DGUV Information 202-111 - Mit Schulleitung gesunde, inklusive Schule gestalten Handlungsempfehlungen und Reflexionsimpulse für Schulentwicklungsprozesse

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Abschnitt 8.4 - 8.4 Eigenes Leitungshandeln reflektieren

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Folgen wir den theoretischen Überlegungen in Helmut Fends Neuer Theorie der Schule 41 dann kann die Schulleitung als eine zentrale Akteursgruppe im Mehr-Ebenen-System Schule verstanden werden. Sie übernimmt auf der Ebene der Einzelschule eine bedeutsame Schnittstellenfunktion, wenn es darum geht, die Impulse der Akteure auf den übergeordneten Ebenen (Bildungspolitik & Bildungsverwaltung) aufzunehmen und in den eigenen Schulkontext zu übersetzen. Berücksichtigt werden müssen dabei die bereits bestehenden Bedingungen auf Ebene der jeweiligen Einzelschule und insbesondere auch auf der Ebene des Unterrichtens. Schulleitungshandeln findet demnach stets im Spannungsfeld der unterschiedlichen Interessen, Erwartungen und Routinen unterschiedlicher Anspruchsgruppen statt. Die Ausgestaltung von bildungspolitischen Vorgaben werden entsprechend nicht mechanistisch in das eigene System implementiert, sondern müssen an die bestehenden Systemvoraussetzungen angepasst werden. Bei diesen Umformungen ( siehe auch Kapitel 8.2) ist die Reflexion des eigenen Schulleitungshandelns zentral.

Die Reflexion der eigenen Schulleitungsrolle aus einer mehr-ebenen-theoretischen Perspektive ist eine Möglichkeit, um den eigenen Professionalisierungsprozess in Richtung Inklusion auszugestalten und die komplexen Anforderungen bewältigen zu können. In allen Bundesländern können wir beobachten, dass die Dezentralisierung staatlicher Steuerung und Erweiterung der Eigenverantwortung der Einzelschulen auch im Kontext von Inklusion anhalten 42. Die Bildungspolitik und Bildungsverwaltung haben nur zum Teil die Rahmenbedingungen und Rechtslagen verändert. Sie bleiben insbesondere in Bezug auf die Umsetzung von Inklusion aber höchst widersprüchlich und weisen zentrale Leerstellen auf, wie nun der Auftrag administrativ-organisatorisch und pädagogisch-didaktisch in den Schulen tatsächlich auszugestalten ist. Im Umgang mit diesen Widersprüchen und Leerstellen kommt der Schulleitung eine wichtige Rolle zu.

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g_bu_1787_as_4.jpgWeil gerade in der Implementierung muss auch für eine gesamte Schulgemeinde sichtbar werden, da steht der Schulleiter in Person dahinter. Der hat auch eine Haltung zu diesen Dingen. Ich kriege ja in die Inklusion keinen Boden rein, wenn ich nicht sage, jawohl, da geht es um ein Menschenrecht.
(Schulleitender, Gesamtschule)
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Einzelne Studien 43 deuten darauf hin, dass veränderte Einstellungen und Bereitschaften der Schulleitungen erste notwendige Bedingungen dafür darstellen, dass die angesprochenen Widersprüche professionell bearbeitet werden und alle Schülerinnen und Schüler, insbesondere auch solche mit einem attestierten sonderpädagogischen Förderbedarf, überhaupt Zugang zu allgemeinbildenden Schulen bekommen. Wird diesen Studien gefolgt, dann ist es entscheidend, dass Schulleitungen das eigene Zuständigkeitserleben nicht mehr auf bestimmte Schülerinnen und Schüler beschränken, sondern sich für alle Kinder des Einzugsbereiches der Schule gleichermaßen verantwortlich fühlen. Coleman 44 hebt entsprechend die Notwendigkeit einer Reflexion der Führungsrolle und der ihr zugrunde gelegten Werte i.S. eines neuen Umgangs mit Diversität hervor: "Diversity encourages us to examine our values as leaders, as the concept implies the making of conscious and unconscious judgements about who is included and welcomed and who is not."

Empirische Studien zeigen, dass dieser Anspruch unter Schulleitungen in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist und vielerorts ein entsprechendes Rollen- und Professionsverständnis erst erarbeitet werden muss 45. Die universitäre Professionalisierung, die eigenen biographischen Schulerfahrungen und die bestehenden Strukturen im Schulsystem legen häufig ein Professionsverständnis nah, dass sich an den Bedürfnissen einer selektierten Gruppe von Schülerinnen und Schülern (z. B. nur mit bestimmten schulischen Leistungen) orientiert. Häufig wird dann zwar ein ganzheitliches Inklusionsverständnis nach außen vertreten, letztlich aber doch (unbewusst) selektiert.

Unsere eigene Studie 46 macht deutlich, dass die Schulleitungen ihre Rolle im Kontext schulischer Inklusion bzw. dem Gemeinsamen Lernens tatsächlich höchst unterschiedlich ausgestalten und reflektieren. Schulleitungen, die dem Auftrag eher skeptisch gegenüberstehen,

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g_bu_1787_as_4.jpgUnd wenn ich jetzt mal bei den Kollegen anfange, dann ist ja auch ein Kollegium ein Arbeitsbereich von Inklusion. Da gibt es ja auch ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Bedarfen und Stärken und Talenten. Und da als Schulleitung ein Auge drauf zu haben, und ein offenes Ohr und eine offene Tür und auch die Bereitschaft, individuell zugeschnittene Lösungen, die vielleicht auch nicht immer ganz den formalen Vorgaben entsprechen, solche Lösungen zu finden, ich glaube, das ist ganz wichtig.
(Schulleitender, Gymnasium)
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  • versuchen, Inklusion weniger als umfassende Schulentwicklung in einem ganzheitlichen Sinne auszugestalten, und delegieren die Umsetzung der Inklusion oftmals an einzelne Lehrkräfte und Klassen im System;

  • folgen eher in einem systemkompatiblen Verständnis (Inklusion = Gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ) und versuchen Inklusion pragmatisch-organisatorisch in die Strukturen und Praktiken auf Ebene der Einzelschule zu überführen;

  • beziehen Inklusion häufig ausschließlich auf die Differenzlinie des sonderpädagogischen Förderbedarfs und nehmen teilweise nur ausgewählte Schülerinnen und Schüler mit bestimmten sonderpädagogischem Förderbedarf an ihren Schulen und in ihrer Überlegungen zur Veränderung der Schule auf;

  • sehen sich häufig in einer eher administrativ-organisatorischen Funktion und fühlen sich durch die Ausgestaltung des Gemeinsamen Lernens insgesamt stärker belastet.

Schulleitungen, die dem Auftrag Inklusion hingegen positiv gegenüberstehen,

  • versuchen diesen auch eher in einem ganzheitlichen Sinne auf Ebene der Einzelschule aktiv auszugestalten;

  • machen sich gemeinsamen mit dem Kollegium auf den Weg, inklusives Lernen und Lehren für alle in der Schule langfristig und nachhaltig zu verbessern;

  • berichten in der Regel einen hohen Zugewinn an Anerkennung, Berufszufriedenheit und gefühlter Entlastung.

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Folgende Schritte können dabei helfen, das eigene Schulleitungshandeln zu reflektieren bzw. in Richtung eines inklusionssensiblen Leitungshandelns zu professionalisieren:

  1. 1.

    Das eigene Rollenverständnis reflektieren: Welcher Schulleitungstyp bin ich?

  2. 2.

    Die eigene Position im Mehr-Ebenen-System reflektieren und die "blinden Flecke" der eigenen Schulleitungsfunktion erkennen. Hier geht es konkret um die Fragen:

    • Wo bin ich als Schulleitung selbst in die Mechanismen der Exklusion (Selektion, Diskriminierung, Ausgrenzung) eingebunden?

    • Wo reproduziere ich in der Eingebundenheit in die schulischen Strukturen und in der Zusammenarbeit mit der Bildungsadministration, dem Kollegium, etc. die Exklusion bestimmter Gruppen von Schülerinnen und Schülern?

    • Welche Möglichkeiten habe ich diese "blinden Flecke" zu bearbeiten?

  3. 3.

    Die (eigene) Haltung, Vorstellung von Inklusion und das (eigene) Zuständigkeitserleben reflektieren. Hier geht es also konkret um die Fragen:

    • Wie wollen wir lehren und lernen?

    • Was erwarten wir grundlegend vom Lernenden und Lehrenden?

    • Für wen fühlen wir uns verantwortlich und zuständig?

    • Was denken wir, was gerecht und richtig ist?

    Hierfür liegen verschiedene, frei zugängliche, praxisnahe Reflexionsinstrumente vor, die im Schulleitungsteam, aber auch im gesamten Kollegium genutzt werden können:

    • der Index für Inklusion 47

    • das Aargauer Bewertungsraster 48

    • der QIK-Check 49

Fend 2008a, 2008b

Wissinger 2014

Kugelmass & Ainscow 2004

Coleman 2006

Amrhein 2011

Amrhein et al. 2018