind insbesondere für die Hersteller und Händler von Verbraucherprodukten relevant. Die Unternehmensleitlinien stehen in einem untrennbaren Zusammenhang mit der produktsicherheitsrechtlichen Notifikations- oder Meldepflicht in Bezug auf Verbraucherprodukte (dazu Kap. 3.6.1.13). Sie zielen darauf ab,

  • unter operationellen Gesichtspunkten den Umfang der Verpflichtungen der Hersteller und Händler derart zu klären, dass nur die für das Risikomanagement relevanten Informationen gemeldet werden und eine übermäßige Informationsfülle unterbleibt,

  • die Bezugnahmen auf die relevanten Kriterien zum Begriff »gefährliche Produkte« zu ermöglichen,

  • Kriterien zur Identifizierung der »seltenen Umstände oder Produkte« zu liefern, bei denen eine Meldung unerheblich ist,

  • den Inhalt der Meldungen zu definieren, insbesondere die benötigten Informationen und Daten sowie die entsprechende Form,

  • festzulegen, an wen und wie die Meldungen zu übermitteln sind und

  • festzulegen, welche Anschlussmaßnahmen die eine Meldung erhaltenden Mitgliedstaaten zu treffen haben und welche Informationen hierzu vorzulegen sind.

Besondere Beachtung verdient aus Hersteller- und Händlersicht die in den Unternehmensleitlinien erfolgte Konkretisierung des produktsicherheitsrechtlichen Rechtsbegriffs »unverzüglich«. Denn die behördliche Notifikationspflicht verlangt den meldepflichtigen Wirtschaftsakteuren (in Deutschland neben den Herstellern und Händlern auch die Bevollmächtigten des Herstellers und die Einführer) eine unverzügliche Meldung in Bezug auf ein gefährliches Verbraucherprodukt ab (vgl. in Deutschland § 6 Abs. 4, 5 S. 3 ProdSG).

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 6 – 01.06.2013<<>>

Zur Unverzüglichkeit der Meldung heißt es in den Unternehmensleitlinien wie folgt:

»Nach der RaPS [die Richtlinie 2001/9S/EG] sind die zuständigen Behörden sofort zu informieren. Ein Unternehmen muss sie daher unverzüglich benachrichtigen, sobald die entsprechende Information vorliegt, spätestens aber innerhalb von zehn Tagen nach dem Vorliegen meldefähiger Informationen über die Existenz eines gefährlichen Produkts, auch bei noch laufenden Untersuchungen. Liegt ein ernstes Risiko vor, sind die Unternehmen verpflichtet, die Behörde(n) zu benachrichtigen, spätestens aber drei Tage nach dem Vorliegen meldefähiger Informationen.«

Vorsicht ist demgegenüber im Hinblick auf die Risikokategorien in den Unternehmensleitlinien geboten: Sie entsprechen nicht mehr dem aktuellen Stand des europäischen Produktsicherheitsrechts. Während die Tabelle B der Unternehmensleitlinien noch zwischen den drei Risikograden des geringen, mittleren und ernsten Risikos differenziert, existieren seit dem Erlass der sog. RAPEX-Leitlinien aus dem Jahr 2009 vier Risikostufen (niedriges, mittleres, hohes und ernstes Risiko).

Die RAPEX-Leitlinien aus dem Jahr 2009 haben die »alten« RAPEX-Leitlinien aus dem Jahr 2004 (nicht aber die soeben erwähnten Unternehmensleitlinien) abgelöst. Den RAPEX-Leitlinien kommt in der Praxis eine hohe Bedeutung zu: Sie enthalten im Anhang u.a. den Leitfaden für die Risikobewertung von Verbraucherprodukten (sogenannter RAPEX-Leitfaden). Mit diesem Leitfaden wird das Ziel verfolgt, im Rahmen der Richtlinie 2001/95/EG ein transparentes, praktikables Verfahren bereitzustellen, das von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten auf geeignete Weise zur Bewertung der Risiken von Non-Food-Verbraucherprodukten eingesetzt werden kann. Auch wenn sich der RAPEX-Leitfaden somit in erster Linie an die Marktüberwachungsbehörden der EU richtet, können selbstredend insbesondere auch die produktsicherheitsrechtlichen Wirtschaftsakteure wie z.B. Hersteller von (Verbraucher-)Produkten anlassbezogen auf dieses Instrument zurückgreifen, um die von ihren Produkten ausgehenden Risiken zu bewerten.

Mit anderen Worten lässt sich der RAPEX-Leitfaden von den Wirtschaftsakteuren zum einen für die Prüfung verwenden, ob von einem Produkt produktsicherheitsrechtlich meldepflichtige Risiken ausgehen (Bedeutung für die Notifikations- und Meldepflicht). Zum anderen kann zugleich untersucht werden, ob das Produkt ernste Risiken in sich birgt. Die Existenz ernster Risiken zieht im Produktsicherheitsrecht erhebliche Konsequenzen nach sich: Erstens führen ernste Produktrisiken zum RAPEX-Verfahren (vgl. in Deutschland § 30 ProdSG). Und zweitens sind die Marktüberwachungsbehörden im Falle der Untätigkeit des betreffenden Wirtschaftsakteurs verpflichtet, Marktüberwachungsmaßnahmen wie namentlich den Rückruf, die Rücknahme und/oder ein Bereitstellungsverbot zu erlassen (vgl. in Deutschland § 26 Abs. 4 S. 1 ProdSG). Allerdings müssen sich diese Maßnahmen ihrerseits auf eine angemessene Risikobewertung (entsprechend dem RAPEX-Leitfaden) durch die jeweils  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 7 – 01.06.2013<<>>handelnde Behörde stützen lassen, § 26 Abs. 4 S. 2 ProdSG(Bedeutung für das Sonderrecht für ernste Risiken).

Wichtig ist, die Grenzen dieses Leitfadens nicht zu übersehen: Direkt anwendbar ist er allein auf Verbraucherprodukte (B2C-Produkte). Für die übrigen Produkte (Nicht-Verbraucherprodukte oder B2B-Produkte) gilt er demgegenüber nicht unmittelbar. Gleichwohl wird man ihn auch in diesem Zusammenhang grds. heranziehen können. Allerdings sind in diesem Fall immer dort Modifikationen vorzunehmen, wo der RAPEX-Leitfaden genuin auf Verbraucherprodukte abstellt. Dies ist etwa bei den Verbraucherkategorien nach Tabelle 1 des RAPEX-Leitfadens der Fall: So muss im Rahmen der Risikobewertung jene Verbraucherkategorie ausgewählt werden, die bestimmungsgemäß mit dem Produkt in Kontakt kommt. Offensichtlich lässt sich dieser Schritt der Risikobewertung nicht bruchlos auf B2B-Produkte übertragen.

Sodann soll noch auf ein – derzeit lediglich auf Englisch vorliegendes -Dokument hingewiesen werden: Die Generaldirektion Unternehmen und Industrie der Europäischen Kommission hat im Jahr 2010 ein Working paper on the relationship between the General Product Safety Directive 2001/95/ EC and the market surveillance provisions of Regulation (EC) No 765/2008 erlassen. Dieses Dokument befasst sich (allerdings nur in der Form eines Arbeitspapiers) mithin mit dem Verhältnis von zwei maßgeblichen Rechtsakten des europäischen Produktsicherheitsrechts.

Abschließend sind zahlreiche interessante Dokumente zur Verordnung (EG) Nr. 764/2008 und damit zum Binnenmarkt für Waren im Allgemeinen und zur gegenseitigen Anerkennung im Besonderen auf der folgenden Webseite der Europäischen Kommission abrufbar:

3.6.2.4 Detailharmonisierung und »Neues Konzept«

Das europäische Produktsicherheitsrecht diente von Anfang an dem Ziel, die nationalen technischen Vorschriften zu harmonisieren. Die Harmonisierung folgte dabei zunächst dem oben schon erwähnten Konzept der Detailharmonisierung, wonach die technischen Anforderungen an einen bestimmten Produktbereich statt nationalstaatlich in europäischen Harmonisierungsvorschriften (zumeist Richtlinien) bis ins kleinste, konsensfähige Detail festgelegt wurden. Dies führte zu mühselig langen Regelungen, die mitunter einem Bauplan ähnelten. Es führte zudem – insbesondere unter Berücksichtigung der oft immens langen Verhandlungsdauer vor Erlass einer solchen Vorschrift – vor allem vielfach dazu, dass die technischen Anforderungen an die dann geregelten Produkte bereits im Zeitpunkt des Inkrafttretens der jeweiligen Harmonisierungsvorschrift nicht mehr dem aktuellen Stand des technischen Fortschritts entsprachen. Dieses Rechtsetzungsmodell legte somit letztlich technisch veraltete Lösungen regulativ fest, die anschließend in der Praxis keine uneingeschränkte  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 8 – 01.06.2013<<>>Akzeptanz mehr finden konnten. Das Prinzip der Detailharmonisierung barg vor diesem Hintergrund die praktische Gefahr eines Stillstands technischer Innovationen in sich, indem es zu einer Blockade für innovative Lösungen zu werden drohte. Schätzungen der Europäischen Kommission zufolge wären über 1.000 Einzelrichtlinien erforderlich gewesen, um den erstrebten Harmonisierungserfolg zu erreichen.

In der Folgezeit wurde daher der Versuch unternommen, eine Lösung zur Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes zu finden, die gewährleistet, dass die durchgeführten Harmonisierungsmaßnahmen nicht fortlaufend dem technischen Fortschritt angepasst werden müssen. Zugleich sollte das Rechtsetzungsinstrument innovative technische Ideen nicht weiter behindern.

Infolge dieser Bemühungen kam es in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts unter federführender Prägung von Jacques Delors in seiner damaligen Funktion als Präsident der Europäischen Kommission zu einem industriepolitisch grundsätzlichen Wandel der bisherigen Rechtstechnik: Der Europäische Rat beschloss am 7.5.1985 eine »Neue Konzeption« auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und Normung und legte damit die konzeptionellen Grundlagen für eine Vielzahl von die Vermarktung von Produkten regelnden europäischen Richtlinien fest. Aus einer industriepolitischen Perspektive kann die Bedeutung des »Neuen Konzepts« gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Das »Neue Konzept« der EG von 1985 basiert auf vier Grundprinzipien:

  • In den europäischen Binnenmarktrichtlinien (aktuell nach Art. 114 AEUV) werden nur noch die grundlegenden Anforderungen an die Sicherheit von Produkten festgelegt.

  • Die Konkretisierung der in den Richtlinien beschriebenen grundlegenden Sicherheitsanforderungen durch technische Spezifikationen wird den europäischen Normungsorganisationen übertragen, die europäischharmonisierte Normen erarbeiten.

  • Die Anwendung dieser europäisch-harmonisierten Normen ist für den Hersteller freiwillig. Die technischen Normen haben keinen obligatorischen Charakter.

  • Im Falle der Einhaltung der europäisch-harmonisierten Normen durch den Hersteller wird jedoch die Übereinstimmung mit den grundlegenden Sicherheitsanforderungen der Richtlinie (widerlegbar) vermutet (sogenannte Vermutungswirkung oder Konformitätsvermutung).

Festlegung der grundlegenden Anforderungen

Das »Neue Konzept« von 1985 löste damit das bislang vorherrschende Prinzip der Detailharmonisierung ab. Seither beschränkte sich die euro- 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 9 – 01.06.2013<<>>parechtliche Harmonisierung sicherheitstechnischer Anforderungen an Produkte darauf, lediglich grundlegende Anforderungen im Hinblick auf den jeweils verfolgten Schutzzweck aufzustellen. Die Aufstellung grundlegender Sicherheitsanforderungen dient in der Regel dem Zweck, den Gesundheits-, Arbeits- oder Verbraucherschutz auf einem hohen Niveau zu gewährleisten. Dabei können die Anforderungen in sogenannten horizontalen Richtlinien produktbezogen oder in vertikalen Richtlinien gefahrenspezifisch sein.

Zur Umsetzung des »Neuen Konzepts« erließ der europäische Gesetzgeber zahlreiche – heute auf Art. 114 AEUV gestützte – Binnenmarktrichtlinien, welche die grundlegenden Anforderungen an die Produkte festlegen, und harmonisierte auf diese Weise eine ganze Reihe von Produktbereichen. Mittlerweile gibt es weit über hundert Richtlinien, die unter anderem die Produktbereiche Maschinen, Elektrogeräte, Medizinprodukte, Bauprodukte, Druckgeräte und Aufzüge erfassen.

Konkrete Ausgestaltung der durch die Richtlinien vorgegebenen Anforderungen

Die konkrete Ausgestaltung der durch die Richtlinien vorgegebenen wesentlichen Sicherheitsanforderungen wurde durch das »Neue Konzept« von 1985 auf private Normungsorganisationen verlagert. Bei diesen Normungsorganisationen handelt es sich um das Europäische Komitee für Normung (CEN), das Europäische Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC) und das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI). Was die Aufgabenverteilung zwischen diesen drei Organisationen anbelangt, ist CENELEC für den Bereich der Elektrotechnik, ETSI für den Bereich der Telekommunikation und CEN für alle übrigen Bereiche zuständig. Diese drei Normungsorganisationen erarbeiten im Auftrag der Europäischen Kommission europäische technische Normen, welche sodann nach einem internen Freigabeprozess im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und anschließend von den nationalen Normungsorganisationen in gleichlautende nationale Normen (»Spiegelnormen«) überführt werden. Es handelt sich dann um europäisch-harmonisierte Normen. Allerdings ist nicht jede optisch nach europäischer Genese aussehende Norm (in Deutschland beginnend mit »DIN EN«) eine harmonisierte Norm: Ohne die erwähnte Publikation im Amtsblatt der EU erlangt eine europäische Norm nicht die höheren Weihen einer europäisch-harmonisierten Norm.

Die aktuellen Listen (in Bezug auf die einzelnen europäischen Verordnungen und Richtlinien) mit den jeweiligen harmonisierten Normen können auf der folgenden Webseite abgerufen werden:

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 10 – 01.06.2013<<>>

Vermutungswirkung bzw. Konformitätsvermutung

Die Befolgung der europäisch harmonisierten Normen ist für den Hersteller rechtlich nicht bindend, sondern vielmehr freiwillig. Produktsicherheitsrechtlich entscheidend ist allein, dass das Produkt den in der jeweils einschlägigen Harmonisierungsrichtlinie statuierten grundlegenden Anforderungen entspricht. Erfüllt der Hersteller diese Anforderungen auf technisch andere (ggf. sogar innovativere) Art und Weise, ist dies ebenso rechtlich unbedenklich wie industriepolitisch gerade bei Neuerungen mangels Normung sogar unter Umständen unvermeidlich.

Allerdings ist eine Befolgung harmonisierter Normen für den Hersteller insoweit vorteilhaft, als er dann in den Genuss einer beweisrechtlichen Privilegierung kommt. Jeder Hersteller eines unter europäischen Harmonisierungsrechtsvorschriften fallenden Produkts ist verpflichtet, die Rechtskonformität seines Produkts vor dem Inverkehrbringen zu überprüfen und nachzuweisen, also zu gewährleisten, dass es die grundlegenden Anforderungen zumeist der Richtlinie(n) erfüllt. Hierfür stehen ihm zwei verschiedene Arten der Konformitätsbewertung zur Verfügung: Zum einen kann das Produkt eigenverantwortlich durch den Hersteller selbst überprüft werden, zum anderen freiwillig durch eine neutrale Konformitätsbewertungsstelle (notifizierte oder benannte Stelle). In bestimmten Bewertungsmodulen ist die Einschaltung einer Konformitätsbewertungsstelle sogar Pflicht. Die Konformität eines Produkts mit den Anforderungen der einschlägigen EU-Richtlinien ist vom Hersteller sodann in Form einer sogenannten EG-Konformitätserklärung schriftlich zu bestätigen, soweit dies von der jeweils einschlägigen Richtlinie vorgesehen ist. Die sogenannten CE-Richtlinien sehen darüber hinaus die Kennzeichnung des Produkts mit der CE-Kennzeichnung vor, um auf diese Weise den Marktüberwachungsbehörden bereits auf den ersten Blick die Übereinstimmung des Produkts mit den grundlegenden Anforderungen der einschlägigen Richtlinien zu bestätigen.

An dieser Stelle ist die angesprochene Beweisprivilegierung zu verorten: Bei einem Produkt, das den europäisch-harmonisierten Normen vollständig entspricht, wird widerleglich vermutet, dass das Produkt den grundlegenden Anforderungen der Richtlinie entspricht (sog. Vermutungswirkung oder Konformitätsvermutung). Zu Gunsten des Herstellers müssen die nationalen Marktüberwachungsbehörden davon ausgehen, dass ein -normkonform hergestelltes – Produkt die produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen der Richtlinie erfüllt. Die Normkonformität führt damit – jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils – zur Rechtskonformität.

3.6.2.5 Reform des »Neuen Konzepts« durch den New Legislative Framework (NLF)

Auch das »Neue Konzept« vermochte – bei allem unbestreitbaren Erfolg über die Jahrzehnte – nicht vollständig zu überzeugen: Im Laufe der Zeit wurde vermehrt Kritik an diesem Ansatz laut. Im Wesentlichen wurden gegen das »Neue Konzept« Einwände geltend gemacht, die sich darauf  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 11 – 01.12.2013<<>>stützten, dass auf ein Produkt häufig mehrere europäische Richtlinien gleichzeitig anwendbar sind. Dies führt zum einen dazu, dass der Hersteller zunächst überhaupt einmal identifizieren muss, dass für ihn mehrere Konformitätsbewertungsverfahren erforderlich sind, um sein Produkt im Einklang mit dem geltenden Produktsicherheitsrecht in Verkehr zu bringen. In einem zweiten Schritt muss er sodann alle einschlägigen Konformitätsbewertungsverfahren erfolgreich durchlaufen. Dies wiederum führte teilweise zu dem widersprüchlichen Ergebnis, dass eine der einschlägigen Richtlinien die CE-Kennzeichnung erforderte, um das Produkt in den Verkehr bringen zu dürfen, während die andere anzuwendende Richtlinie das Anbringen des CE-Kennzeichens gerade verbot.

Ein weiterer Schwachpunkt des »Neuen Konzepts« lag in der bislang kaum harmonisierten Akkreditierung der notifizierten oder benannten (Konformitätsbewertungs-)Stellen. Da die Konformitätsbewertungsstellen typischerweise Produktprüfungen sowohl im gesetzlich geregelten wie auch im gesetzesfreien Bereich durchführten, waren sie häufig auf eine zeit- und kostenaufwändige Mehrfachakkreditierung (in Deutschland durch die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik [ZLS] einerseits und durch einen oder mehrere private Akkreditierungsstellen andererseits) angewiesen, wodurch private und staatliche Akkreditierungsstellen auch zunehmend im Wettbewerb miteinander standen.

Schließlich geriet das »Neue Konzept« auch deshalb in die Kritik, weil oft ein uneinheitliches Vorgehen der nationalen Marktüberwachungsbehörden zu besichtigen war. Immer wieder konnte festgestellt werden, dass ein Produkt, das mit der CE-Kennzeichnung versehen war, in einem Mitgliedstaat der EU ungehindert vertrieben werden konnte, während es sich in einem anderen Mitgliedstaat der EU vertriebsbehindernden Maßnahmen durch die zuständige Marktüberwachungsbehörde ausgesetzt sah. Die einzelnen Mitgliedstaaten sahen nicht nur unterschiedliche Sanktionen für Verstöße gegen europäisch-harmonisiertes Recht vor. Darüber hinaus verfolgten sie solche Verstöße auch mit unterschiedlicher Intensität.

Aufgrund dieser Probleme kam es im Rahmen der Strategie der Kommission für den Binnenmarkt 2003–2006 zu einer grundsätzlichen Überprüfung der Rechtsvorschriften nach dem »Neuen Konzept«. Diese Überlegungen führten im Jahr 2008 zu dem europäischen Maßnahmenpaket namens New Legislative Framework (NLF). Der NLF hält zwar an den Eckpunkten des »Neuen Konzepts« der Binnenmarktharmonisierung aus dem Jahr 1985 fest. Zugleich zielt dieses Reformwerk jedoch darauf ab, die oben erwähnten Schwächen des »Neuen Konzepts« zu beseitigen.

Der NLF besteht aus insgesamt drei Rechtsakten:

  • dem Beschluss Nr. 768/2008/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für die Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung des Beschlusses 93/565/EWG des Rates,

     3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 12 – 01.12.2013<<>>
  • der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008 über die Vorschriften für die Akkreditierung und Marktüberwachung im Zusammenhang mit der Vermarktung von Produkten und zur Aufhebung der VO (EWG) Nr. 339/93 des Rates sowie

  • der Verordnung (EG) Nr. 764/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008 zur Festlegung von Verfahren im Zusammenhang mit der Anwendung bestimmter nationaler technischer Vorschriften für Produkte, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind, und zur Aufhebung der Entscheidung Nr. 3052/95/EG.

Der Verordnung (EG) Nr. 764/2008 kommt neben den beiden anderen Rechtsakten allerdings nur eine untergeordnete Bedeutung zu, da sie im Wesentlichen nur Verfahren für die Anwendung nationaler technischer Vorschriften im nichtharmonisierten Bereich zum Gegenstand hat. Die beiden übrigen Rechtsakte bilden nach den Erwägungen des Rates zwar eine Einheit. Sie entfalten aber eine unterschiedliche rechtliche Wirkung: Während dem Beschluss Nr. 768/2008/EG keine unmittelbare rechtliche Wirkung zukommt – es handelt sich vielmehr um eine politische Selbstbindung des Beschlussgebers für künftige Rechtsetzungsverfahren –, wirkt die Verordnung seit dem 1.1.2010 als unmittelbar geltendes Recht gemäß Art. 288 Unterabs. 2 AEUV in allen Mitgliedstaaten der EU.

3.6.2.6 Beschluss Nr. 768/2008/EG

Der Beschluss Nr. 768/2008/EG verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Zum einen sollen die Probleme, die durch die Überschneidung verschiedener Richtlinien verursacht werden, reduziert werden. Zum anderen soll die Verantwortlichkeit für die Konformität der Produkte stärker präzisiert werden. Der Beschluss trägt dem Wunsch nach einer möglichst einheitlichen Rechtsgestaltung innerhalb der Europäischen Union Rechnung. Dabei übernimmt er die Elemente des Neuen Konzepts (engl. New Approach) von 1985, des sog. Modul-Beschlusses 93/465/EWG, in denen die Inhalte der einzelnen Module im Rahmen der produktsicherheitsrechtlichen Konformitätsbewertungsverfahren näher beschrieben wurden, als erfolgreich bewertete Elemente der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/ EG und präzisiert diese in Form von Musterbestimmungen.

Durch den Erlass des Beschlusses Nr. 768/2008/EG sind die EU-Mitgliedstaaten die politische Verpflichtung eingegangen, die Musterbestimmungen des Beschlusses in sämtlichen künftigen sektoralen Rechtsakten, d.h. insbesondere in den CE-Richtlinien wie z.B. der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG oder der EG-Niederspannungsrichtlinie 2006/95/EG, zu übernehmen.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 13 – 01.12.2013<<>>

Inhalt des Beschlusses Nr. 768/2008/EG

Der Beschluss Nr. 768/2008/EG besteht aus nur acht Artikeln, die allerdings von drei – z.T. sehr umfangreichen – Anhängen flankiert werden. In diesen drei Anhängen finden sich Bestimmungen zu

  • Musterbestimmungen für Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft für Produkte (Anhang I),

  • Verfahren zur Konformitätsfeststellung (Anhang II) und zur

  • EG-Konformitätserklärung (Anhang III)

Was die acht Artikel anbelangt, sind die Artt. 1–3, 5 Beschluss Nr. 768/2008/EG besonders hervorzuheben. Zunächst regelt Art. 1 Beschluss Nr. 768/2008/EG die Allgemeinen Grundsätze wie folgt:

(Abs. 1) »Produkte, die in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden, müssen mit allen geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmen.«

(Abs. 2) »Bringen Wirtschaftsakteure Produkte auf dem Gemeinschaftsmarkt in Verkehr, so sind sie im Rahmen ihrer jeweiligen Rolle in der Lieferkette für die Konformität ihrer Produkte mit allen geltenden Rechtsvorschriften verantwortlich.«

(Abs. 3) »Die Wirtschaftsakteure sind dafür verantwortlich zu gewährleisten, dass alle Informationen, die sie über ihre Produkte bereitstellen, korrekt und vollständig sind und mit den geltenden Rechtsvorschriften der Gemeinschaft übereinstimmen.«

Hervorzuheben sind hier die Pflichten für die Wirtschaftsakteure, die einerseits von der jeweiligen Rolle in der Lieferkette abhängen (Abs. 2) und andererseits – in Bezug auf die zur Verfügung zu stellenden Informationen wie z.B. einer Betriebsanleitung – unterschiedslos gelten (Abs. 3).

Art. 2 Unterabs. 1 Beschluss Nr. 768/2008/EG wiederum regelt den Anwendungsbereich des Beschlusses wie folgt:

»Dieser Beschluss enthält den einheitlichen Rahmen für allgemeine Grundsätze und Musterbestimmungen für die Ausarbeitung von Rechtsvorschriften der Gemeinschaft zur Harmonisierung der Bedingungen für die Vermarktung von Produkten (›Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft‹)«

Besondere Aufmerksamkeit verdient hier die Definition des Rechtsbegriffs der »Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft«; denn dieser Rechtsbegriff spielt in Art. 2 Unterabs. 2 sowie in den Artt. 3–7 Beschluss Nr. 768/2008/EG eine große Rolle.

In Art. 3 Beschluss Nr. 768/2008/EG wiederum kommt die Bedeutung des Neuen Konzepts unverkennbar zum Ausdruck: Zum einen wird in Abs. 1 Unterabs. 1 klargestellt, dass sich die europäischen Harmonisierungs- 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 14 – 01.12.2013<<>>rechtsvorschriften »auf die Festlegung der wesentlichen Anforderungen [beschränken], die das Schutzniveau bestimmen, und formulieren diese Anforderungen in Form von Ergebnissen, die zu erzielen sind«. Hier wird deutlich, dass das europäische Produktsicherheitsrecht auch zukünftig grundlegende Sicherheitsanforderungen statuieren wird, wohingegen die Festlegung von detaillierten Bestimmungen nach wie vor keine Rolle mehr spielen soll.

Allerdings ermöglicht der Beschluss im Ausnahmefall auch ein Abweichen von diesem Konzept der Festlegung wesentlicher Anforderungen. Denn in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 Beschluss Nr. 768/2008/EG heißt es wie folgt:

»Ist die Verwendung wesentlicher Anforderungen mit Blick auf das Ziel der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes der Verbraucher, der öffentlichen Gesundheit und der Umwelt oder andere Aspekte des Schutzes öffentlicher Interessen nicht möglich oder nicht zweckmäßig, können in den betreffenden Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft auch ausführliche Spezifikationen festgelegt werden.«

Demgegenüber bewegt sich Art. 3 Abs. 2 Beschluss Nr. 768/2008/EG wieder in den bekannten Bahnen des Neuen Konzepts: Denn danach ist immer dann, wenn eine europäische Harmonisierungsrechtsvorschrift wesentliche Anforderungen an ein Produkt formuliert, die Verwendung harmonisierter Normen vorzusehen, welche »diese Anforderungen in technischer Hinsicht ausdrücken« und welche »die Vermutung der Konformität mit diesen Anforderungen begründen, wobei die Möglichkeit beibehalten wird, das Schutzniveau durch andere Mittel festzulegen«.

In Art. 5 Beschluss Nr. 768/2008/EG schließlich wird die EG-Konformitätserklärung in den Fokus des Interesses gerückt. Dort wird geregelt, dass im Falle der Existenz einer Pflicht zur Ausstellung einer EG-Konformitätserklärung vorgeschrieben werden soll, »dass eine einzige Erklärung für alle für das Produkt geltenden Gemeinschaftsrechtsakte ausgestellt wird, die alle einschlägigen Informationen darüber enthält, auf welche Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft sie sich bezieht, wobei die Fundstellen der betreffenden Rechtsvorschriften im Amtsblatt anzugeben sind«.

Damit wird ein bewährtes Konzept im europäischen Produktsicherheitsrecht fortgeführt: Schon zuvor war es im Falle der Anwendbarkeit mehrerer New-Approach-Richtlinien üblich, eine einzige EG-Konformitätserklärung auszustellen und darin auf die anwendbaren Richtlinien zu verweisen.

Überblick über die Musterbestimmungen in Anhang I und die Verfahren zur Konformitätsfeststellung in Anhang II des Beschlusses Nr. 768/2008/EG

In Anhang I des Beschlusses Nr. 768/2008/EG finden sich die »Musterbestimmungen für Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 15 – 01.12.2013<<>>für Produkte«. Sie nehmen die Form einer »Musterrichtlinie« an. Ergänzt werden diese Musterbestimmungen durch die Verfahren zur Konformitätsfeststellung in Anhang II des Beschlusses Nr. 768/2008/EG.

Was den Anhang I anbelangt, enthalten die Musterbestimmungen in Art. R1 zunächst Vorgaben für Begriffsbestimmungen, die bei allen zukünftig zu erlassenden Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des europäischen Produktsicherheitsrechts zu beachten sein werden. Sodann legen die Musterbestimmungen die allgemeinen Verpflichtungen für die Wirtschaftsakteure, namentlich die Hersteller, Bevollmächtigten, Einführer und Händler, in den Artt. R2 ff. fest. Darüber hinaus sieht der Beschluss Nr. 768/2008/EG Musterbestimmungen für die sog. Notifizierung von Konformitätsbewertungsstellen vor, indem er Regelungen trifft, welche Anforderungen die Konformitätsbewertungsstellen erfüllen müssen, um als kompetent für die Durchführung der jeweiligen Konformitätsbewertungsverfahren notifiziert zu werden. Während in der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 nur die allgemeinen Grundsätze der CE-Kennzeichnung näher beschrieben werden, legt der Beschluss Nr. 768/2008/EG in Art. R12 des Anhangs I detailliert die Vorschriften für die CE-Kennzeichnung fest. Schließlich finden sich in dem Beschluss auch Musterbestimmungen für die Geltendmachung eines formellen Einwandes gegen harmonisierte Normen (Art. R19 des Anhangs I) sowie für das Schutzklauselverfahren (Art. R20 des Anhangs I). Mit dem Schutzklauselverfahren wird den EU-Mitgliedstaaten ein Instrument an die Hand gegeben, als gefährlich erachtete Produkte mit vertriebsbehindernden Maßnahmen zu versehen, auch wenn das betreffende Produkt durch seinen Hersteller oder Bevollmächtigten mit der CE-Kennzeichnung versehen worden ist.

Mit Anhang II wird dem europäischen Richtliniengeber daneben ein breites Spektrum unterschiedlicher Konformitätsbewertungsverfahren zur Wahl gestellt, aus denen sich dieser in der Zukunft beim Erlass europäischer Rechtsakte bedienen kann.

Begriffsbestimmungen

Ein Kritikpunkt am Neuen Konzept von 1985 bestand darin, dass in den zugehörigen Rechtsvorschriften über den freien Warenverkehr zahlreiche Begriffe verwendet wurden, für die es häufig an einer – auch richtlinienübergreifend – einheitlichen Definition fehlte. Zum Verständnis der Begriffe mussten daher häufig rechtlich unverbindliche Leitlinien der Europäischen Kommission herangezogen werden. In den Bereichen wiederum, in denen verbindliche Begriffsbestimmungen eingeführt wurden, wichen diese oft sowohl in ihrem Wortlaut als auch in ihrer Bedeutung voneinander ab.

Die Begriffsbestimmungen in Art. R1 sollen – entsprechend ihrer Natur als Musterbestimmungen – in allen sektoralen (produktbezogenen wie gefahrenspezifischen) Rechtsakten angewendet werden. Damit hat der Beschlussgeber erstmalig klare, richtlinienübergreifende Definitionen für bestimmte grundlegende Begriffe aus der Taufe gehoben.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 16 – 01.12.2013<<>>

Die einzelnen Begriffsbestimmungen sind im Anhang I des Beschlusses in Art. R1 Nrn. 1–17 enthalten. Dort finden sich beispielsweise Definitionen zu den Begriffen »Bereitstellung auf dem Markt«, »Inverkehrbringen«, »Hersteller«, »Händler«, »Konformitätsbewertung« oder »CE-Kennzeichnung«, die in Zukunft beim Erlass neuer bzw. bei der Überarbeitung alter Richtlinien zugrunde zu legen sind. Bei der Überarbeitung der Spielzeugrichtlinie 88/378/EWG, die im Erlass der neuen Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG mündete, wurden die Vorgaben des Beschlusses Nr. 768/2008/ EG bereits teilweise beachtet.

Abweichung von den Musterbestimmungen des Anhangs I des Beschlusses Nr. 768/2008/EG

Auch wenn es dem Charakter der Musterbestimmungen in den Anhängen I, II und III geschuldet ist, dass sie in zukünftigen europäischen Rechtsakten auf dem Gebiet des Produktsicherheitsrechts übernommen werden sollen, hat der Beschlussgeber eine Abweichungsklausel vorgesehen. Sie ist in Art. 2 Unterabs. 2 Beschluss Nr. 768/2008/EG geregelt und lautet wie folgt:

»In Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft kommen die in diesem Beschluss festgelegten allgemeinen Grundsätze und die betreffenden Musterbestimmungen der Anhänge I, II und III zum Einsatz. Die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft können jedoch von diesen allgemeinen Grundsätzen und Musterbestimmungen abweichen, wenn dies aufgrund der Besonderheiten des betreffenden Sektors angebracht ist, insbesondere wenn ein umfassendes Rechtssystem bereits besteht.«

In diesem Zusammenhang ist zunächst daran zu erinnern, dass die angesprochenen »allgemeinen Grundsätze« in Art. 1 Beschluss Nr. 768/2008/ EG zu finden sind. Sodann hat Brüssel hier eine flexible Regelung getroffen, die der Vielgestaltigkeit des europäischen Produktsicherheitsrechts Rechnung tragen will. Ob und wenn ja, wie in der Praxis von dieser Abweichungsklausel Gebrauch gemacht werden wird, wird freilich erst beim Erlass zukünftiger Rechtsakte genauer zu untersuchen sein.

Alignment Package

Rechtlich bedeutsam werden die Musterbestimmungen aus dem Beschluss Nr. 768/2008/EG naturgemäß erst mit dem Erlass entsprechender Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft. Im Wesentlichen soll diese Anpassung im Rahmen des sog. Alignment Package erfolgen. Dieses Alignment Package umfasst derzeit die folgenden neun europäischen Richtlinien produktsicherheitsrechtlicher Provenienz:

  • Richtlinie 2006/95/EG (sogenannte EG-Niederspannungsrichtlinie)

  • Richtlinie 2004/108/EG (sogenannte EMV-Richtlinie)

  • Richtlinie 94/9/EG (sogenannte ATEX-Richtlinie)

     3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 17 – 01.12.2013<<>>
  • Richtlinie 95/16/EG (sogenannte Aufzugsrichtlinie)

  • Richtlinie 2009/105/EG (einfache Druckbehälter)

  • Richtlinie 2004/22/EG (sogenannte Messgeräterichtlinie)

  • Richtlinie 2009/23/EG (nichtselbsttätige Waagen)

  • Richtlinie 93/15/EG (Explosivstoffe für zivile Zwecke)

  • Richtlinie 2007/23/EG (pyrotechnische Gegenstände)

Die entsprechenden Vorschläge der Europäischen Kommission für die »neuen« Richtlinien liegen bereits seit 2011 und somit seit geraumer Zeit vor. Wann mit dem endgültigen Erlass der Rechtsakte zu rechnen ist, kann daher derzeit nicht mit Sicherheit prognostiziert werden. Wichtig ist allerdings, dass es sich bei den Rechtsakten um Richtlinien handelt: Anders als europäische Verordnungen richten sie sich an die – nach dem Beitritt Kroatiens zum 1.7.2013 – 28 EU-Mitgliedstaaten, die den Inhalt der Richtlinien in einer in der jeweiligen Richtlinie vorgegebenen Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen haben. Vor diesem Hintergrund werden die betroffenen Wirtschaftsakteure mithin auch nach dem Inkrafttreten der genannten »neuen« Richtlinien noch genug Zeit haben, um sich auf die neue Rechtslage einzustellen.

Wer sich über den Fortgang der Gesetzgebungsaktivitäten im Bereich des Alignment Package informieren möchte, sei auf die folgende Webseite der Europäischen Kommission verwiesen:

Mit der »neuen« Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG liegt im Übrigen bereits eine Richtlinie vor, die an den Beschluss Nr. 768/2008/EG angepasst wurde. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang schließlich die Richtlinie 1999/5/EG. Diese sogenannte R&TTE-Richtlinie (engl. Radio and Telecommunications Terminal Equipment Directive) wird derzeit ebenfalls an die Musterbestimmungen aus Anhang I des Beschlusses Nr. 768/2008/ EG angepasst. Unter der Dokumentennummer COM(2012) 584 final liegt ein – auch auf Deutsch vorliegender – Vorschlag der Europäischen Kommission vom 17.10.2012 für eine neue R&TTE-Richtlinie vor, wobei diese Bezeichnung zukünftig keine Verwendung mehr finden dürfte: Der Vorschlag der Kommission regelt zwar weiterhin Funkanlagen; die Telekommunikationsendeinrichtungen sind aber kein Bestandteil des Richtlinienentwurfs mehr.

3.6.2.7 Verordnung (EG) Nr. 765/2008

Im Hinblick auf die Verordnung (EG) Nr. 765/2008 sind – bei Zugrundelegung einer brandschutzrechtlichen Perspektive – die Artt. 15 ff. VO (EG) Nr. 765/2008 in den Fokus des Interesses zu rücken; denn dort wird der »Rechtsrahmen für eine gemeinschaftliche Marktüberwachung und die  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 18 – 01.12.2013<<>>Kontrolle von in den Gemeinschaftsmarkt eingeführten Produkten« geregelt. Demgegenüber ist der zweite Kernbereich der Marktüberwachungsverordnung, das sind die Artt. 3 ff. VO (EG) Nr. 765/2008, in diesem Kontext weniger bedeutsam: Dort hat das europäische Akkreditierungsrecht, das in Deutschland u.a. zur Einrichtung der Deutschen Akkreditierungstelle GmbH (DAkkS) mit Sitz in Berlin als nationaler Akkreditierungsstelle geführt hat, eine ausführliche Regelung erfahren.

Sinn und Zweck des Rechtsrahmens für eine gemeinschaftliche Marktüberwachung

Mit dem Rechtsrahmen in den Artt. 15 ff. VO (EG) Nr. 765/2008 verfolgt Brüssel das klar formulierte Ziel, für einen EU-weit einheitlichen Vollzug des europäischen Produktsicherheitsrechts zu sorgen. Ausdruck findet dieses Motiv für den Erlass des Rechtsrahmens im Erwägungsgrund (26) der Verordnung (EG) Nr. 765/2008, wo es wie folgt heißt:

»Um die gleichwertige und einheitliche Durchsetzung der Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft zu gewährleisten, führt diese Verordnung einen Rahmen für eine gemeinschaftliche Marktüberwachung ein, indem sie Mindestanforderungen vor dem Hintergrund der von den Mitgliedstaaten zu erreichenden Ziele und einen Rahmen für die Verwaltungszusammenarbeit festlegt, der auch den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten umfasst.«

Damit hat die EU auf einen vielbeklagten Missstand im Vollzug des europäischen Produktsicherheitsrechts reagiert: Aufgrund der Uneinheitlichkeit des Vollzugs der jeweiligen nationalen Marktüberwachungsbehörden konnte immer wieder besichtigt werden, dass ein mit der CE-Kennzeichnung versehenes Produkt in einem EU-Mitgliedstaat ungehindert vertrieben werden konnte, wohingegen es sich in einem anderen EU-Mitgliedstaat vertriebsbehindernden Maßnahmen ausgesetzt sah.

Geltungsbereich des Rechtsrahmens für eine gemeinschaftliche Marktüberwachung

Innerhalb des Rechtsrahmens für eine gemeinschaftliche Marktüberwachung und die Kontrolle von in den Gemeinschaftsmarkt eingeführten Produkten kommt dem Geltungsbereich elementare Bedeutung zu: Nach Art. 15 Abs. 1 VO (EG) Nr. 765/2008 gelten die Artt. 16–26

»für Produkte, die unter Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft fallen.«

Der Verordnungsgeber hat in Art. 2 Nr. 21 VO (EG) Nr. 765/2008 klar geregelt, was solche »Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft« sind. Danach handelt es sich um »Rechtsvorschriften der Gemeinschaft zur Harmonisierung der Bedingungen für die Vermarktung von Produkten«.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 19 – 01.12.2013<<>>

Aus der Perspektive des Brandschutzes sind damit insbesondere die folgenden europäischen Rechtsakte »Harmonierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft« in diesem Sinne:

  • Richtlinie 89/686/EWG (sogenannte PSA-Richtlinie)

  • Richtlinie 97/23/EG (sogenannte EG-Druckgeräterichtlinie)

  • Richtlinie 1999/5/EG (sogenannte R&TTE-Richtlinie)

  • Richtlinie 2004/108/EG (zur sogenannten EMV-Richtlinie Kap. 3.6.4)

  • Richtlinie 2006/42/EG (sogenannte EG-Maschinenrichtlinie)

  • Richtlinie 2006/95/EG (zur sogenannten EG-Niederspannungsrichtlinie Kap. 3.6.3)

  • Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (sogenannte Bauproduktenverordnung)

Weil auch die Richtlinie 2001/95/EG (sog. allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie) mittels europarechtlicher Bestimmungen ausweislich ihres Art. 1 Abs. 1 sicherstellen soll, »dass die in den Verkehr gebrachten Produkte sicher sind«, ist sie fraglos eine Harmonisierungsrechtsvorschrift der Gemeinschaft im Sinne des Art. 2 Nr. 21 VO (EG) Nr. 765/2008. Dessen ungeachtet gelten für das Verhältnis der Richtlinie 2001/95/EG zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008 Besonderheiten, die eine nähere Betrachtung verdienen.

Verhältnis zur allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG

Aus einer genuin produktsicherheitsrechtlichen Perspektive im Allgemeinen und aus einer brandschutzrechtlichen Perspektive im Besonderen ist das Verhältnis der Marktüberwachungsverordnung zur Richtlinie 2001/95/ EG von Bedeutung: Denn von der Ausgestaltung dieses Verhältnisses hängt ab, auf welcher Grundlage Marktüberwachungsmaßnahmen im Falle der fehlenden Compliance von Produkten erlassen werden.

Was dieses Verhältnis anbelangt, hat sich der Verordnungsgeber in Erwägungsgrund (6) zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008/EG wie folgt geäußert:

»Mit der Richtlinie 2001/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Dezember 2001 über die allgemeine Produktsicherheit wurden Regeln zur Gewährleistung der Sicherheit von Verbrauchsgütern aufgestellt. Die Marktüberwachungsbehörden sollen die Möglichkeit besitzen, die ihnen im Rahmen jener Richtlinie zur Verfügung stehenden spezielleren Maßnahmen zu ergreifen.«

Mit dieser Aussage in den Erwägungsgründen, also jenem Teil eines europäischen Rechtsakts, der Auskunft über die Erwägungen gibt, die zu dem Erlass des betreffenden Rechtsaktes geführt haben, wird zum einen verdeutlicht, dass die Richtlinie 2001/95/EG in der Tat zu den »Harmoni- 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 20 – 01.12.2013<<>>sierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft« im Sinne des Art. 2 Nr. 21 VO (EG) Nr. 765/2008 rechnet; zum anderen wird klargestellt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2001/95/EG wie namentlich die Befugnisse aus ihrem Art. 8 Abs. 1 als speziellere Gesetze (auf Latein als leges speciales bezeichnet) nicht durch die Artt. 16–26 VO (EG) Nr. 765/2008 verdrängt werden sollen.

Allgemeine Anforderungen

Große Bedeutung kommt in der Praxis den allgemeinen Anforderungen gemäß Art. 16 VO (EG) Nr. 765/2008 zu. Dort ist insbesondere auf Absatz 2 hinzuweisen, der wie folgt lautet:

»Die Marktüberwachung stellt sicher, dass unter Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft fallende Produkte, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung oder bei einer Verwendung, die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbar ist, und bei ordnungsgemäßer Installation und Wartung die Gesundheit oder Sicherheit der Benutzer gefährden können oder die die geltenden Anforderungen der Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft in anderer Hinsicht nicht erfüllen, vom Markt genommen werden bzw. ihre Bereitstellung auf dem Markt untersagt oder eingeschränkt wird und dass die Öffentlichkeit, die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß informiert werden.«

Daraus ergibt sich, dass bei jedem europäisch-harmonisierten Produkt die vorhersehbare Verwendung zum rechtlich relevanten Bezugspunkt für die Prüfung wird, ob im Zeitpunkt des Inverkehrbringens die produktsicherheitsrechtlichen Anforderungen erfüllt sind oder nicht. Die Auswirkungen dieser Bestimmung zeigen sich z.B. im europäischen Niederspannungsrecht: Nach Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 2006/95/EG kommt es zwar auf die ordnungsgemäße Installation und Wartung sowie auf die bestimmungsgemäße Verwendung an; die vorhersehbare Verwendung spielt demgegenüber keine Rolle. Seit dem 1.1.2010 ist sie gleichwohl auch im europäischen Niederspannungsrecht aufgrund der Regelung in Art. 16 Abs. 2 VO (EG) Nr. 765/2008 beachtlich.

Marktüberwachungsmaßnahmen bei ernsten Gefahren bzw. Risiken

Besondere Aufmerksamkeit verdienen jene Bestimmungen in der Verordnung (EG) Nr. 765/2008, die sich mit ernsten Gefahren befassen. Just brandschutzrechtlich relevante Produktrisiken können ohne Weiteres diese – rechtlich bedeutsame – Eskalationsstufe erreichen.

Im Zentrum dieses europäischen Sonderrechts für ernste Gefahren stehen die Artt. 20, 22 VO (EG) Nr. 765/2008.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 21 – 01.12.2013<<>>

So lautet Art. 20 Abs. 1 VO (EG) Nr. 765/2008:

»Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Produkte, die eine ernste Gefahr darstellen, die ein rasches Eingreifen erforderlich macht, einschließlich einer ernsten Gefahr ohne unmittelbare Auswirkung, zurückgerufen oder vom Markt genommen werden bzw. ihre Bereitstellung auf ihrem Markt untersagt wird und dass die Kommission unverzüglich gemäß Artikel 22 informiert wird.«

Wenn und soweit ernste Produktgefahren zu besichtigen sind, wird den Marktüberwachungsbehörden der Mitgliedstaaten somit kein sog. Entschließungsermessen mehr eingeräumt: Sie müssen tätig werden (sie »stellen sicher«) und die bestehenden Gefahren abwehren, und zwar durch

  • einen Rückruf,

  • eine Rücknahme oder

  • eine Bereitstellungsuntersagung.

Aufgrund dieser drei Handlungsmöglichkeiten haben die Marktüberwachungsbehörden somit ein – allerdings stark verengtes – Auswahlermessen, wobei zu beachten ist, dass in der Praxis z.B. auch Kombinationen denkbar sind: So kann die Marktüberwachungsbehörde zum einen den Rückruf anordnen und damit jene ernsten Gefahren effektiv bekämpfen, die von den im Feld befindlichen Produkten ausgehen; zum anderen kann die Behörde mit einer – in die Zukunft gerichteten – Bereitstellungsuntersagung dafür Sorge tragen, dass keine weiteren Produkte mehr in Verkehr gebracht werden, von denen ernste Gefahren ausgehen.

Was das fehlende Entschließungsermessen anbelangt, darf nicht der praktisch wichtige Vorrang eigenverantwortlicher Maßnahmen übersehen werden: Wenn und soweit sich der betreffende Wirtschaftsakteur wie namentlich der Hersteller oder der Händler selbst der Aufgabe der Abwehr der ernsten Gefahren annimmt, indem er eigene wirksame und geeignete Maßnahmen ergreift, bleibt kein Raum mehr für Marktüberwachungsmaßnahmen der Marktüberwachungsbehörden. Staatliche Maßnahmen wären in dieser Konstellation schlechterdings nicht mehr erforderlich und damit unverhältnismäßig.

In Deutschland bestanden bis zum Erlass der – allerdings keineswegs rechtsverbindlichen – Leitlinien zum Produktsicherheitsgesetz durch den Länderausschuss für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit (LASI) Zweifel an der Fortexistenz des zuvor im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) klar geregelten Vorrangs eigenverantwortlicher Maßnahmen. Auch wenn in der rechtswissenschaftlichen Literatur – im Hinblick auf die Unverhältnismäßigkeit etwaiger marktüberwachungsbehördlicher Maßnahmen – der Möglichkeit eines Monitorings freiwilliger Maßnahmen durch die Behörden das Wort geredet wurde, musste in der Praxis stets damit gerechnet werden, dass sich Marktüberwachungsbehörden unter Bezugnahme auf den Wortlaut des § 26 Abs. 4 des Gesetzes über  3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 22 – 01.12.2013<<>>die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) mit einem bloßen Monitoring nicht zufrieden gaben.

Zu begrüßen ist vor diesem Hintergrund daher die Klarstellung in der Leitlinie 26/3 des LASI, wo die Frage nach der Zulässigkeit etwaiger behördlicher Maßnahmen trotz der Ankündigung des betreffenden Wirtschaftsakteurs, selbst Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ergriffen zu haben bzw. ergreifen zu wollen, wie folgt beantwortet wird:

»Die Behörde hat den Wirtschaftsakteur anzuhören. Nur wenn der Wirtschaftsakteur in der Anhörung nachgewiesen hat, dass er eigenewirksameundangemesseneMaßnahmen getroffen hat, ist eine Maßnahme der Behörde nicht erforderlich und wäre nach den allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen unverhältnismäßig. Dies gilt auch im Falle eines ernsten Risikos im Sinne § 26 Abs. 4 ProdSG

Schließlich darf nicht übersehen werden, dass die Rechtsbegriffe »Rückruf« und »Rücknahme« in Art. 2 VO (EG) Nr. 765/2008 definiert sind. Danach ist ein Rückruf gemäß Art. 2 Nr. 14 VO (EG) Nr. 765/2008

»jede Maßnahme, die auf Erwirkung der Rückgabe eines dem Endverbraucher bereits bereitgestellten Produkts abzielt«.

Eine Rücknahme wiederum ist gemäß Art. 2 Nr. 15 VO (EG) Nr. 765/ 2008

»jede Maßnahme, mit der verhindert werden soll, dass ein in der Lieferkette befindliches Produkt auf dem Markt bereitgestellt wird«.

Die Durchführung von Risikobewertungen als Verfahrensbestimmung

Der europäische Verordnungsgeber hat in Art. 20 Abs. 1 VO (EG) Nr. 765/2008 nicht nur eine Regelung zu den zu treffenden Marktüberwachungsmaßnahmen im Falle ernster Gefahren getroffen; er hat sich darüber hinaus auch mit dem – zeitlich vorgelagerten – behördlichen Verfahren befasst, das zur Annahme ernster (Produkt-)Gefahren führt. Elementarer Bestandteil des behördlichen Verfahrens muss gemäß Art. 20 Abs. 2 VO (EG) Nr. 765/2008 die Durchführung einer angemessenen Risikobewertung sein. In dieser Rechtsnorm heißt es wie folgt:

»Die Entscheidung, ob ein Produkt eine ernste Gefahr darstellt oder nicht, wird auf der Grundlage einer angemessenen Risikobewertung unter Berücksichtigung der Art der Gefahr und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts getroffen. Die Möglichkeit, einen höheren Sicherheitsgrad zu erreichen, oder die Verfügbarkeit anderer Produkte, von denen eine geringere Gefährdung ausgeht, ist kein ausreichender Grund, um anzunehmen, dass von einem Produkt eine ernste Gefahr ausgeht.«

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 23 – 01.12.2013<<>>

Mit dieser Regelung legt der europäische Verordnungsgeber unverhandelbare Voraussetzungen für die behördliche Entscheidungsfindung fest: Auch wenn die Entscheidung einer Marktüberwachungsbehörde gemäß Art. 20 Abs. 1 VO (EG) Nr. 765/2008 im konkreten Einzelfall richtig und damit materiell rechtmäßig sein mag, weil von dem betreffenden Produkt in der Tat ernste Gefahren ausgehen, so ist diese Entscheidung nur dann auch (formell) rechtmäßig, wenn sie auf der Grundlage einer angemessenen Risikobewertung erfolgt ist. Mit anderen Worten handelt eine europäische Marktüberwachungsbehörde wegen Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 2 VO (EG) Nr. 765/2008(europa-)rechtswidrig, wenn sie die Durchführung einer angemessenen Risikobewertung unterlässt.

Wann eine Risikobewertung in diesem Sinne angemessen ist, wird in der Marktüberwachungsverordnung nicht näher ausgeführt. Im Falle von Produkten im Sinne des Art. 2 lit. a) Richtlinie 2001/95/EG, also von Verbraucherprodukten, führt derzeit indes kein Weg am Leitfaden für die Risikobewertung von Verbraucherprodukten vorbei (dazu Kap. 3.6.2.3).

3.6.2.8 Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG

Die Richtlinie 2001/95/EG bildet derzeit den Kern des europäischen Produktsicherheitsrechts: Sie regelt nicht weniger als die rechtlichen Voraussetzungen an das Inverkehrbringen von Verbraucherprodukten innerhalb der EU, wobei die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie den Begriff des Verbraucherprodukts gar nicht verwendet. Vielmehr soll die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie gemäß Art. 1 Abs. 1 Richtlinie 2001/95/EG sicherstellen, »dass die in den Verkehr gebrachten Produkte sicher sind«.

Was ein Produkt in diesem Sinne ist, wird in Art. 2 lit. a) Richtlinie 2001/95/EG näher definiert. Danach ist Produkt

»jedes Produkt, das – auch im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung – für Verbraucher bestimmt ist oder unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen von Verbrauchern benutzt werden könnte, selbst wenn es nicht für diese bestimmt ist, und entgeltlich oder unentgeltlich im Rahmen einer Geschäftstätigkeit geliefert oder zur Verfügung gestellt wird, unabhängig davon, ob es neu, gebraucht oder wiederaufgearbeitet ist.«

Umgekehrt findet die Richtlinie 2001/95/EGkeine Anwendung auf den B2B-Bereich (engl. Business-to-Business): Die rechtlichen Anforderungen an Arbeitsmittel sind mithin kein Gegenstand der Richtlinie 2001/95/ EG. Sie können sich indes in den sektoralen Richtlinien wie etwa der EG-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG finden.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 24 – 01.12.2013<<>>

Begriffsbestimmungen

Große Bedeutung kommt den Begriffsbestimmungen in Art. 2 Richtlinie 2001/95/EG zu: Denn dort wird u.a. definiert, wann ein Produkt (= Verbraucherprodukt) sicher und wann es gefährlich im Sinne der Richtlinie 2001/95/EG ist.

Sicher ist gemäß Art. 2 lit. b) Richtlinie 2001/95/EG »jedes Produkt, das bei normaler oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung, was auch die Gebrauchsdauer sowie gegebenenfalls die Inbetriebnahme, Installation und Wartungsanforderungen einschließt, keine oder nur geringe, mit seiner Verwendung zu vereinbarende und unter Wahrung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit und Sicherheit von Personen vertretbare Gefahren birgt«. Umgekehrt ist jedes Produkt gefährlich, das nicht der Begriffsbestimmung des sicheren Produkts gemäß Art. 2 lit. b) Richtlinie 2001/95/EG entspricht. Diese Definition eines sicheren Produkts wird in der Richtlinie 2001/95/EG auch als allgemeine Sicherheitsanforderung bezeichnet (vgl. Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2001/95/EG).

Daneben wird in Art. 2 Richtlinie 2001/95/EG auch definiert, wer Hersteller und Händler im Sinne der Richtlinie 2001/95/EG sein soll.

Sicherheitsanforderungen

Im Hinblick auf die Definitionen des sicheren und des gefährlichen Produkts einerseits und des Grundprinzips des europäischen Produktsicherheitsrechts, wesentliche Anforderungen an das Inverkehrbringen von Produkten zu formulieren, andererseits, nimmt es nicht wunder, dass die Sicherheitsanforderung in Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2001/95/EG den Herstellern gebietet, nur sichere Produkte in Verkehr zu bringen.

Wann ein Produkt sicher in diesem Sinne ist, wird in Art. 3 Abs. 2, 3 Richtlinie 2001/95/EG näher konkretisiert. Dabei ist zwischen den beiden folgenden Konstellationen zu unterscheiden:

  • es existieren harmonisierte (technische) Normen

  • es existieren keine harmonisierten (technischen) Normen

Wenn und soweit harmonisierte Normen erarbeitet worden sind und im Amtsblatt der Europäischen Union gelistet sind, kann die Vermutungswirkung bzw. Konformitätsvermutung aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Richtlinie 2001/95/EG in Anspruch genommen werden.

Dort heißt es wie folgt:

»Es wird davon ausgegangen, dass ein Produkt sicher ist – soweit es um Risiken und Risikokategorien geht, die durch die betreffenden nationalen Normen geregelt werden –, wenn es den nicht bindenden nationalen Normen entspricht, die eine europäische Norm umsetzen, auf die die 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 25 – 01.12.2013<<>>Kommission gemäß Art. 4 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften verwiesen hat. Die Fundstellen solcher nationalen Normen sind von den Mitgliedstaaten zu veröffentlichen.«

Hierbei darf nicht übersehen werden, dass die Konformitätsvermutung erst aus den nationalen »Spiegelnormen« (z.B. DIN EN) und nicht schon aus den zugrunde liegenden europäischen Normen (EN) folgt.

Im Falle fehlender harmonisierter Normen sowie nationaler »Spiegelnormen« gilt Art. 3 Abs. 3 Richtlinie 2001/95/EG. Danach soll die Prüfung, ob ein Produkt sicher ist, am Maßstab insbesondere der folgenden Aspekte durchgeführt werden:

  • nicht bindende nationale Normen zur Umsetzung einschlägiger europäischer Normen, die nicht von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Richtlinie 2001/95/EG abgedeckt sind

  • Normen des Mitgliedstaats, in dem das Produkt vermarktet wird

  • Empfehlungen der Kommission zur Festlegung von Leitlinien für die Beurteilung der Produktsicherheit

  • die im betreffenden Bereich geltenden Verhaltenskodizes für die Produktsicherheit

  • der derzeitige Stand des Wissens und der Technik

  • die Sicherheit, die von den Verbrauchern vernünftigerweise erwartet werden kann

In Art. 3 Abs. 4 Richtlinie 2001/95/EG wird klargestellt, dass auch im Falle der Übereinstimmung mit den soeben dargestellten Kriterien aus Art. 3 Abs. 2, 3 Richtlinie 2001/95/EG nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Produkt im Einzelfall sehr wohl gefährlich im Sinne des Art. 2 lit. c) Richtlinie 2001/95/EG ist. Sollte dies der Fall sein, können die Marktüberwachungsbehörden selbstredend mit vertriebsbeschränkenden Maßnahmen auf die Produktgefahren reagieren.

Marktüberwachung

Gegenstand der Richtlinie 2001/95/EG ist auch die Marktüberwachung. Den EU-Mitgliedstaaten wird in Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 2001/95/EG die Aufgabe übertragen, sicherzustellen, »dass die Hersteller und Händler die sich für sie aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen einhalten, so dass die in Verkehr gebrachten Produkte sicher sind«. Damit die Marktüberwachungsbehörden in den EU-Mitgliedstaaten diese Aufgabe wirksam erledigen können, sieht die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie in Art. 8 Abs. 1 Richtlinie 2001/95/EG eine Vielzahl von Befugnissen (zur Anordnung von Marktüberwachungsmaßnahmen) vor, welche den Behörden in den Mitgliedstaaten mindestens zur Verfügung stehen sollen.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 26 – 01.12.2013<<>>

Der Richtliniengeber verlangt für die folgenden (Produkt-)Szenarien jeweils differenzierte Reaktionen der Marktüberwachungsbehörden mittels einer auf das jeweilige Szenario zugeschnittenen Marktüberwachungsmaßnahme:

  • für jedes Produkt (lit. a))

  • für jedes Produkt, das unter bestimmten Bedingungen eine Gefahr darstellen kann (lit. b))

  • für jedes Produkt, das für bestimmte Personen eine Gefahr darstellen kann (lit. c))

  • für jedes möglicherweise gefährliches Produkt (lit. d))

  • für alle gefährlichen Produkte (lit. e))

  • für alle bereits in Verkehr gebrachten gefährlichen Produkte (lit. f))

Zu diesen Marktüberwachungsmaßnahmen rechnen etwa die Anordnung eines Inverkehrbringensverbots, einer Rücknahme, eines Rückrufs oder einer Warnung. Wichtig ist, dass der Rückruf als Ultima Ratio in der allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG ausgestaltet ist: Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass der Rückruf als letztes Mittel eingesetzt wird.

Im Falle ernster Gefahren sollen die Marktüberwachungsbehörden unverzüglich geeignete Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 1 lit. b-f) Richtlinie 2001/95/EG ergreifen, Art. 8 Abs. 3 Richtlinie 2001/95/EG. Nach Art. 2 lit. d) Richtlinie 2001/95/EG ist eine ernste Gefahr »jede ernste Gefahr, die ein rasches Eingreifen der Behörden erfordert, auch wenn sie keine unmittelbare Auswirkung hat«.

Informationsverfahren nach den Artt. 11 f. Richtlinie 2001/95/EG

Abschließend sei noch auf die Informationsverfahren hingewiesen, die in den Artt. 11 f. Richtlinie 2001/95/EG geregelt sind.

Erstens bildet Art. 12 Richtlinie 2001/95/EG die rechtliche Grundlage für das öffentlichkeitswirksame Schnellinformationssystem namens RAPEX (engl. Rapid Exchange of Information System). Voraussetzungen für behördliche RAPEX-Meldungen auf der Grundlage des Art. 12 Richtlinie 2001/95/EG sind

  • das Vorliegen einer ernsten Gefahr und

  • Auswirkungen der Gefahr, die über das Hoheitsgebiet des meldenden Mitgliedstaats hinausgehen.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 27 – 01.12.2013<<>>

Sind die Auswirkungen der Gefahr auf das Hoheitsgebiet des meldenden Mitgliedstaats begrenzt oder können sie nicht darüber hinausgehen, kommt das Meldeverfahren nach Art. 11 Richtlinie 2001/95/EG zur Anwendung, Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 2 Richtlinie 2001/95/EG.

Das Verfahren nach Art. 11 Richtlinie 2001/95/EG kommt darüber hinaus immer dann zur Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreift, »durch die das Inverkehrbringen von Produkten beschränkt oder ihre Rücknahme oder ihr Rückruf angeordnet wird«. In diesem Fall wird die Europäische Kommission über den Vorgang unterrichtet.

Wenn und soweit der meldende Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass die Auswirkungen der Gefährdung auf sein Hoheitsgebiet begrenzt sind, meldet er die Maßnahmen insoweit, »als ihr Informationsgehalt unter dem Aspekt der Produktsicherheit für die Mitgliedstaaten von Interesse ist«. Dieses Interesse kann insbesondere dann unterstellt werden, wenn die betreffende Maßnahme eine Reaktion auf eine neuartige Gefährdung darstellt, auf die noch nicht in anderen Meldungen hingewiesen wurde, Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 2 Richtlinie 2001/95/EG.

3.6.2.9 Ausblick: Vorschlag eines Produktsicherheits- und Marktüberwachungspakets

Das europäische Produktsicherheitsrecht ist derzeit nach wie vor im Wandel: Im Anschluss an den New Legislative Framework kam es nicht nur zum Erlass der »neuen« Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG, sondern sollen auch die R&TTE-Richtlinie 1999/5/EG sowie weitere neun Richtlinien als Bestandteil des Alignment Package an die Anhänge I und II des Beschlusses Nr. 768/2008/EG angepasst werden.

Daneben hat die Europäische Kommission am 13.2.2013 einen Vorschlag für ein »Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket« unterbreitet. Dieses Paket wurde in der 2012 angenommenen Binnenmarktakte II als eine Schlüsselmaßnahme dafür bezeichnet, die Sicherheit der in der EU vertriebenen Produkte durch »höhere Kohärenz und bessere Durchsetzung der Vorschriften zur Produktsicherheit und Marktüberwachung« zu erhöhen.

Im Einzelnen soll das Reformpaket aus den folgenden Bestandteilen bestehen:

  • Vorschlag für eine neue Verordnung über die Sicherheit von Verbraucherprodukten

  • Vorschlag für eine neue Verordnung über die Marktüberwachung von Produkten

  • Mitteilung über sicherere und konforme Produkte für Europa mit einem mehrjährigen Aktionsplan zur Marktüberwachung

     3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 28 – 01.12.2013<<>>
  • Bericht zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 mit einer finanziellen Bewertung

Die beiden Verordnungen sollen nach derzeitiger Planung am 1.1.2015 in Kraft treten.

Verbraucherproduktsicherheitsverordnung

Die »Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates über die Sicherheit von Verbraucherprodukten und zur Aufhebung der Richtlinie 87/357/EWG des Rates und der Richtlinie 2001/95/EG« [COM(2013) 78 final]) kann als Verbraucherproduktsicherheitsverordnung bezeichnet werden.

Diese Verbraucherproduktsicherheitsverordnung soll die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG ersetzen und die aus einem Herstellungsprozess hervorgegangenen Verbraucherprodukte (außer Lebensmitteln) betreffen. Im Wesentlichen zielt die Verordnung darauf ab, dass Verbraucherprodukte sicher sind, die Wirtschaftsakteure bestimmte Pflichten zu erfüllen haben und dass technische Normen im Hinblick auf das allgemeine Sicherheitsgebot ausgearbeitet werden.

»Neue« Marktüberwachungsverordnung

Die »Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Marktüberwachung von Produkten und zur Änderung der Richtlinien (…) und der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates« [COM(2013) 77 final] soll als sozusagen »neue« Marktüberwachungsverordnung eine wirksame Handhabe in Bezug auf jene Unternehmer bieten, »die für einen schnellen Gewinn oder einen Wettbewerbsvorteil es nicht so genau nehmen oder sich bewusst über Regeln hinwegsetzen«. Solche unlauteren Geschäftspraktiken führen zu Nachteilen bei jenen Unternehmern, die sich rechtstreu verhalten, gefährden öffentliche Interessen und die öffentliche Sicherheit, führen zu Risiken für die Umwelt und setzen nicht zuletzt die Bürger Europas potenziell gefährlichen Produkten aus.

Mit Marktüberwachung soll diesem Phänomen Einhalt geboten werden: Sie dient dem Ziel, »unsichere oder auf andere Weise schädliche Produkte zu ermitteln und vom Markt fernzuhalten oder zu nehmen und zum anderen unehrliche oder sogar kriminelle Akteure zu bestrafen«. Zudem soll Marktüberwachung auch eine abschreckende Wirkung entfalten.

Aktionsplan zur Produktüberwachung

Die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über »20 Maßnah- 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 29 – 01.12.2013<<>>men über sicherere und konforme Produkte für Europa: ein mehrjähriger Aktionsplan zur Produktüberwachung in der EU« [COM(2013) 76 final] zielt darauf ab, »bestehende Lücken zu schließen und die Überwachung des Binnenmarkts für Produkte (mit Ausnahme von Lebensmitteln, Futtermitteln und Arzneimitteln) effizienter und praxistauglicher zu gestalten«. Zugleich soll der Plan dafür Sorge tragen, dass die relevanten Bestimmungen aus der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 und der Richtlinie 2001/95/EG ordnungsgemäß umgesetzt werden. Im Ergebnis soll der Aktionsplan sowohl die Verbraucherproduktsicherheitsverordnung und die »neue« Marktüberwachungsverordnung ergänzen.

Bericht über die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 765/2008

Mit dem »Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (…) und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 339/93 des Rates« [COM (2012) 77 final] soll ein Überblick über den Stand der Durchführung der Marktüberwachungsverordnung (VO (EG) Nr. 765/2008) gegeben werden. Er wurde in Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten verfasst.

Literatur

zum europäischen Produktsicherheitsrecht:

Kapoor: Verbraucherschutz in Europa: Das neue europäische Spielzeugrecht – Vorbild für die künftige Regulierung von Verbraucherprodukten?, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2011, S. 784 ff.

Klindt: Die neue EG-Produktsicherheitsrichtlinie 2001/95/EG, Produkthaftpflicht international (PHi) 2002, S. 2 ff.

ders.: Der »new approach« im Produktrecht des europäischen Binnenmarkts: Vermutungswirkung technischer Normung, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2002, S. 133 ff.

Klindt; Schlicht: Internationales, europäisches und nationales Produktsicherheitsrecht, in: Ehlers/Fehling/Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 2012, § 36, Rn. 27 ff.

Klindt; Wende: Behördliche Risikobewertung nach den RAPEX-Leitlinien, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2011, S. 602 ff.

Langner; Klindt: Technische Sicherheitsvorschriften und Normen, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Bd. 1, Losebl., 27. Erg.-Lfg. 2010, C. VI.

 3.6.2 Europäisches Produktsicherheitsrecht – Seite 30 – 01.12.2013<<

zum New Legislative Framework:

Kapoor; Klindt: »New Legislative Framework« im EU-Produktsicherheitsrecht – Neue Marktüberwachung in Europa?, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2008, S. 649 ff.

dies.: Die Reform des Akkreditierungswesens im Europäischen Produktsicherheitsrecht, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2009, S. 134 ff.

zum Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket:

Deutlmoser: Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Extra (NVwZ-Extra) 16/2013, S. 1 ff.

Klindt: Der Kommissionsvorschlag für ein europäisches Marktüberwachungsforum, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 2013, S. 579 ff.

Polly: Vorschlag der Europäischen Kommission für ein »Produktsicherheits- und Marktüberwachungspaket«, Betriebs-Berater (BB) 2013, S. 1164 ff.