DGUV Information 215-450 - Softwareergonomie

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Abschnitt 10.3 - 10.3 Behinderungen

Wie soll eine Software für alle nutzbar gemacht werden? Schließen sich die verschiedenen Bedürfnisse nicht gegenseitig aus? Zur Beantwortung der Fragen sollten die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten des Wahrnehmens, Verstehens und Handhabens als Kontinuum von stark bis zu schwach betrachtet und diese in möglichst großer Bandbreite unterstützt werden. Hierzu gehören auch technische Hilfen, die den Verlust einer Fähigkeit ausgleichen.

Sehen

Menschen nehmen Information bevorzugt visuell auf. Bilder sind in mancher Hinsicht aussagefähiger als Sprache. In der Datenverarbeitung wird diese Fähigkeit genutzt, indem Informationen durch flächige Anordnung, Farben und Icons grafisch aufbereitet werden und hierdurch Bedeutungszusammenhänge sichtbar sind.

Sehbehinderungen sind Einschränkungen des Sehvermögens, die nicht durch eine Sehhilfe ausgeglichen werden können.

  • Eine verminderte Sehschärfe kann oft durch die Vergrößerung der Zeichen ausgeglichen werden. Individuelle Anforderungen reichen von einem geringen Zoomfaktor, der die Übersichtlichkeit nur wenig beeinträchtigt, bis hin zu bildschirmgroßen Zeichen.

  • Unterschiede in der Lichtempfindlichkeit äußern sich in verschiedenen Anforderungen an Helligkeit und Kontrast. Es gibt beide Ausprägungen: Ältere Menschen brauchen zumeist eine höhere Helligkeit bzw. einen starken Kontrast. Bei manchen Augenkrankheiten ist zu viel Licht störend, dann werden schwache Kontraste oder eine Negativdarstellung (helle Zeichen auf dunklem Hintergrund) bevorzugt.

  • Die Farbwahrnehmung ist bei manchen Menschen durch genetische Disposition eingeschränkt. Verbreitet ist die Rot-Grün-Farbfehlsichtigkeit, von der überwiegend Männer betroffen sind (ca. 6 bis 8 % in Deutschland).

Sehbehinderungen sind so vielfältig, dass es keine konkrete Gestaltung gibt, die für alle passt. Die Richtlinien (siehe Kapitel 5, 10.1 und 10.5) verlangen vor allem die individuelle Einstellung von Schriftgrößen und -farben sowie einen Mindestkontrast. Bedeutungsunterschiede sollen nicht durch Farbe allein, sondern z. B. auch durch verschiedene Symbole dargestellt werden (siehe Kapitel 8 "Informationsgestaltung").

Blindheit

Fällt der Sehsinn aus, finden sich andere Wege, um Informationen aufzunehmen und Zusammenhänge zu verstehen. Bei Blindheit spielt die akustische Vermittlung bzw. die gesprochene Sprache eine besondere Rolle. Zur Nutzung eines Computers sind Blinde auf spezielle Hilfstechniken angewiesen.

  • Information muss als Text kodiert sein, damit sie von der Hilfstechnik vorgelesen werden kann.

  • Bilder und Grafiken müssen beschriftet und sprachlich erläutert werden.

  • Grafisch übermittelte Bedeutungszusammenhänge müssen auch sprachlich oder durch semantische Strukturen (siehe Kapitel 10.5) dargestellt werden.

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Abb. 62
Film mit Untertiteln und Gebärdensprache

Der Aufwand für die textuelle Aufbereitung grafischer Information zahlt sich vielfältig aus, speziell im Internet, wo dieselben Maßnahmen u. a. zur Aufbereitung für Suchmaschinen dienen.

Hören

Einschränkungen des Hörvermögens spielen in der Datenverarbeitung nur eine begrenzte Rolle, gewinnen aber durch die Verbreitung von Multimedia-Angeboten an Bedeutung.

  • Signale sollen nicht nur akustisch, sondern auch optisch übermittelt werden.

  • Gesprochene Sprache muss in Schrift umgesetzt werden.

Die textliche Aufbereitung (z. B. Audiodeskription) von Videos und Sprachdokumenten trägt, ähnlich wie die Maßnahmen für Blinde, zu einer Aufwertung des Informationsangebots bei.

Untertitel in Filmen sind gut für Gehörlose, dienen aber auch zum Auffinden durch Suchmaschinen, helfen beim Erlernen einer Fremdsprache und sind in lauten Umgebungen (z. B. Bahnhöfen) nützlich.

Gehörlosigkeit

Menschen, die von Geburt an gehörlos sind oder in der frühen Kindheit das Gehör verloren haben, können in der Regel die Lautsprache nicht erlernen. Das führt häufig auch dazu, dass die Schriftsprache nur sehr aufwendig erlernt werden kann. Für ein genaues Verständnis komplexer sprachlicher Inhalte ist deshalb die Gebärdensprache zu bevorzugen (siehe Abbildung 62). Videoaufnahmen von Gebärdensprache können eingesetzt werden, um Software zu erläutern und Informationsangebote zu übersetzen.

ccc_3498_as_41.jpgVideos
...in Gebärdensprache sind ein spezielles Angebot für gehörlose Menschen und müssen nicht generell, sondern nur aufgrund einer Bedarfsanalyse eingesetzt werden. Verpflichtet sind z. B. öffentliche Stellen nach § 4 BITV. Sie müssen auf der Startseite ihres Internetangebots Videos in Gebärdensprache bereitstellen, die Informationen zum Inhalt, Hinweise zur Navigation, zur Barrierefreiheit und zu weiteren Informationen in Gebärdensprache enthalten.

Verstehen - Kognitive Beeinträchtigung

Das Verstehen von Inhalten, Strukturen und Funktionen von Software ist eine kognitive Leistung, die jeden Menschen je nach den spezifischen Umständen herausfordern kann. Unerfahrene Benutzerinnen oder Benutzer erkennen z. B. ungewohnte Bedienelemente nicht. Bei Zeitmangel, Stress oder Ablenkung können unter Umständen komplexe Strukturen nicht erfasst werden. Menschen mit geringem Bildungsstand, fremder Muttersprache oder geringer Fachkenntnis verstehen ggf. sprachlich komplex dargestellte Inhalte nicht.

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben es in der Regel schwerer, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Sie profitieren besonders von den Regeln der allgemeinen Softwareergonomie, wie übersichtliche Navigation und konsistente Gestaltung, die in die Gestaltungsregeln für barrierefreie Webinhalte aufgenommen wurden. Eine geeignete Informationsaufbereitung und die Vermeidung von Ablenkungen können die Nutzbarkeit von Software und Internet auch für diese Zielgruppe erweitern.

Einfache Sprache unterstützt viele Zielgruppen.

Eine einfache Sprache fördert die Verständlichkeit von Inhalten. Wichtige Regeln sind einfache Sätze, die Vermeidung von Fremdwörtern und die Erläuterung notwendiger Fachbegriffe. Einfache Sprache entspricht laut WCAG dem Niveau der Sekundarstufe I (mittlere Schulbildung, 9./10. Klasse). Auch vertiefende Fachinformationen sollen eine Einführung auf einfacherem Sprachniveau haben und damit für eine größere Zielgruppe leichter zugänglich sein.

Leichte Sprache richtet sich vorrangig an Menschen mit einer Lernbehinderung.

Leichte Sprache richtet sich an Menschen, deren Sprachverständnis in etwa dem Grundschulniveau entspricht. Eine stark vereinfachte Grammatik, konkrete Begriffe und die Reduzierung der Inhalte auf das Wesentliche machen Informationen für diese Zielgruppe zugänglich. Übersetzungen in leichte Sprache fertigen spezielle Dienstleister an, u. a. das "Netzwerk Leichte Sprache". Ebenso wie Gebärdensprache gilt leichte Sprache als behinderungsspezifisches Angebot, zu dem nur Behörden verpflichtet sind.

Die optische Aufbereitung von Informationen, z. B. leicht lesbare Schrift, aussagekräftige Zwischenüberschriften und Akzentuierung durch Grafiken, ist für viele Menschen hilfreich. In besonderem Maße profitieren Menschen mit Lese-/Rechtschreibschwäche davon, die sich nur schwer einen Überblick über einen Text verschaffen können. Für diese Zielgruppe ist auch das Vorlesen von Texten geeignet, vor allem wenn das Mitlesen durch eine optische Hervorhebung des gesprochenen Textes unterstützt wird. Bei verminderter Konzentrationsfähigkeit ist es wichtig, Ablenkung durch Animationen zu vermeiden bzw. Animationen abschaltbar zu machen. Blitzen in einer Frequenz ab 3 Hertz kann unter Umständen epileptische Anfälle auslösen und ist unbedingt zu vermeiden.

Handhaben - Körperliche Behinderungen

Informationstechnik ist immer auf irgendeine Weise interaktiv. Zur Bedienung ist es erforderlich, Optionen aus Menüs auszuwählen, Schaltflächen (sog. Buttons) zu drücken oder Daten in Eingabefelder einzutippen. Die klassischen Eingabegeräte sind Tastatur und Maus, neuerdings ergänzt um Touchscreens, die mit Gesten bedient werden (siehe Abbildung 63). Die Handhabung dieser Eingabegeräte erfordert motorische Fähigkeiten wie Stetigkeit, Zielgenauigkeit, Schnelligkeit, Kraft und einen gewissen Aktionsradius. Gerade die Maus- und Touchscreenbedienung erfordern eine Feinmotorik, die schon bei leichter Einschränkung der Hand nicht mehr aufzubringen ist.

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Abb. 63
Maus in der Hand (oben), Geste auf Touchscreen (unten)

Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, die in der Steuerung ihrer Hände beeinträchtigt sind, existieren vielfältige technische Hilfen zur Computerbedienung.

Die Tastaturbedienung wird von Menschen mit körperlicher Behinderung ebenso wie von Blinden und von erfahrenen Benutzerinnen und Benutzern eingesetzt. Barrierefreie Software muss lückenlos mit der Tastatur bedienbar sein.

Menschen mit Behinderungen benötigen oftmals mehr Zeit und eine höhere Fehlertoleranz, um eine Aufgabe am Computer zu erledigen. Auch diese Anforderungen stehen in engem Bezug zur Softwareergonomie.

Ältere Menschen

Die Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung steigt mit dem Alter. Altersbedingte Einschränkungen kann es in allen genannten Funktionen geben:

  • im Sehen und Hören,

  • im Kurzzeitgedächtnis und in anderen kognitiven Funktionen und

  • in der Kraft und Genauigkeit von Bewegungen.

Zwar tritt die einzelne Funktionseinschränkung bei älteren Menschen oft nur in leichter Form auf, doch in der Kombination kann sich eine erhebliche Beeinträchtigung ergeben.