DGUV Information 207-025 - Prävention von Gewalt und Aggression gegen Beschäftigte im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege Eine Handlungshilfe für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen

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Abschnitt 4.5 - 4.5 Flucht und Abwehrtechniken

Deeskalation in der Akutsituation

Diese Grundregeln allein reichen in einer Risikosituation nicht aus. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollten weitere Maßnahmen kennen und anwenden, um die Situation möglichst ohne psychische und körperliche Schäden zu bewältigen. Dazu ist zunächst eine Einschätzung von Gefahrenabwehr und Sicherheit in der gesamten Situation wichtig. Hier geht es in erster Linie um die Frage, ob und inwieweit die aggressive Person überhaupt auf Deeskalation reagieren kann und wird. Welche weiteren sicherheitsrelevanten Aspekte charakterisieren die Situation? Befinden sich gefährliche Gegenstände in Reichweite der aggressiven Person? Gibt es Fluchtmöglichkeiten? Ist Hilfe in der Nähe?

Dann geht es um eine Kontaktaufnahme und Herstellung einer Arbeitsbeziehung zur aggressiven Person, etwa durch aktives Zuhören und wertschätzende Kommunikation. In Eskalationssituationen ist davon auszugehen, dass die aggressive Person ein substanzielles Problem hat. Es muss identifiziert und - wenn möglich - bearbeitet werden. Vor allem ist auf den Umgang mit Gefühlen und Emotionen der aggressiven Person zu achten. Nach Möglichkeit sollten Optionen und Alternativen aufgezeigt und vereinbart werden.

Körperliche Abwehr

Körperliche Abwehrtechniken sind das letzte Mittel zur Verteidigung in Fällen, in denen Deeskalationsinterventionen nicht oder nicht mehr mit einer Erfolgsaussicht angewendet werden können und eine Flucht nicht möglich ist. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dürfen Abwehrtechniken zum Selbstschutz sowie zum Schutz weiterer gefährdeter Personen anwenden.

Entscheidendes Merkmal der im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege eingesetzten Techniken ist, dass sie schonend eingesetzt werden und keine Verletzungen oder Schmerzen für die betreuten Personen zur Folge haben. Diese Techniken sollen zudem beziehungserhaltend sein, denn die Betroffenen sollen mit den Klienten und Klientinnen möglichst weiter zusammenarbeiten können. Es ist das mildeste geeignete Mittel zu wählen, aber eine Eigengefährdung, um Angreiferin oder Angreifer zu schonen, kann nicht verlangt werden.

Die erfolgreiche Anwendung von Abwehrtechniken setzt voraus, dass diese systematisch erlernt und regelmäßig eingeübt werden. Ihre ungeübte Anwendung kann sowohl für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für Betreute gefährlich sein.

Funktionale Kleidung tragen

Auch die richtige Kleidung kann zum persönlichen Schutz beitragen. Häufig ist eine rechtzeitige Flucht besser als eine Konfrontation: Geschlossene Schuhe mit rutschfesten Sohlen werden daher von Unfallversicherungen angeraten. Wer sicher steht, kann leichter Befreiungstechniken anwenden, um sich aus einer Umklammerung zu lösen. Schmuck wie Halsketten und Ohrringe oder Piercings, Ringe und Armbanduhren ebenso wie lange Fingernägel bergen Verletzungsgefahren. Mit einem Schal oder Halstuch kann eine Person festgehalten oder gewürgt werden. Zu Dienstbeginn sollten daher Schals, Schmuck und Uhren abgelegt werden. Für Brillen empfehlen sich nach Möglichkeit Kunststoffgläser.

Verhalten bei Gefahr im Verzug

Bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung, das heißt, wenn alle anderen Deeskalationsstrategien versagt haben, ist in Ausnahmefällen und unter bestimmten Voraussetzungen eine vorübergehende Einschränkung der Freiheit der Person zulässig:

  • rechtlich wirksame Einwilligung der Person,

  • rechtfertigender Notstand gem. § 34 StGB oder

  • richterlicher Beschluss, ggf. nachträglich eingeholt.

Zu diesen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zählen Festhaltetechniken, Zwangsmedikation, Isolierungen sowie Fixierungen (ggf. mit unmittelbar nachfolgender Eins-zu-eins-Betreuung).

Eine Maßnahme ist dann nicht mehr vorübergehend, wenn sie etwa die Dauer von 30 Minuten überschreitet oder wiederkehrend ist.

Bei vorübergehenden Freiheitseinschränkungen handelt es sich um sehr weitreichende Eingriffe in persönliche Rechte. Um zivil- und sogar strafrechtliche Folgen zu vermeiden, muss die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme - was das ausgewählte Mittel sowie die Härte und Dauer ihrer Anwendung betrifft - gewahrt sein.

Eine sorgfältige Dokumentation und eine nachträgliche Aufklärung der betroffenen Person über ihre Rechte ist erforderlich.

Auch hier gilt: Eine systematische Vorbereitung auf derartige Fallkonstellationen und das Training von Festhalte-, Abwehr- und Fixierungstechniken ist notwendig. Für den Notfall sind klare Zuständigkeiten und Handlungsanleitungen festzulegen.

Sicherheitsdienste und Polizei

Der Einsatz von internem oder externem Sicherheitspersonal im Gesundheitswesen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Sicherheitsdienste können das Personal in bestimmten Bereichen unterstützen und entlasten. Unter Umständen trägt schon die Anwesenheit von Sicherheitspersonal zur Beruhigung drohender Eskalationen bei.

Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen vergleichsweise hohe Ansprüche an die Qualifikation und Eignung des Sicherheitspersonals gestellt werden. So kann auch die Schulung eigener Sicherheitskräfte eine Alternative zu externen Sicherheitsdiensten sein.

Doch sollte der Einsatz von Sicherheitsdiensten nur eine Maßnahme von vielen in Ihrem Präventionskonzept sein. Prüfen Sie auch unter therapeutischen Aspekten, ob er in Ihrer Einrichtung sinnvoll ist. Die Anwesenheit von Sicherheitspersonen wiederum verändert das Milieu erheblich und trägt dennoch nicht immer zur Deeskalation bei. Eine gute Abstimmung zwischen Ihrem Personal und den Sicherheitsdiensten ist wichtig.

Auch durch Absprachen mit der örtlichen Polizei können Sie Ihrem Team den Rücken stärken. Sprechen Sie mit der Polizei über Ihr Klientel, Ihren Arbeitsauftrag und Ihre Einrichtung und erläutern Sie den möglichen Unterstützungsbedarf. Legen Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern fest, in welchen Fällen die Polizei hinzugezogen werden soll.