DGUV Information 202-111 - Mit Schulleitung gesunde, inklusive Schule gestalten Handlungsempfehlungen und Reflexionsimpulse für Schulentwicklungsprozesse

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Abschnitt 8.3 - 8.3 Eigenes und gemeinsames Inklusionsverständnis klären

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Da der Begriff Inklusion sehr vielfältig interpretiert werden kann, ist für die Gestaltung inklusiver Entwicklungen in der Schule dennoch die Erarbeitung einer gemeinsamen Zielvorstellung nötig. Dieser Prozess ist langwierig und diskursiv. Anschlussfähig an international verwendete Begriffsdefinitionen kann Inklusion als das "Willkommen heißen der Heterogenität von Gruppen und der Vielfalt aller Menschen, unabhängig von Eigenschaften und Zuschreibungen"36 verstanden werden. Inklusion meint die Wertschätzung nicht nur von Menschen mit Behinderungen oder Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, sondern immer auch vielfältiger Sprachen, Kulturen, Religionsgemeinschaften und auch z. B. unterschiedlicher sexueller Orientierungen. Inklusion ist damit ein normatives Konzept, das beschreibt, wie wir als Individuen gemeinsam leben, arbeiten und lernen wollen. Eine für den schulischen Kontext brauchbare Definition findet sich in Anlehnung an Gottfried Biewer. Inklusiv sind demnach Kulturen, Strukturen und Praktiken:

"zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/innen gerecht zu werden"37

Auch wenn in der Schulentwicklung dabei besonders Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Fokus stehen, ist Inklusion keinesfalls auf diese zu begrenzen. Tendenzen, bestimmte Schülerinnen und Schüler auszugrenzen, zu benachteiligen oder zu diskriminieren, können sich in allen Bereichen des Schullebens und bezüglich unterschiedlicher sogenannter Heterogenitätsdimensionen zeigen. Häufig überlagern sich auch die Heterogenitätsdimensionen. Wenn wir etwa entlang der Differenzlinie "sonderpädagogischer Förderbedarf" im Bereich des Lernens denken und diskutieren, spielen nachweislich Aspekte des Geschlechts, des Migrationshintergrundes und der sozialen Herkunft eine ganz zentrale Rolle ( siehe auch Kapitel 8.1).

Etwas vereinfacht gesprochen hat sich in den letzten Jahren seit der Implementation von Inklusion in unser Bildungssystem eine Begriffsunterscheidung durchgesetzt, die wir für den alltäglichen Gebrauch in der Schule für wenig hilfreich halten, da sie stark polarisiert. Da wird ein "enger" von einem "weiten" Inklusionsbegriff unterschieden. "Eng" meint hier die alleinige Fokussierung auf die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf und der sogenannte "weite" Inklusionsbegriff, schließt andere Vielfaltsdimensionen mit ein. Im nationalen Kontext kann man fast von zwei miteinander konkurrierenden Konzepten sprechen.

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So kann doch davon ausgegangen werden, dass die Ausgestaltung des Gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein wesentlicher Teilbeitrag schulischer Inklusion sein kann und daher die Bezeichnung "eng" eher weniger passt. Innerhalb eines grundlegend auf Vielfalt ausgerichteten Verständnisses von Inklusion kann die Öffnung des Unterrichts und der Schule für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf als ein Schritt hin zu einem wertschätzenden Umgang mit Vielfalt verstanden werden.

Wir möchten hier zwei Begriffe einführen, mit denen wir Schulleitungen seit Jahren unterstützen, ihrem eigenen Inklusionsverständnis auf den Grund zu gehen. 38

Dabei unterscheiden wir ein eher systemkompatibles Verständnis von Inklusion. Dies meint die Einführung des Gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, die sich mit den bestehenden, getrennten Zuständigkeiten von Sonderpädagogik und Allgemeiner Schulpädagogik in unserem Schulsystem "gut verträgt". Es handelt sich dabei eher um eine technische, vorrangig administrative Einpassung des Gemeinsamen Lernens in sonst weitestgehend unveränderte pädagogische Strukturen, Praktiken und Kulturen der Schule. Ziel ist hier eher die additive Ergänzung des bisherigen Unterrichtsangebotes für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die "passen", während die anderen Schülerinnen und Schüler weiter lernen wie bisher.

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g_bu_1787_as_4.jpgInklusion ist dann verwirklicht, wenn sich der Schulleiter am Anfang des Schuljahres auf den Marktplatz stellt und die Kinder des Sprengels sich um ihn versammeln und er ruft: "Wer braucht was? Wir machen euch das hier an dieser Schule." Dann hast du inklusive Bedingungen. Das heißt also, dass die Einrichtung immer reagiert auf die Bedürfnislage der Kinder, die da hinkommen und bei uns ist es immer noch umgekehrt.
(Schulleitender, Modellschule)
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Das transformatorische Verständnis beschreibt hingegen einen Inklusionsbegriff, der unter dem Einbezug unterschiedlicher Vielfaltsdimensionen, eine höhere Veränderungsbereitschaft der Schule fordert. Es verbindet Inklusion vor allem mit pädagogischen Fragen nach einer Veränderung von Strukturen, Praktiken und Kulturen der Schule im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität für alle Beteiligten. Nicht nur die "neuen" Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, sondern auch die anderen Schülerinnen und Schüler werden zunehmend als heterogene Lerngruppe wahrgenommen. Es werden Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten in den Bedürfnissen, Interessen, Biograhpien etc. aller Schülerinnen und Schüler im Lernen beachtet und entsprechend die Schule ausgestaltet. Dieses Verständnis hat auch zur Folge, die aktuell zur Verfügung stehenden sonderpädagogischen Kategorien eher durch intersektionale Perspektiven zu ersetzen und getrennte Zuständigkeiten zwischen Sonder- und Allgemeiner Pädagogik zu überwinden.

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Für Schulleitungen ist es von Bedeutung, hier im Rahmen inklusiver Schulentwicklungsprozesse Orientierung in dem mitunter begrifflichen Durcheinander rund um Inklusion zu schaffen.

Im ganzen Land zeigen sich Umformungen bzw. Rekontextualisierung ( siehe auch Kapitel 8.2) des inklusiven Reformvorhabens. Dies führt mitunter zu einem inflationären Gebrauch des Inklusionsbegriffes. Es werden "Phänomene" als inklusiv bezeichnet, die mit der eigentlichen Bildungsidee 39 häufig wenig zu tun haben und verschleiern, dass sich eigentlich wenig im System ändert. Einige Beispiele:

  • äußere Differenzierungsmaßnahmen (z. B. auch Trainingsräume) werden als Inklusionsräume bezeichnet

  • Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden zu Inklusionsschülerinnen und -schülern, ihre Eltern zu Inklusionseltern und die sie unterrichtenden sonderpädagogischen Lehrkräfte zu Inklusionslehrkraft umetikettiert

  • es entstehen "Flüchtlingsklassen" parallel zu sogenannten "Inklusionsklassen"

  • etc.

Unsere Befragung der Schulleitungen zeigt 40:

  • unter Schulleitungen besteht keine Einigkeit über den Begriff Inklusion und dessen Implikationen

  • zahlreiche Schulleitungen explizieren den Begriff Inklusion in einem transformatorischen Sinne und formulieren auch entsprechende handlungspraktische Maßnahmen

  • Schulleitungen, die ein eher transformatorisches Verständnis von Inklusion vertreten, übernehmen eher eine aktiv gestaltende Funktion in inklusionsorientierten Schulentwicklungsprozessen und berichten eine vorgeschrittene Ausgestaltung an ihrer Schule

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g_bu_1787_as_4.jpgDas ist halt immer ein Gestaltungsprozess, dass man sich auch auf Leitungsebene verständigt, auf Linien, wie wollen wir eigentlich sein? Wofür stehen wir? Was ist das Gesicht unserer Schule? Und das ist ganz klar, dass das erst mal ein Gestaltungsprozess auf einer Schulleitungsebene ist, der dann aber immer wieder auch kommuniziert werden muss.
(didaktische Leitung, Gesamtschule)
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Insgesamt wird deutlich: Gelingt es nicht, die Bemühungen um das Gemeinsame Lernen in ein transformatorisches Verständnis von Inklusion einzubetten, erweist sich dies als wenig unterstützend für nachhaltige Schulentwicklungsprozesse in Richtung Inklusion.

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Für Ihre Praxis der Entwicklung eines gemeinsamen und für das eigene System tragfähigen Inklusionsverständnisses bedeutet dies, in einen alle Aktivitäten begleitenden gemeinsamen Reflexionsprozess zu gehen. Folgende Schritte können hier empfohlen werden:

  • Aufbau einer kleinen Textsammlung zum Begriff Inklusion (siehe dazu Weiterführende Materialien und Literatur online)

  • Moderation einer Diskussion mit dem Kollegium zum Inklusionsverständnis im eigenen System (unter Zuhilfenahme der Abbildung oben)

  • Was bedeutet Inklusion für die Schülerinnen und Schüler bzw. Wie ist eine Schule, die alle willkommen heißt? (Befragung der Schülerinnen und Schüler in allen Lerngruppen oder dem Buch "Selbsthilfe für inklusive Schulen" von Erbring)

  • Thematisierung des Begriffes auf Elternabenden (Befragung der Eltern)

  • Arbeit am gemeinsamen Begriffsverständnis mit der Bildungsadministration

  • Illustration und Verschriftlichung eines Inklusionsverständnisses der Schule (z. B. im Schulprogramm) als Reflexions- und Orientierungshilfe für die Ausgestaltung des Gemeinsamen Lernens und anderer Schulentwicklungsmaßnahmen in der Schule

  • Beispiel für eine Reflexionsaufgabe im Team - Bitte beziehen Sie sich auf Erfahrungen mit Inklusion in Ihrem System:

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Boban & Hinz 2009; Biewer 2009

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