DGUV Information 202-101 - Bewegung und Lernen Konzept und Praxis Bewegter Schulen

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Abschnitt 3.2 - 3.2 Eine Bewegte Schule nimmt den ganzheitlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule ernst

Uns ist kein pädagogisches Werk bekannt, das nicht Erziehung und Bildung als ganzheitliche Prozesse ansieht und eine harmonische Entwicklung von Geist, Seele und Körper fordert. Pestalozzi hat diesen Zusammenhang so dargestellt:

"Sie sahen, dass in allem, was ihre Kinder vom Morgen bis an den Abend taten, ihr Kopf, ihr Herz und ihre Hand, folglich die drei Grundkräfte, von denen alles Fühlen und Handeln der Menschen ausgeht, gemeinsam und in Übereinstimmung unter sich selbst angesprochen, belebt, beschäftigt und gestärkt werden" (Buchenau/Spranger/Stettbacher 1960, S. 64-65).

Beckers hat in verschiedenen Beiträgen darauf hingewiesen, dass Bewegung, Körper und Leib die idealen Ansatzpunkte seien, um Bildungsprozesse in Gang zu bringen. Denn der Ort, an dem und durch den sich Einsicht und Erweiterung der Erfahrung (also Bildung) ereigne, sei der Leib, er bilde die Nahtstelle zwischen Subjekt und Welt. Etwas am eigenen Leib zu erfahren setze voraus, den Leib als Empfindungs- und Ausdrucksorgan zu entdecken. Die Ermöglichung leiblicher Erfahrungen sei eine unverzichtbare Basis für die individuelle Lebensgestaltung und damit für Bildungsprozesse.

"Hier gewinnt Leiblichkeit, die ›Erfahrung mit allen Sinnen‹, die Erfahrung der Differenz von Körperhaben und Leibsein, einen unübersehbaren Stellenwert. Unmittelbar erfahrbar wird die Existenz solcher Muster am und durch den Körper, wenn die Wiederherstellung von Sinnlichkeit als sinnliche Erfahrung gelingt" (Beckers 2003, S. 119).

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Mit Leib und Seele • Musik-Mittelschule Eggelsberg, Österreich

Foto: Theo Landrichinger

Aussagen zur ganzheitlichen Erziehung finden sich in zahlreichen aktuellen politischen Verlautbarungen zum Verständnis des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags. So betonen insbesondere die Schulgesetze der deutschen Bundesländer sowie die daraus abgeleiteten Vorgaben für Unterricht und Schulleben, dass die Schule keine Institution sei, die nur Wissen vermittle. Sie solle vielmehr die Heranwachsenden in ihrer gesamten Persönlichkeit fördern. Zur Schule gehöre daher das außerunterrichtliche Schulleben ebenso wie der Unterricht, Bewegen, Gestalten und Musizieren ebenso wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Auch in der Schweiz und Österreich betonen die Lehrpläne und bildungspolitischen Vorgaben den ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, zu dem Bewegung und Sport einen wichtiger Beitrag zu leisten habe. "Bewegungserziehung und Bewegungsförderung für alle Schülerinnen und Schüler gehören zum Bildungsauftrag der Schule. Sie leisten einen Beitrag zur Gesundheitsförderung und dienen auch der Persönlichkeitsentwicklung.« 4

Im Zuge des Ausbaus von Ganztagsschulen erhält die Forderung nach ganzheitlicher Bildung besonderes Gewicht: Ganztagsschulen sind für alle dort Lernenden und Lehrenden nicht nur Lern- bzw. Arbeits-, sondern in gleichem Maße auch Lebensraum. Deshalb gilt es, vor allem in den Ganztagsschulen förderliche Bedingungen für die Verwirklichung des ganzheitlichen Erziehungs- und Bildungsauftrags zu schaffen.

Eine Bewegte Schule nimmt diese Forderung ernst:

  • Sie fördert Schülerinnen und Schüler nicht nur in ihren intellektuellen Möglichkeiten, sondern wird auch ihren leiblichen und emotionalen Bedürfnissen gerecht.

  • Sie trägt durch die Integration von Bewegung in den Unterricht dazu bei, dass das Lernen entspannter und zugleich nachhaltiger wird.

  • Sie sichert durch vielfältige Bewegungsangebote in Unterricht und Schulleben eine Rhythmisierung des Schulalltages.

  • Sie schafft durch ein bewegungsfreundliches Schulklima förderliche Arbeitsbedingungen für Schulleitungen, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler.

Die Rhythmisierung des Schulalltages durch vielfältige Bewegungsgelegenheiten ist eine zentrale fächerübergreifende Aufgabe und grundlegende Verpflichtung für das gesamte Kollegium einer jeden Schule. Möglichkeiten zur Rhythmisierung des Schultags bieten sich zum Beispiel durch

  • einen Unterricht der Bewegung, Körper- und Raumwahrnehmung integriert;

  • die Gestaltung bewegungsaktiver Pausen;

  • die Organisation der Sportstunden als Einzelstunden und ihre gleichmäßige Verteilung über die Woche;

  • ein tägliches Angebot von außerunterrichtlichen Bewegungsaktivitäten;

  • bedürfnisgerecht platzierte kurze Bewegungspausen innerhalb des Klassen- bzw. Kursunterrichts;

  • gezielte Einbeziehung von Bewegungsmöglichkeiten in das schulische Angebot im Ganztagsbetrieb (➝ 6.4, 6.5, 7.5, 7.6, 8.1, 8.2).

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Fridtjof-Nansen-Grundschule, Hannover, Deutschland

Foto: Hermann Städtler

Insgesamt zielt die Idee der Bewegten Schule darauf ab, Bewegung in einem überfachlichen Verständnis als integralen Bestandteil des schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrags bewusst zu machen und die Rhythmisierung des Lebens, Lernens und Lehrens durch Bewegung als Gesamtanliegen der Schule und als Verpflichtung für alle Institutionen und Personen, die für die Schule Verantwortung tragen, abzusichern.

Ästhetisch-musische Bildung

Auch die ästhetische Bildung und Erziehung wird in der jüngeren Literatur von der Engführung hin auf den "Kunstunterricht"befreit und auf ihre ganzheitliche und ursprüngliche Bedeutung zurückgeführt (Dietrich/Krinninger/Schubert 2013; Rittelmeyer 2012; Zimmer 2012). Ästhetik beschreibt "einen Zugang zur Welt über die sinnliche Wahrnehmung"(Zimmer 2012, S. 188) und steht damit in unmittelbarer Nähe zu der von Edgar Beckers beschriebenen "Leiblichkeit"(s. o.). Bereits 1967 hat von Hentig die traditionellen Vorstellungen musischer Bildung kritisiert und den Begriff der ästhetischen Erziehung in die pädagogische Diskussion eingebracht. In Hentigs Verständnis bedeutet ästhetische Erziehung die systematische Ausbildung der Wahrnehmungsmöglichkeiten bzw. Wahrnehmungsfähigkeit, des Wahrnehmungsgenusses und der Wahrnehmungskritik (von Hentig 1967).

"Ästhetische Erziehung versteht Lernen nicht in erster Linie als Aneignung von Wissen, bei dem das Denken der sinnlichen Wahrnehmung übergeordnet ist. Sie versteht Lernen vielmehr als Ergebnis sinnlicher Erfahrungen, die selber Quelle von Erkenntnissen sein können. Ästhetische Erziehung in ihrem ursprünglichen Sinne kann also als eine allgemeine Theorie der sinnlichen Erkenntnis verstanden werden" (Zimmer 2012, S. 190).

Dass die ästhetische Bildung und Erziehung nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes "l’art pour l’art"ist, zeigt die Zusammenstellung von Forschungsergebnissen zu Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten von Rittelmeyer (2012). Er dokumentiert die positiven Effekte, die die Musik (aktiv und passiv) auf das räumliche Vorstellungsvermögen, Intelligenzniveau, Schulleistungen, sprachliche Kompetenzen, Kreativität bis hin zu sozialen Kompetenzen wie Kontakt- und Umgangsfähigkeit hat. Ebenso beschreibt Rittelmeyer die Nachweise über positive Transferwirkungen von Kunstunterricht, Theaterspiel und Tanzen auf soziale, nicht-verbale und verbale Kompetenzen. Rittelmeyer fasst seinen Forschungsüberblick wie folgt zusammen:

"Mir scheint, dass die hier referierten Forschungsbeispiele, Fragestellungen, methodologischen Probleme und Blickerweiterungen die Einsicht nahelegen, dass ästhetische Erfahrungen wesentliche Wirkungen über das unmittelbar ästhetische Gebiet hinaus auf kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten Heranwachsender haben. Anders ausgedrückt: Solche Erfahrungen sind immer auch eine Schule der Denk- und Reflexionsfähigkeit, der Wahrnehmungssensibilität, der emotionalen Kultivierung und der sozialen Kompetenz" (2012, S. 105).

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Sich mit Bewegung ausdrücken • Volksschule Hergiswil, Schweiz

Quelle: IQES online; Foto: Daniel Würsch

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Gemeinsam den Rhythmus finden • Grundschule Welsberg, Südtirol/Italien

Quelle: IQES online; Foto: Josef Watschinger

(➝ 6.1, 6.2, 7.6)

Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die ästhetische Erziehung nach Dietrich u. a. (2013, S. 163) vier zentrale Aufgabenbereiche:

  • Fähigkeiten vermitteln

  • Wissen vermitteln

  • Räumen der Selbstaufmerksamkeit eröffnen

  • Nach der Artikulation und Mitteilung von Erfahrung fragen

Ein vielfältiges Bewegungs-, Musik-, Tanz-, Spiel- und Sportangebot fördert nicht nur die Entwicklung kognitiver, sondern vor allem auch die Entwicklung motorischer und emotionaler Kompetenzen. Dadurch sichert die Bewegte Schule die Ganzheitlichkeit von Lehren und Lernen.

EDK: Bewegungserziehung und Bewegungsförderung in der Schule. Erklärung der Schweizerischen Erziehungsdirektoren-Konferenz vom 28. Oktober 2005, S. 1