DGUV Information 202-111 - Mit Schulleitung gesunde, inklusive Schule gestalten Handlungsempfehlungen und Reflexionsimpulse für Schulentwicklungsprozesse

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Abschnitt 8.2 - 8.2 Rekontextualisierungsstrategien und Widersprüche antizipieren und bearbeiten

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Die Ausgestaltung schulischer Inklusion ist im Land zunehmend uneinheitlich und widersprüchlich 27. In allen Bundesländern wird Inklusion bildungspolitisch im Sinne eines zusätzlichen, eher additiven Auftrages umgesetzt. Dabei wird das Gemeinsame Lernen für bestimmte Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an bestimmten Schulen eingefordert, ohne dass gleichzeitig die vielfältigen, exkludierenden Kulturen, Strukturen und Praktiken im deutschen Schulsystem überhaupt zu hinterfragen oder gar zu verändern. Dies geschieht zudem häufig unter unzureichender Ressourcenlage. Feuser spricht hier pointiert von der "Integration der Inklusion in die Segregation". In Schulen, die sich um eine inklusionsorientierte Entwicklung bemühen, ergibt sich insbesondere für Schulleitungen damit eine teils widersprüchliche Situation. Sie müssen aufgrund der fehlenden Passung von inklusiver Bildungsidee auf der einen und Systembedingungen auf der anderen Seite, häufig dazu übergehen, Inklusion umzuformen. Helmut Fend liefert die schultheoretische Erklärung für dieses Phänomen 28. Er spricht in seiner "Neue Theorie der Schule" von Rekontextualisierungsprozessen bzw. -strategien und kann erklären, warum Inklusion in einem transformatorischen Verständnis 29 ( siehe auch Kapitel 8.3) in den Einzelschulen nicht von den Schulleitungen umfassend umgesetzt werden kann. Rekontextualisierungsprozesse bzw. -strategien lassen sich auf allen Ebenen unseres Bildungssystems nachweisen.

Rekontextualisierung in inklusiven Bildungsformen

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Solche Strategien erkennen wir immer dann, wenn sich die Innovation schulischer Inklusion eher an das System anpasst und nicht das System an die Innovation. Dies kann sogar zur Folge haben, dass die eigentliche Innovation bis zur Unkenntlichkeit umgeformt bzw. rekontextualisiert wird, damit sie überhaupt in Teilen implementierbar ist.

Schulleitungen wenden diese Strategien insbesondere dann an, wenn Anforderungen an sie gestellt werden, die in den ihnen zur Verfügung stehenden Strukturen nur schwer umsetzbar sind. Ein Beispiel sind die insbesondere in Schulen der Sekundarstufe eingerichteten sogenannten "Inklusionsräume", in die dann die Bildungsinnovation verlagert wird mit wenig Auswirkungen auf den Rest der Schule.

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Tatsächlich konnten zahlreiche dieser Rekontextualisierungstendenzen im Kontext des Gemeinsamen Lernens bzw. schulischer Inklusion im Bereich der Sekundarstufe I in unserer Studie 30 wie auch in anderen Studien 31 nachgewiesen werden. So hat sich z. B. gezeigt, dass Schulleitungen auf das Unbehagen von Lehrkräften, die sich für die neue Aufgabe nicht ausreichend qualifiziert sehen, reagieren und daher für "inklusive" Klassen nur solche Lehrkräfte auswählen, die sich zur Aufgabe freiwillig bereit erklären 32. Innovationen - so die Strategie - wird also versucht über Freiwillige zu realisieren. Dies führt in vielen Schulen dazu, dass letztlich keine umfassenden Schulentwicklungsprozesse in Richtung Inklusion stattfinden, sondern Gemeinsames Lernen, wenn überhaupt, auf sogenannten "inklusiven Inseln" in einzelnen Klassen praktiziert wird (ebd.).

Eine andere Strategie lässt sich bei der Auswahl von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf beobachten. Denn oftmals werden vor allem Kinder mit vermeintlich nur geringem Unterstützungsbedarf aufgenommen, während jenen mit vermeintlich höheren Unterstützungsbedarfen, z. B. dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, der Zugang kategorisch verwehrt bleibt ( siehe auch Kapitel 8.1).

Eine andere Strategie ist, die Differenzierung und Individualisierung eines Großteils der Lernzeit von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch die Sonderpädagoginnen bzw. Sonderpädagogen. Während die Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in einer fast unveränderten Art und Weise im Klassenverband unterrichtet werden, lernen die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die meiste Zeit etwas völlig anderes unter der Anleitung der Sonderpädagoginnen bzw. Sonderpädagogen.

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g_bu_1787_as_4.jpgDiese Gewissheit, dass in dem gegliederten und separierenden oder selektiven Schulsystem, so, wie wir das im Moment haben, Inklusion nicht wirklich funktionieren kann. Wir versuchen das. Und das sind vielleicht erste Schritte. Aber das bringt mich natürlich auch in eine Dilemma-Situation: Ich bin Leiter eines Gymnasiums.
(Schulleitender, Gymnasium)
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Inklusion in der Sekundarschule wird aus dieser Perspektive häufig so rekontextualisiert, dass einige freiwillige Lehrkräfte in nur einigen Klassen wenige Schülerinnen und Schüler mit nur leichtem Unterstützungsbedarfen möglichst nah an das Lernniveau der Mehrheit heranzuführen versuchen oder in die Aufsicht der Sonderpädagoginnen bzw. Sonderpädagogen geben. Dies tun sie relativ isoliert und losgelöst vom Rest der eigenen Schule 33.

Das hier eine enorme Diskrepanz zwischen dem Anspruch schulischer Inklusion ( siehe auch Kapitel 8.3) besteht bzw. entsteht und Mechanismen der Exklusion fast zwangsläufig in der Praxis der Schulen (re-) produziert werden, erscheint nachvollziehbar. Entscheidend ist, hierfür nicht einzig etwa die Schulleitungen und ihre Haltung verantwortlich zu machen, sondern ihr Handeln in den Zusammenhang schulspezifischer Rekontextualisierungsstrategien zu stellen und sachlich die auch strukturbedingten Diskrepanzen zu reflektieren, die außerhalb bzw. an der Grenze des Verantwortungsbereiches der Schulleitungen liegen. In unserer Studie hat sich gezeigt, dass die Schulleitungen hier über einen Reflexions- und Handlungsspielraum verfügen, um solche Diskrepanzen, solche Rekonextualisierungsprozesse zu antizipieren und zu bearbeiten. Beispielsweise können Maßnahmen ergriffen und Anreize geschaffen werden,

  • um wirklich das ganze Kollegium am Prozess zu beteiligen, auch nach und nach diejenigen, die sich zunächst nur zögerlich nähern;

  • um wirklich alle Schülerinnen und Schüler an der eigenen Schule aufzunehmen und ein kategoriales Denken in administrativ bescheinigten sonderpädagogischen Förderbedarfen zu überwinden;

  • um den Unterricht für alle Schülerinnen und Schüler so zu gestalten, dass sie auch im Team von Sonderpädagoginnen bzw. Sonderpädagogen und anderen Lehrkräften tatsächlich gemeinsam unterrichtet werden.

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g_bu_1787_as_4.jpgAlso für mich europaweit quasi historisch rückschrittig in dem gefühlt tausendfach gegliederten Schulsystem und dann immer gegliedert nach Bildungshintergrund und nach sozialem Hintergrund. Furchtbar. Also ich packe die in einen Kasten und wie sollen die da rauskommen?
(Schulleitende, Gesamtschule)
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Das Erkennen eigener und fremder Rekontextualisierungsstrategien ist ein offenbar bedeutsamer Schritt in einem inklusionsorientierten Schulentwicklungsprozess. Die erfolgreiche Bearbeitung von Rekontextualisierungen und Widersprüchen vor Ort hängt ganz entscheidend davon ab, ob es der Schulleitung mit der Unterstützung der anderen Akteure vor Ort gelingt, diese zu reflektieren und zu antizipieren 34. Die hier nur in Ansätzen beschriebene theoretische Idee kann helfen, die oft fälschlicherweise als Widerstände wahrgenommenen Probleme im Implementationsprozess zu verstehen und zu bearbeiten. Nachfolgende Vorschläge können Ihnen bei diesem entscheidenden Schritt helfen:

  1. 1.

    Analysieren und beschreiben Sie (gemeinsam mit Ihrem Kollegium) sachlich die Grenzen und Widersprüche der Umsetzung inklusionspädagogischer Konzepte im eigenen System.

  2. 2.

    Nutzen Sie hierzu die Systematik des Modells des Index für Inklusion 35: Kulturen - Strukturen - Praktiken

  3. 3.

    Diskutieren Sie diese gemeinsam und orientieren sich dabei immer am gemeinsam erarbeiteten Verständnis von Inklusion für Ihr System.

  4. 4.

    Suchen und reflektieren Sie gemeinsam strategische Möglichkeiten, die gezielt zur Überwindung dieser Widersprüche und Grenzen dienen könnten.

  5. 5.

    Widersprüche und Grenzen im inklusiven Schulentwicklungsprozess können als Ansatzpunkte für neue Entwicklungen gesehen werden.

  6. 6.

    Sie können sich gemeinsam die Frage stellen: Passe ich gerade meine Schule den Forderungen schulischer Inklusion oder die Idee schulischer Inklusion den Bedingungen meiner Schule an?

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