DGUV Information 206-030 - Umgang mit psychisch beeinträchtigten Beschäftigten Handlungsleitfaden für Führungskräfte

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Abschnitt 1 - 1 Psychische Auffälligkeiten und psychische Störungen

Problematik und Abgrenzung

Ist das veränderte Verhalten eines Mitarbeitenden nur eine vorübergehende Laune oder ein ernstzunehmendes gesundheitliches Warnsignal? Sind ihre oder seine Aggressionen ein Mangel an Selbstbeherrschung, die Folgen von erlebtem Stress oder eine Begleiterscheinung einer psychischen Störung? Handelt es sich bei der deutlich nachlassenden Leistung um eine Arbeitsverweigerung oder steckt eine Depression dahinter?

Jede Führungskraft, die sich solche oder ähnliche Fragen schon einmal gestellt hat, weiß, wie schwer es ist, darauf eine zufriedenstellende Antwort zu finden.

Der Übergang zwischen psychisch gesundem, psychisch beeinträchtigtem und psychisch krankem Verhalten ist oft fließend. Hinzu kommt: Was manche noch als normal bewerten, ist für andere schon auffällig, so dass die Einschätzung "gesund", "beeinträchtigt" oder "krank" nicht selten auch von der eigenen Sichtweise abhängig ist. Darüber hinaus sind psychische Beeinträchtigungen oder psychische Störungen häufig gesellschaftlich tabuisiert und werden mit persönlicher Schwäche, Unwilligkeit und gänzlicher Arbeitsunfähigkeit gleichgesetzt.

Je besser eine Führungskraft ihrer Aufgabe, ein Team zu leiten, gerecht wird, umso besser kennt sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und umso frühzeitiger kann sie deren Verhaltensveränderungen wahrnehmen und ansprechen. Spätestens handeln muss eine Führungskraft dann, wenn das Verhalten von Beschäftigten so auffällig ist oder wird, dass es den Arbeitsprozess beeinträchtigt und das Teamklima negativ beeinflusst.

Auffälliges Verhalten kann Ausdruck von psychischen Eigenheiten, psychischen Beeinträchtigungen oder psychischen Störungen sein. Führungsverantwortliche müssen unabhängig von dieser Unterscheidung im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht und Organisationsverantwortung eingreifen und für Abhilfe sorgen.

Um Führungskräften eine Hilfestellung zu geben, wie sie Verhaltensweisen ihrer Mitarbeitenden einordnen können, sollen die oben genannten Unterscheidungen nachfolgend näher beschrieben werden.

Psychische Eigenheiten

Ist eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter psychisch auffällig, kann es sich um ausgeprägte individuelle Besonderheiten im Charakter handeln, die eine Zusammenarbeit mit dieser oder diesem Beschäftigten schwierig gestalten können. Schnelles Aufgebrachtsein, ein barscher Ton oder ein Einzelgängertum können solche Charaktermerkmale sein.

Psychische Beeinträchtigungen

Psychische Beeinträchtigungen sind mehr als nur charakterliche Besonderheiten. Sie lassen auf aktuelle psychische Probleme schließen, die privat und/oder beruflich bedingt sein können. Das psychische Wohlbefinden ist beeinträchtigt, was sich unter anderem in Unwohlsein, Unzufriedenheit, innerer Zerrissenheit und emotionaler Aufgewühltheit zeigen kann.

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Psychische Störungen

Der Begriff der psychischen Störung hat in der Psychiatrie und der Psychotherapie den Begriff der psychischen Erkrankung abgelöst. Häufig werden die Begriffe synonym verwendet.

Bei psychischen Störungen handelt es sich um erhebliche Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen.

Häufige psychische Störungen sind Angsterkrankungen, affektive Störungen (vor allem Depression) und die Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, wie zum Beispiel von Drogen, Alkohol und Medikamenten (vgl. Anlage 1).

Klassifiziert und diagnostiziert werden die psychischen Störungen anhand der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems).

Typisch für psychische Störungen ist die lange Zeitdauer bis zur Genesung. Diese Beschäftigten fallen häufig für das Unternehmen über eine lange Zeit aus. Je früher eine psychische Störung erkannt und behandelt wird, desto erfolgreicher ist in der Regel der Genesungsprozess. Psychische Störungen zählen inzwischen mit zu den häufigsten Diagnosen für Arbeitsunfähigkeit und stehen an erster Stelle der Ursachen für krankheitsbedingte Frühverrentungen.

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Auf eine weitere psychische Besonderheit soll hingewiesen werden:

Akute psychische Krisen

Eine akute psychische Krise stellt einen psychischen Ausnahmezustand dar. Wenn jemand plötzlich extreme Verhaltensweisen zeigt, die von aggressiv über desorientiert und verwirrt bis hin zu nicht mehr ansprechbar reichen können, dann kann eine akute psychische Krise vorliegen. Weitere Beispiele für akute psychische Krisen sind angstauslösende Panikattacken, Wahnvorstellungen und Suizidversuche im Affekt. Ursachen für akute psychische Krisen können Extremereignisse mit physischer und/oder psychischer Gewalt sein, mit denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während der Arbeit konfrontiert werden (zum Beispiel verbale und/oder tätliche Übergriffe, Überfälle, schwere Unfälle, Nötigung, Erpressung, Morddrohung, Amoklauf ).

Nach solchen plötzlichen arbeitsbedingten Extremereignissen kann es zu massiven psychischen Beeinträchtigungen kommen. Hilfreich für eine betroffene Person ist es, wenn ausgebildete psychologische Erstbetreuerinnen und Erstbetreuer aus dem Kollegenkreis unmittelbar nach solchen Ereignissen Unterstützung geben.

Solche extremen Vorkommnisse sind auf alle Fälle zu dokumentieren, zumindest im Verbandbuch. Außerdem wird empfohlen, eine Unfallanzeige an den Unfallversicherungsträger zu senden, auch wenn kein körperlicher Schaden vorliegt. Die jeweilige Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse kann nach Einzelfallprüfung psychotherapeutische Hilfe bewilligen und zeitnah vermitteln, so dass der Entwicklung einer psychischen Störung vorgebeugt werden kann.

Psychische Störungen und akute psychische Krisen können krankheitswertig sein und werden oft von körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Schlafstörungen, verstärkter Ermüdung und Erschöpfung begleitet.