Fachbeitrag  Arbeitssicherheit  

»Eine Hand wäscht die andere«

Zwischen zehn und 40 Milliarden Euro hätte es Deutschland gekostet, wenn 15 bis 50 Prozent der mehr als 82 Millionen Bundesbürger an Schweinegrippe erkrankt wären. Zu diesem Ergebnis kam das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RIW) in seinem im Oktober 2009 vorgestellten Bericht »Leben mit der Pandemie«. Ein Schaden, den manches Unternehmen nur schwer verkraftet hätte. Doch der befürchtete Erkrankungs-Tsunami blieb mit mehr als 215 000 Infizierten und 159 Schweinegrippe-Toten, so die Statistik des Robert-Koch-Instituts (RKI), in Deutschland jedoch aus.

Vielfältige Gefahren für die Immunabwehr

Aber im medialen Schatten des H1N1-Virus lauern, besonders angesichts winterlicher Minustemperaturen, viele weitere und nicht weniger gefährliche Attacken auf das menschliche Immunsystem. Zum Beispiel durch grippale Infekte: Jedes Jahr sterben bis zu 20.000 Bundesdeutsche an den Folgen einer saisonalen Wintergrippe. Deren Höhepunkt steht noch aus. Denn die eigentliche Grippezeit beginnt meist Ende Januar/Anfang Februar und dauert bis in den April hinein, so das RKI. Eine neue Erkrankungswelle könnte also auf die Unternehmen zurollen. Zwischen einem und 26 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter erkranken pro Jahr an Grippe. Je nach Impfverhalten und Verlauf melden sich die Betroffenen deswegen bis zu fünf Tage krank.

Um hohe Ausfälle zu vermeiden, könnten für viele Firmen die Erfahrungen im Umgang mit der Schweinegrippe von Vorteil sein. »Die Unternehmen können ihre gegen die Pandemie bereits getroffenen Vorkehrungen auch zur Prävention anderer infektiösen Erkrankungen einsetzen und beibehalten«, meint Arbeitsmediziner Dr. Andreas Tautz, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin (DGAUM). Doch während fast alle im Dax vertretenen Konzerne sich systematisch mit den Risiken einer Pandemie auseinandergesetzt und Krisenstäbe eingerichtet haben, müssen die meisten mittelständischen und kleinen Firmen noch nachrüsten. Einer Forsa-Umfrage zur Folge hat sich fast die Hälfte der 100 befragten Unternehmen nicht für eine Pandemie gerüstet.

Klare Regelungen fehlen

»Für den genauen Umgang mit Schweinegrippe, saisonaler Influenza oder anderen Infektionskrankheiten gibt es eben keine konkreten Regelungen und Handlungsanleitungen. Sie existieren nur für solche Arbeitsplätze, an denen Beschäftigte potentiell mit Erregern in Kontakt kommen können wie Kliniken, Labore oder Arztpraxen«, erklärt Andreas Tautz die Gründe. »Eine vertane Chance. Denn wir haben in Deutschland etwa 39 Millionen Erwerbstätige. Damit ist der Arbeitsplatz mit Abstand der größte Präventionsbereich, in Deutschland. Er birgt riesige Chancen, auf allgemeine Gesundheitsrisiken oder Zivilisationserkrankungen einzuwirken, die auch die Unternehmen vor große Herausforderungen stellen, da sie die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten erheblich beeinflussen können.«

Bislang setze man bei Krankheitsrisiken jedoch vor allem auf die Eigenverantwortung des Arbeitnehmers. Man gehe davon aus, dass dieser verantwortungsvoll mit einer potentiellen Erkrankung umgehe. Das liegt, so Tautz, an dem tradierten System, bei dem ein Großteil der Regeln für den Arbeitsschutz über die Berufsgenossenschaften, also dem Unfallversicherungsträger, erlassen wird. Ihnen gehe es naturgemäß darum, Risiken zu limitieren, für die die Versicherung zahlen müsse.

Schwerpunkt auf Erhalt von Beschäftigungsfähigkeit

»Doch die Unternehmen brauchen die Ressource Mitarbeiter. Um seine Produktivität zu erhalten, müssen sie ihn fördern und haben ihm gegenüber eine unternehmerische Fürsorgepflicht. Im Gegenzug sind die Mitarbeiter gesund und motiviert, eine Win-Win-Situation.« Der Arbeitgeber trage die Verantwortung dafür, seine Angestellten keinen Gefahren auszusetzen. »In vielen anderen Bereichen muss der Arbeitgeber eine Gefährdungsanalyse vornehmen, wenn es zum Beispiel um Lärm geht, die Büroausstattung oder das Heben von schweren Lasten, natürlich auch, um Schadenersatzforderungen vom Arbeitgeber fernzuhalten. Einen wirklich übergreifenden Ansatz zu Prävention allgemeiner Krankheitsrisiken dagegen gibt es leider - noch - nicht«, resümiert Tautz. Es gehe darum, die Arbeits- und Gesundheitsschutzaktivitäten auf das Thema »Erhalt von Beschäftigungsfähigkeit« auszurichten.

Das werfe die Frage auf, wo Gesundheitsschutz überhaupt anfängt. »Wer als Angestellter nicht genug Wertschätzung erfährt, hat zum Beispiel ein erhöhtes Herzinfarktrisiko und einen größeren Hang zu Depressionen«, weiß der Arbeitsmediziner. »Gesundheitsschutz ist auch eine Frage der Umgangskultur am Arbeitsplatz. Unternehmen müssen frühzeitig erkennen, was ihre Mitarbeiter krank macht und wie sie gesund bleiben.« Die Pandemievorbereitungen seien eine Chance, generell darüber nachzudenken, wie Mitarbeiter möglichst gesund bleiben. Das setze schon sehr früh an, zum Beispiel bei der Ernährung, Bewegung, dem Umgang mit Stress und der Förderung einer wertschätzenden Umgangskultur. Die Maßnahmen im Rahmen der Schweinegrippe können helfen, den Arbeits- und Gesundheitsschutz in Unternehmen dauerhaft zu intensivieren.

Deutsche Telekom: Neue Grippe als Chance

Das sieht auch die Deutsche Telekom so. Sie hat weltweit rund 260.000 Mitarbeiter, mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet in Deutschland. »Die Pandemie ist eine Chance, das Bewusstsein für potentielle Erkrankungen zu schärfen und die Vorsorgemaßnahmen in den Unternehmen zu optimieren«, sagt Dieter Zeller, Leiter des Sicherheitsprojektes in der Group Business Security der Deutschen Telekom und seit April 2009 Projektleiter des Krisenstabs Pandemie. »Es geht schließlich darum Mitarbeiter und Kunden zu schützen. Und natürlich spielen auch betriebswirtschaftliche Aspekte wie die Verringerung des Krankenstands eine Rolle.« Außerdem sei das Unternehmen als Teil der kritischen Infrastruktur gesetzlich verpflichtet, in den Gesundheitsschutz zu investieren, um den Telekommunikationsbetrieb zu gewährleisten. »Einen Software-Download braucht keiner in einer echten Krisensituation, aber Handys müssen funktionieren, um zum Beispiel einen ärztlichen Notdienst zu erreichen.« Je mehr Menschen in Schlüsselpositionen ausfielen, desto schwieriger sei es natürlich, dies zu gewährleisten.

Frühzeitig und vielfältig ist die Telekom daher gegen die Ausbreitung des H1N1-Virus vorgegangen. Über eine Hotline konnten sich die Angestellten informieren und erhielten Antworten auf ihre Fragen rund um Vorbeugung, Impfung und Ansteckung. Zeller: »Nur gut informierte Mitarbeiter fühlen sich ernst genommen und sicher, daher haben wir unter anderem ein Drittel unserer 11.000 betrieblichen Ersthelfer zu Pandemiehelfern weitergebildet, die zum Beispiel den richtigen Umgang mit chirurgischen Handschuhen erklärt haben.« Die Servicetechniker, die vor Ort beim Kunden sind, wurden mit Carepaketen mit Desinfektionstüchern und Handschuhen ausgestattet. Aufkleber auf Spiegeln in den Toilettenräumen erläutern, wie man sich richtig die Hände wäscht und vor den Kantinen steht Händedesinfektionsmittel. »Einfache Maßnahmen, mit denen auch saisonale Erkrankungen wie Grippe gut zurückgedrängt werden können«, sagt Zeller. »Dazu gehört auch, in die Armbeuge und nicht in die Hand hinein zu husten.«

Gesundheitsschutz fängt früh an

Die konkreten, langfristigen Effekte dieser Vorkehrungen sind noch nicht absehbar. »Zumindest hat sich der Krankenstand, trotz Schweinegrippe, nicht erhöht, sondern ist gegenüber den Vorjahren gleich geblieben« meint Zeller. »Doch vielleicht liegt es auch daran, dass wir schon seit längerem das Bewusstsein unserer Mitarbeiter für infektiöse Erkrankungen schärfen, zum Beispiel durch Grippeschutzimpfungen und ein umfassendes Gesundheitsmanagement.«

Auch sonst hat der Gesundheitsschutz bei der Telekom einen großen Stellenwert. Denn ausgeglichene Menschen sind weniger anfälliger für Erkrankungen. Daher bietet das Unternehmen Daher bietet das Unternehmen seinen Mitarbeitern zahlreiche Angebote wie Darmkrebsvorsorge, Rauchentwöhnung oder eine gezielte Vorbereitung auf den Ruhestand. Zudem gibt es ein Beratungsangebot bei psychischen Belastungen wie Burn-out, Depressionen, Sucht, beruflichen oder privaten Problemen. Neben örtlichen Gesundheitstagen oder speziellen Schulungen für Führungskräfte bietet das Unternehmen zudem eine Sofortberatung in eskalierten Lebenssituationen oder stellt eine Anlaufstelle in Notfällen bereit.

Intensiver Austausch statt starrer Regelungen

»Wir möchten, dass die Erfahrungen, die wir aus der Pandemie gewonnen haben, nicht verloren gehen«, so Zeller. »Daher tauschen wir uns auch Ende Januar in Stuttgart mit anderen Firmen, darunter E.ON und Adidas, über deren Erfahrungen aus.« Eine solche intensivere Kommunikation wünscht sich Dieter Zeller auch mit den politischen Institutionen. »Ich glaube nicht, dass es Regelungen für allgemeine Krankheitsrisiken geben sollte, die alles bis ins kleinste Detail festlegen. Ich wünschte mir aber Unterstützung von der Regierung, um Prozesse zu vereinfachen«, so Zeller. »Föderalismus ist wichtig, aber hier hilft er uns nicht weiter, wenn wir zum Beispiel mit 16 verschiedenen Gesundheitsministerien über die Zuteilung des Grippeimpfstoffs reden müssen.« Im medizinischen Pandemiesektor gebe es noch einigen Nachholbedarf. »Ich würde mir wünschen, dass wir uns mit den für Telekommunikation zuständigen Behörden, dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik, dem Wirtschafts- und Innenministerium dazu an einen Tisch setzen könnten. Wir brauche den Austausch zwischen Wirtschaft und Politik nicht nur bei der Vorratsdatenspeicherung, sondern auch im Krisenmanagement für pandemische Situationen.«

Um den Arbeitsplatz als gesellschaftlichen Präventionsbereich optimal zu nutzen, ist für den Arbeitsmediziner Andreas Tautz ein Zusammenspiel der wesentlichen Institutionen nötig - allen voran die Bundesministerien für Gesundheit sowie Arbeit und Soziales. Bei letzterem ist der Arbeits- und Gesundheitsschutz angesiedelt. Auch eine optimierte Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen und Unfallversicherungen sowie eine bessere Ausrichtung ihrer Produkte und Angebote auf die Unternehmen und deren Beschäftigten sei wichtig.

»Vor allem sind aber auch die Unternehmen in der Pflicht, auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu achten und ein grundsätzliches Gesundheitsmanagement zu betreiben«, so Dieter Zeller von der Deutschen Telekom. »Denn schließlich wäscht eine Hand die andere und davon profitieren dann alle.«

Sabine Wygas

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