Fachbeitrag  Arbeitssicherheit, Recht und Urteile  

BAG: Arbeitszeiterfassung ist Teil des Arbeitsschutzrechts

BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung
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Ein »Paukenschlag im Arbeitsschutzrecht« beziehungsweise eine »Ohrfeige für die amtierende Bundesregierung« so und ähnlich lauteten die Kommentare namhafter Experten zur Arbeitszeit-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.09.2022 (1 ABR 22/21), die bis dato aber nur als Pressemitteilung vorlag. Die im Kern von einer betriebsverfassungsrechtlich motivierten Streitigkeit ausgehende Entscheidung liegt nun im Volltext vor. Hier die wesentlichen Elemente der BAG-Rechtsprechung. 

Ursprünge im EU-Recht 

Nach Art. 3 und 5 der EU-Arbeitszeit-RL 2003/88/EG müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit jedem Arbeitnehmer innerhalb eines 24 Stunden-Zeitraums hinreichende Ruhezeiten eingeräumt und eine Obergrenze von 48 Arbeitsstunden im Wochendurchschnitt eingehalten werden kann.  

Damit wird dem bereits in Art. 31 der Grundrechte-Charta der EU verbrieften Recht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit Genüge getan. Damit die vorstehend genannten Normen in der Praxis die volle Wirksamkeit entfalten können, gehört nach der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu den erforderlichen Maßnahmen auch die Verpflichtung der Arbeitgeber, zum Schutz der Beschäftigten ein System einzuführen, mit dem die von den Mitarbeitern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. 

Transfer in die nationale Rechtsordnung 

Die naheliegende Überlegung, eine solche Erfassungs- und Dokumentationspflicht aus der Regelung des § 16 Abs. 2 Satz 1 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) herzuleiten, weist das Bundesarbeitsgericht zurück.  

Diese Regelung, so das BAG weiter, behandelt nur die Erfassung von Überstunden. Eine vom Gesetzgeber verursachte oder bewusst herbei geführte Regelungslücke liegt nicht vor.  

Die Pflicht der Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten (also nicht nur die Überstunden gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG) im Betrieb erfasst werden, folgt jedoch, so der Kernsatz der BAG-Entscheidung, aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). 

Ausschlaggebend für ein solches Verständnis des ArbSchG ist der gesetzgeberische Wille (BT-Drs. 13/3540, S. 16), die Arbeitgeber auf die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Belegschaften erforderlichen Maßnahmen zu verpflichten. Unter Einbeziehung der EuGH-Rechtsprechung vom 14.05.2019 (-C 55/18-) gehört dazu, so das BAG weiter, auch die Verpflichtung eines Arbeitgebers zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems für die Erfassung sämtlicher Arbeitszeiten. 

Unter Beachtung der vom EuGH betonten generalisierten Organisationspflicht des Arbeitgebers beim Arbeitsschutz, sieht das BAG diese Pflicht auch nicht durch die insofern nur auf Überstunden abstellende Regelung des ArbZG begrenzt oder gar abschließend geregelt. Das ArbZG stellt gegenüber dem ArbSchG keine abschließende oder gar ausschließliche Regelung dar. 

Folgerungen für die betriebliche Praxis 

In einer für oberste Bundesgerichte eher ungewöhnlichen Art und Weise gibt das BAG mit deutlicher Kritik an der bisherigen Säumnis der Bundesregierung, Hinweise dazu, wie die betriebliche Praxis nunmehr mit dem Votum aus Erfurt umzugehen habe. 

Solange und soweit der Gesetzgeber den ihm zustehenden Spielraum bei der Ausgestaltung der EU-rechtlichen Arbeitszeiterfassungspflicht nicht ausgeübt hat, können die Betriebsparteien und, im Falle ihrer fehlenden Einigung, die Einigungsstelle nach Maßgabe des § 87 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) entsprechende Regelungen treffen.  

Dabei besteht, und insofern kehrt das Urteil zum Schluss dann doch noch zu seinem betriebsverfassungsrechtlichen Ausgangspunkt zurück, kein Anspruch des Betriebsrates auf eine elektronische Zeiterfassung. Auch ein eigenes Initiativrecht des Betriebsrates, eine derartige Form der Zeiterfassung zu fordern, scheidet aus. 

Fazit

Die Hoffnung der Kläger im BAG-Verfahren, die Gestaltungsmacht des eigenen Betriebsrates in die Schranken weisen zu können, hat sich in einen »Pyrrhussieg« für die gesamte deutsche Arbeitgeberschaft umgekehrt.  

Jeder Beschäftigte in Deutschland hat seit Mitte September höchstgerichtlich verbrieft, ein originär eigenes Arbeitsschutzrecht auf umfassende Dokumentation seiner Arbeitszeit, losgelöst von etwaigen Beteiligungsrechten eines Betriebsrates, sofern es diesen im Betrieb überhaupt gibt. 

Die Bundesregierung, die nicht nur beim Arbeitszeitrecht der EU, sondern auch beim EU-basierten Baustellen- und beim Gefahrstoffrecht bereits seit geraumer Zeit noch Schulaufgaben zu erledigen hat, bleibt unverändert aufgefordert, hier sehr bald für Rechtsklarheit zu sorgen, bevor die EU-Kommission die bereits angedrohten Vertragsverletzungsverfahren weiterführt. 

Quelle/Text: Dr. jur. Kurt Kreizberg

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Über den Autor

Dr. jur. Kurt Kreizberg
Rechtsanwalt in Solingen
seit 2013: Lehrbeauftragter für Arbeits- und Sozialrecht an der FOM Essen
seit 2016: Autor des Loseblatt-Kommentars (Carl Heymanns Verlag)
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