DGUV Information 215-450 - Softwareergonomie

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Abschnitt 10.7 - 10.7 Qualitätssicherung

Wie wird sichergestellt, dass Software in barrierefreier Qualität zur Verfügung steht? Die Weichen werden bereits bei der Auswahl der geeigneten technischen Plattform gestellt. Ressourcen wie Best Practices, Tutorials und Prüftools sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Personal für Entwicklung und Qualitätssicherung qualifiziert werden kann.

10.7.1 Technische Formate und Plattformen

Während die Gestaltungsrichtlinien für barrierefreie Software technikübergreifend formuliert werden können, sind die verschiedenen technischen Formate und Plattformen sehr unterschiedlich auf die Barrierefreiheit vorbereitet. Am weitesten entwickelt sind die Voraussetzungen im Internet.

Websites

Informationsangebote im Internet in Text, Bild, Ton und Film können heute unter Anwendung der Gestaltungsrichtlinien von WCAG 2.1 nahezu vollständig barrierefrei gestaltet werden. Die Basis hierfür ist semantisch korrektes HTML, das für assistive Technologien zugänglich ist. Bei der Umsetzung hilft eine Vielzahl von Internetressourcen, u. a. das Portal "Einfach für Alle" der Aktion Mensch, das die im Web verfügbaren Anleitungen, Musterlösungen und Prüftools sammelt. Das verbreitete Framework "Bootstrap" bietet bereits gute barrierefreie Vorlagen. Ein praxistaugliches Verfahren für die Qualitätssicherung steht u.a. mit dem "BITV-Test" zur Verfügung.

Web-Anwendungen

Moderne browserbasierte Software verwendet im User-Interface die Formate HTML5, CSS3, JavaScript und AJAX. Barrierefreiheit wird durch die Anwendung der WCAG sichergestellt, sowie zusätzlich durch Einsatz von WAI-ARIA zur Beschreibung der dynamischen Features für assistive Technologien. Während die statischen Aspekte von Web-Anwendungen mit Websites vergleichbar sind, ist in den dynamischen Aspekten der Stand der Barrierefreiheit heute noch relativ experimentell. Sowohl HTML5 als auch WAI-ARIA sind im Fluss, mit bisher uneinheitlicher Implementierung in Browsern und Screenreadern. Javascript-Frameworks für Anwendungsentwicklungen wie "Angular" und "React" generieren nicht automatisch, wie es wünschenswert wäre, semantisch korrektes HTML. So sind barrierefreie Web-Anwendungen nach wie vor ein Pionierthema. Die Konzepte werden in den Blogs von Accessibility-Experten diskutiert.

Andere technische Plattformen

Außerhalb der Browserwelt basiert die Entwicklung von barrierefreier Software auf den Accessibility-Features des jeweiligen Betriebssystems. Die Betriebssysteme unterstützen die Barrierefreiheit im Prinzip auf ähnliche Weise. Sie stellen barrierefreie Standardroutinen für Bedienoberflächen zur Verfügung. Darüber hinaus bieten sie eine Accessibility-Schnittstelle an, der die speziellen Bedienelemente von Anwendungssoftware gemeldet werden können, um sie für assistive Technologien verfügbar zu machen.

Die Bedienung der Accessibility-Schnittstelle des Betriebssystems ist Sache der jeweiligen Programmiersprache. Konkrete technische Hinweise sollten in den Handbüchern zu den Programmiersprachen zu finden sein. Es gibt jedoch kaum produktspezifische Ratgeberliteratur oder Fachforen. Relativ gut unterstützt ist die Barrierefreiheit z. B. bei Microsoft® .net® und bei SAP®. Die Hersteller assistiver Technologien haben sich in der Vergangenheit auf Microsoft Windows® konzentriert und liefern Skripte vorzugsweise für Standardsoftware in diesem Betriebssystem.

Einen eigenen Weg geht der Hersteller Apple® mit seinen Betriebssystemen Mac-OS® für Personalcomputer und iOS® für mobile Geräte. Diese haben den Screenreader mit Sprachausgabe bereits integriert. Es werden ausführliche Empfehlungen für die Entwicklung barrierefreier Smartphone-Apps in iOS® zur Verfügung gestellt.

Als Testverfahren steht das "BIT inklusiv Prüfverfahren" für Anwendungssoftware zur Verfügung. Das Verfahren wurde in der ersten Ausbaustufe 2017 zunächst für kompilierte Anwendungssoftware unter MS Windows® fertig gestellt. Mit kleinen Anpassungen kann es auch auf andere Plattformen, u.a. für mobile Anwendungen, eingesetzt werden.

10.7.2 Qualifikation

Barrierefreie Gestaltung gehört bisher nicht zu den regulären Ausbildungsgängen der IT- und Designberufe und wird an den Hochschulen nur sporadisch gelehrt. Entsprechend unsicher ist die Qualität von Dienstleistungsangeboten zur Barrierefreiheit. Im Bereich des BITV-Tests gibt es ein Verzeichnis der Agenturen, die bereits Internetauftritte erstellt haben, die als gut zugänglich bewertet wurden. Der internationale Berufsverband der Accessibility-Experten IAAP bietet Zertifizierungslehrgänge an.

10.7.3 Entwicklungsprozess

Barrierefreiheit ist so grundlegend, dass sie in einer Software zumeist nicht oder nur mit großem Aufwand nachgerüstet werden kann. Ein gutes Ergebnis kann nur erwartet werden, wenn bereits in der Konzeptionsphase die Anforderungen von Menschen mit Behinderungen berücksichtigt wurden.

Design-Prozess

Für die Entwicklung barrierefreier Software empfiehlt sich besonders das Vorgehen nach dem Human Centered Design Prozess, ergänzt um die Zielgruppe der Menschen mit Behinderungen:

  • Usability-Empfehlungen werden um die Anforderungen der Barrierefreiheit erweitert.

  • Arbeitsabläufe berücksichtigen auch den Gebrauch von assistiven Technologien, z. B. Vergrößerungssoftware und Screenreader.

  • Verschiedene Nutzungsstrategien werden berücksichtigt, z. B. ausschließliche Tastaturbedienung.

  • Usability-Tests werden auch mit Menschen mit Behinderungen durchgeführt.

Entwicklungsbegleitende Tests

Zur Erfolgskontrolle während der Entwicklung bietet sich der Test von Mustervorlagen und Teilprodukten an. Für Webseiten steht eine Vielfalt von Prüftools zur Verfügung (siehe auch Anhang 4). Web-Anwendungen sollten darüber hinaus mit assistiven Technologien getestet werden.

Der Accessibility-Test von Desktop-Software besteht im Wesentlichen in der Bedienung der Software mit der Tastatur, mit den Accessibility-Optionen des Betriebssystems und mit assistiven Technologien. Für die Fehleranalyse gibt es Tools zur Abbildung der Accessibility-Schnittstelle.

ccc_3498_as_41.jpgEmpfehlenswerte Prüftools
für den Test von Internetseiten

für den Test von PDF-Dokumenten

für den Test von Software unter MS Windows®

10.7.4 Zertifizierung

Prüfsiegel sind bisher ausschließlich für barrierefreie Websites etabliert. Auf nationaler Ebene sind u. a. der deutsche BITV-Test und das schweizerische Zertifikat der Stiftung "Zugang für alle" zu nennen.

Der BITV-Test ist ein Prüfverfahren für Websites zur Feststellung der Konformität mit der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV). Das Verfahren besteht seit 2002 und wurde im Auftrag der Bundesregierung vom BIK-Projekt entwickelt, einem Konsortium der deutschen Blindenverbände mit einem privaten Testinstitut. Die Prüfschritte verwenden frei verfügbare Prüftools und sind vollständig dokumentiert. Der BITV-Test ist für entwicklungsbegleitende Tests frei verfügbar. Das Prüfsiegel "BIK WCAG-konform" sagt aus, dass alle Anforderungen gut oder sehr gut erfüllt wurden. Es wird von lizensierten Testinstituten erteilt, die im BITV-Testkreis zusammengeschlossen sind.

Eine internationale Harmonisierung von Zertifikaten wird durch Richtlinien zum Aufbau von Testverfahren eingeleitet. Vom W3C wurden entsprechende Empfehlungen unter dem Titel "Website Accessibility Conformance Evaluation Methodology (WCAG-EM)" veröffentlicht. Eine Harmonisierung der Testverfahren in Europa wird im Rahmen der EU-Richtlinie 2016/2102 über die Barrierefreiheit von Internetangeboten öffentlicher Stellen erwartet.