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Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
31, 22 [Nr. 5 Bodenverkehrsrecht; zum Begriff des Ortsteils im Sinne des § 34 BBauG]

Urteil des 4. Senats vom 6. November 1968 - BVerwG 4 C 31.66
  1. 1.

    Zum Bebauungszusammenhang gehört die tatsächlich vorhandene Bebauung unabhängig davon, ob die Baulichkeiten genehmigt worden sind oder aber in einer Weise geduldet werden, die keinen Zweifel daran läßt, daß sich die zuständigen Behörden mit ihrem Vorhandensein abgefunden haben.

  2. 2.

    Ortsteil im Sinne der §§ 19 Abs. 1 und 34 BBauG ist jeder Bebauungskomplex im Gebiet einer Gemeinde, der nach der Zahl der vorhandenen Bauten ein gewisses Gewicht besitzt und Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist.

  3. 3.

    Einer Bescheinigung über die bodenverkehrsrechtliche Genehmigungsfreiheit eines Rechtsvorganges (§ 23 Abs. 2 BBauG) kommt eine Bindungswirkung nach Maßgabe des § 21 Abs. 1 BBauG nicht zu.

Vorinstanzen

I. Verwaltungsgericht MünchenII. Verwaltungsgerichtshof München

Die Klägerin zu 2) veräußerte im Oktober 1961 ein von ihr im August 1951 mit Genehmigung nach § 4 des Wohnsiedlungsgesetzes erworbenes Grundstück an den Kläger 1). Das Grundstück liegt am Ostufer des A.- Sees zwischen dem Seeufer und der Staatsstraße. Es ist unbebaut, ca. 5 200 qm groß und grenzt in einer Breite von etwa 35 m an die Staatsstraße. BVerwGE 31, 22, Seite 23In der Vertragsurkunde vom 3. Oktober 1961, die zugleich die Auflassung enthielt, wurde eine Bebauung des Grundstücks in Aussicht genommen. Das zuständige Landratsamt versagte im Einvernehmen mit der beigeladenen Gemeinde die von den Klägern beantragte bodenverkehrsrechtliche Genehmigung mit der Begründung, daß das Grundstück zum Außenbereich gehöre und die vorgesehene Bebauung öffentliche Belange beeinträchtige. Die Bebauung widerspreche dem als Flächennutzungsplan fortgeltenden Wirtschaftsplan von 1958, der das Grundstück als landwirtschaftliche Nutzfläche darstelle. Die unvermeidbare Einleitung der Abwässer in den Untergrund sei wegen der Nähe des Sees bedenklich. Außerdem liege das Vorhaben innerhalb einer mit Verordnung vom 14. Mai 1948 unter Schutz gestellten Landschaft. Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage.

Am Ostufer des A.-Sees folgen, beginnend mit dem Übergang zum Ortskern der beigeladenen Gemeinde im Norden, auf einer Strecke von ungefähr 4 km über 60 Grundstücke aufeinander, die in ihrer Mehrzahl bebaut sind. Die Bebauung wirkt mit Rücksicht auf die zumeist 2800 qm überschreitende Größe der Grundstücke aufgelockert. In welchem Umfange die vorhandenen Baulichkeiten genehmigt oder bisher nur geduldet worden sind, ist streitig. Auf der Nordseite des Vertragsgrundstücks schließt sich eine im Eigentum der beigeladenen Gemeinde stehende Freifläche an, die als Campingplatz genutzt wird. Die Breite dieser Fläche beträgt an der Straße etwa 50 m; an der Seeseite geht sie darüber hinaus. Die weiter nördlich folgenden Grundstücke sind bebaut. Südlich vom Vertragsgrundstück liegt das bebaute, an der Straße etwa 35 m breite Grundstück M. Daneben befindet sich ein ca. 60 m breiter unbebauter Freibadeplatz, dessen Eigentümerin die beigeladene Gemeinde ist. Die dann folgenden Grundstücke sind wiederum bebaut.

Im Unterschied unter anderem zum Vertragsgrundstück war die Mehrzahl der – allerdings überwiegend bereits in der vorangegangenen Zeit bebauten – Grundstücke am Ostufer des A.-Sees im Wirtschaftsplan von 1958 als Baugebiet vorgesehen; insoweit war eine Grundstücksgröße von mindestens 2800 qm vorgeschrieben. Der während der Anhängigkeit des Revisionsverfahrens erlassene neue Flächennutzungsplan der Beigeladenen stellt das Vertragsgrundstück als private Grünfläche dar. Außerdem hat die beigeladene Gemeinde im Januar 1966 die Aufstellung BVerwGE 31, 22, Seite 24eines Bebauungsplanes beschlossen, der nach den Angaben des Beklagten in der fraglichen Gegend lediglich die bereits bebauten Grundstücke als Baugebiet ausweisen soll. Zur Sicherung dieser Planung hat die Beigeladene durch Satzung vom 18. Mai 1966 eine Veränderungssperre verhängt. Die Kläger haben gegen die Versagung der Bodenverkehrsgenehmigung nach erfolglosem Widerspruchsverfahren Klage auf Verpflichtung zur Erteilung eines Zeugnisses über die Genehmigungsfreiheit der Auflassung, hilfsweise auf die Erteilung der Bodenverkehrsgenehmigung erhoben.

Die Klage hatte im Hauptantrag Erfolg. Die Berufung des beklagten Landes wurde zurückgewiesen. Auch seine Revision blieb erfolglos.

Aus den Gründen:

Das Berufungsgericht ist ohne Verletzung von Bundesrecht zu dem Ergebnis gelangt, daß das Vertragsgrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles liegt und die zuständige Behörde dementsprechend verpflichtet ist, über die bodenverkehrsrechtliche Genehmigungsfreiheit der Auflassung ein Zeugnis auszustellen (§§ 23 Abs. 2, 19 Abs. 1 BBauG; 137 Abs. 1 VwGO).

Die Beteiligten haben im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens auch dazu Stellung genommen, ob die vorgesehene Bebauung des Vertragsgrundstücks mit dem in der Aufstellung befindlichen Bebauungsplan vereinbar ist, ob ihr die Darstellung im Flächennutzungsplan und die Veränderungssperre entgegengehalten werden kann und ob die Landschaftsschutzverordnung sowie Art. 141 Abs. 3 Satz 2 der Bayerischen Verfassung einen Hinderungsgrund bilden. Auf alles das kommt es für die Entscheidung nicht an. Die Zulässigkeit der vom Kläger zu 1) beabsichtigten Bebauung ist nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Auflassung von Grundstücken, die innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile liegen, bedarf nach § 19 Abs. 1 BBauG keiner Bodenverkehrsgenehmigung. Bei Rechtsvorgängen, die von einer Bodenverkehrsgenehmigung freigestellt sind, ist auf Antrag ein Zeugnis nach § 23 Abs. 2 BBauG (sogenanntes Negativattest) zu erteilen. Der Erfolg der im Hauptantrag hierauf gerichteten Klage hängt ausschließlich von der Lage des Grundstücks innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles ab. Auf diese Lage sind der Bebauungsplan, der Flächennutzungsplan, die Veränderungssperre, die BVerwGE 31, 22, Seite 25Landschaftsschutzverordnung und ebenso auch Art. 141 Abs. 3 Satz 2 der Bayerischen Verfassung ohne Einfluß. Aus ihnen könnte sich allenfalls etwas für die Bedenklichkeit der vorgesehenen Bebauung ergeben (§ 34 BBauG). Über sie ist jedoch im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden. Da nach § 19 Abs. 1 BBauG die Lage innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles zur Genehmigungsfreiheit führt, ist für alle Erwägungen, zu denen im Falle der Genehmigungsbedürftigkeit die §§ 20 f. BBauG Anlaß geben könnten, kein Raum. Die Rechtsfolge der Lage innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles und der daraus folgenden Genehmigungsfreiheit erschöpft sich in der Pflicht des Beklagten, das in § 23 Abs. 2 BBauG vorgesehene Zeugnis zu erteilen. Weder darf dieses Zeugnis wegen etwaiger Bedenken gegen die Bebauungsabsicht des Klägers zu 1) versagt werden, noch zieht – was damit notwendig zusammenhängt – die Erteilung des Zeugnisses in Richtung auf die vorgesehene Bebauung eine Bindung nach sich. Daran ändert auch nichts, daß § 23 Abs. 2 Satz 2 BBauG das Zeugnis einer Genehmigung gleichstellt. Diese Anordnung führt nicht zur Anwendbarkeit der §§ 20 f. BBauG. Das liegt für § 20 Abs. 1 BBauG auf der Hand. Die Bestimmung, daß das erteilte Negativattest der Bodenverkehrsgenehmigung gleichsteht, besagt nicht, daß ein solches Negativattest unter den gleichen Voraussetzungen wie eine Bodenverkehrsgenehm gung versagt werden darf. Daraus folgt zwangsläufig, daß auch § 21 Abs. 1 BBauG nicht herangezogen werden kann. Denn die Versagungsgründe aus § 20 BBauG und die Bindungswirkung aus § 21 Abs. 1 BBauG sind jedenfalls in dem Sinne untrennbar miteinander verknüpft, daß nichts Gegenstand der Bindungswirkung sein kann, was nicht auch Versagungsgrund ist (vgl. dazu das Urteil vom 10. Mai 1968 – BVerwG IV C 101.66 - [DVBl. 1968, 807] sowie OVG Lüneburg in MDR 1967, 248 und OVG Münster in DVBl. 1966, 189).

Nach alledem kommt es für die En scheidung einzig darauf an, ob das Vertragsgrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt. Das ist mit dem Berufungsgericht zu bejahen. (Wird ausgeführt.)

Die Lage des Vertragsgrundstücks innerhalb eines Bebauungszusammenhanges ließe sich allerdings dennoch in Zweifel ziehen, wenn es für die Beachtlichkeit der bestehenden Bebauung darauf ankäme, ob die einzelnen Bauten mit Genehmigung entstanden oder doch nachträglich ge-BVerwGE 31, 22, Seite 26nehmigt worden sind. Den hiergegen gerichteten Einwendungen des Beklagten brauchte das Berufungsgericht jedoch nicht nachzugehen. Für die Frage, ob ein Bebauungszusammenhang vorliegt, kommt es grundsätzlich auf die Genehmigung der bestehenden Bebauung nicht an. Das unterstreicht insbesondere der Wortlaut des § 34 BBauG, der ersichtlich als (im Zusammenhang) „bebaut“ die Grundstücke mit „vorhandener Bebauung“ begreift. Damit ist ein Erfordernis, daß es sich um genehmigte Baulichkeiten handeln müßte, nicht aufgestellt. Das entspricht auch dem Sinn der gesetzlichen Regelung. Denn aus der Sicht der Rechtsfolge des § 34 BBauG kann es keinen Unterschied machen, ob die Bebauung genehmigt worden ist oder aber in einer Weise geduldet wird, die keinen Zweifel daran läßt, daß sich die zuständigen Behörden mit dem Vorhandensein der Bauten abgefunden haben. Folgende Überlegung bestätigt dies: Die zuständigen Behörden sind gehalten, gegen eine Bebauung, die weder formell noch materiell baurechtmäßig ist, einzuschreiten. Wenn sie das unterlassen, kann die Pflichtwidrigkeit nicht zu Lasten eines Bauwerbers gehen, der sich für sein Vorhaben auf den tatsächlich vorhandenen Bebauungszusammenhang beruft. Die Behörden können nicht – aus welchen Gründen auch immer – einerseits „ein Auge zudrücken“, sich dann aber andererseits und nahezu nach Belieben an ihrem Verhalten nicht festhalten lassen wollen. Dementsprechend haben tatsächlich vorhandene Baulichkeiten im Rahmen der §§ 19 Abs. 1 und 34 BBauG nur dann außer Betracht zu bleiben, wenn – wie namentlich durch den Erlaß von Beseitigungsverfügungen – das Verhalten der zuständigen Behörden hinreichend klar ergibt, daß ihre Beseitigung absehbar ist. Dafür, daß dies im vorliegenden Falle zutrifft, läßt sich weder den Feststellungen des Berufungsgerichts noch dem Vorbringen des Beklagten etwas entnehmen.

Das Vertragsgrundstück liegt nicht nur innerhalb eines Bebauungszusammenhanges, sondern gehört auch einem Ortsteil an. Die hiergegen vom Beklagten erhobenen Bedenken sind ungerechtfertigt. Ortsteil im Sinne der §§ 19 Abs. 1 und 34 BBauG ist jeder Bebauungskomplex im Gebiet einer Gemeinde, der nach der Zahl der vorhandenen Bauten ein gewisses Gewicht besitzt und Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist (ebenso im wesentlichen Meyer in Meyer-Stich-Tittel, Bundesbaurecht, § 34 BBauG Rdnr. 5). Dabei ist zum Merkmal der organischen Sied-BVerwGE 31, 22, Seite 27lungsstruktur im einzelnen folgendes zu sagen: Die organische Siedlungsstruktur erfordert nicht, daß es sich um eine nach Art und Zweckbestimmung einheitliche Bebauung handeln müßte. Auch eine unterschiedliche, ja u. U. sogar eine in ihrer Art und Zweckbestimmung gegensätzliche Bebauung kann einen Ortsteil bilden. Ebensowenig kommt es auf die Entstehungsweise der vorhandenen Bebauung an. Erforderlich ist auch nicht, daß die Bebauung einem bestimmten städtebaulichen Ordnungsbild entspricht, eine bestimmte städtebauliche Ordnung verkörpert oder als eine städtebauliche Einheit in Erscheinung tritt (abw. Zinkahn-Bielenberg, Bundesbaugesetz § 19 Rdnr. 16, sowie VGH Kassel in BRS 17, 57 [58]). Der Ortsteil im Sinne der §§ 19 Abs. 1, 34 BBauG braucht sich ferner nicht als ein Schwerpunkt der baulichen Entwicklung eines Gemeinwesens darzustellen (abw. VG Münster in BBauBl. 1961, 663). Das ist für das Vorliegen eines Ortsteiles lediglich ausreichend, nicht dagegen notwendig. Entsprechendes gilt für die vom Beklagten in den Vordergrund gestellte Zuordnung zu einem Schwerpunkt sowie dafür, daß die vorhandene Bebauung ein gewisses eigenständiges Leben gestatten muß (vgl. dazu Gelzer, Das neue Bauplanungsrecht, S. 115). Auch wenn es an alledem fehlt, kann ein – nach der Zahl seiner Bauten nicht ungewichtiger – Bebauungszusammenhang Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur sein. Diese Anforderung schließt nur das ein, was in Entgegensetzung zur unerwünschten Splittersiedlung (§ 35 Abs. 3 BBauG; vgl. dazu insbesondere das Urteil vom 26. Mai 1967 [BVerwGE 27, 137]) dem inneren Grund für die Rechtsfolge des § 34 BBauG entspricht, nämlich die nach der Siedlungsstruktur angemessene Fortentwicklung der Bebauung innerhalb des gegebenen Bereiches. An einer solchen Angemessenheit fehlt es beispielsweise bei einer Anhäufung von behelfsmäßigen Bauten. Auch eine völlig regellose und in dieser Anordnung geradezu funktionslose Bebauung mag ebenso wie – unter entsprechenden Voraussetzungen – eine bandartige oder einzeilige Bebauung die Annahme einer organischen Siedlungsstruktur ausschließen können.

Die Anwendung dieser Grundsätze führt zu dem Ergebnis, daß das Vertragsgrundstück innerhalb eines Ortsteils liegt. Daß die Bebauung am Ostufer des A.-Sees nach ihrer Zahl ein gewisses Gewicht besitzt, steht außer Frage. Ebenso fehlt es aber auch an Anhaltspunkten, die für einen Ver-BVerwGE 31, 22, Seite 28stoß gegen die Anforderungen an eine organische Siedlungsstruktur sprechen. Ob die Bebauung einen Schwerpunkt der baulichen Entwicklung bildet oder einem Schwerpunkt zugeordnet ist, steht nach dem Gesagten der Anerkennung als Ortsteil nicht entgegen. Von einer völlig regellosen Bebauung, auf deren Vorliegen das beklagte Land insbesondere wegen der fehlenden Einhaltung von Baulinien schließen will, kann enstlich keine Rede sein, dies zumindest nicht in einem Sinne, der die organische Siedlungsstruktur in Frage stellen könnte. Endlich gibt aber auch die Tatsache, daß es sich um eine nur einzeilige Bebauung handelt, nicht zu Bedenken Anlaß. Eine bandartige und zudem einzeilige Bebauung widerspricht den Anforderungen an eine organische Siedlungsstruktur jedenfalls dann nicht, wenn sie auf die Funktion und den Nutzungszweck der Bebauung zurückgeht und darin ihre Rechtfertigung findet. Daß dies für die Bebauung an einem Seeufer zutreffen kann und bei einer Sachlage der hier gegebenen Art auch zutrifft, hat der Oberbundesanwalt mit Recht dargelegt.