DGUV Information 202-099 - Inklusion in Kindertageseinrichtungen Grundlegende Hinweise

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Abschnitt 3.3 - 3.3 Erwachsene

Tageseinrichtungen sind nicht nur für Kinder ein Lebensort. In ihr halten sich auch diverse erwachsene Nutzergruppen kurzzeitig oder kontinuierlich auf. Neben dem dort tätigen Personal kommen Eltern und Familien der betreuten Kinder oft täglich in die Einrichtung. Zulieferer, Gäste, Kooperationspartner etc. frequentieren das Gebäude und müssen bei dessen Gestaltung berücksichtigt werden.

Zum Personal einer Kita gehören unterschiedliche Personengruppen, die sich aufgrund vielfältiger individueller, fachspezifischer und arbeitsrechtlicher Merkmale unterscheiden. Ein Unterscheidungsmerkmal ist der Tätigkeitbereich in einer Kita. Die Gemeinsamkeit aller pädagogischen Fachkräfte, zu der die Einrichtungsleitung gehört, ergibt sich aus dem gesetzlichen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag und dem damit verbundenen permanenten unmittelbaren Kontakt zu Kindern und ihren Familien.

Technisches und hauswirtschaftliches Personal sind eher als Dienstleister "im Hintergrund" zu verstehen und bildet somit die zweite Gruppe des Personals. Aus diesem Unterschied ergeben sich diverse zielgruppenspezifische Bedürfnisse, deren Befriedigung als Handlungsgrundlage der jeweiligen Tätigkeiten verstanden werden muss. Die Arbeitsplatzanforderungen des technischen und hauswirtschaftlichen Personals in Kitas unterscheiden sich nicht wesentlich von anderen Arbeitsbereichen öffentlicher und privater Institutionen, in denen Menschen leben und arbeiten, so dass an dieser Stelle darauf nicht gesondert eingegangen wird. Spezifische Besonderheiten der Nutzergruppe der pädagogischen Fachkräfte werden jedoch nachfolgend abgebildet.

3.3.1
Bedürfnisse pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen

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Eine Tageseinrichtung für Kinder ist nach dem Elternhaus der zweit-wichtigste Raum in der frühen Kindheit. Dementsprechend hat der erste öffentliche Raum mit neuen Bezugspersonen für das Kind und seine Erziehungsberechtigten eine besondere Bedeutung. Pädagogische Fachkräfte müssen in der Kita einen gesetzlichen Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungsauftrag umsetzen. Neben ihrer eigenen Person sind dafür diverse strukturelle Bedingungen notwendig. Dazu gehört, unabhängig vom strukturellen Überbau des Trägers, die personelle und konkrete räumliche und materielle Situation vor Ort. Laut der NUBBEK-Studie 2 (2013) haben diese Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die eigentliche pädagogische Arbeit. Ausreichende und gut ausgestatte Räume können von den Erzieherinnen und Erziehern als förderliche Lernumgebung gestaltet werden. In ihnen findet das tägliche Zusammenleben statt.

Gleichzeitig ist die Einrichtung auch Arbeitsstätte und Arbeitsplatz für das pädagogische Personal. Arbeitsplätze sind Bereiche, in denen sich Beschäftigte regelmäßig über z. T. viele Jahre für einen längeren Zeitraum aufhalten.

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Der Arbeitsplatz der Erzieherinnen und Erzieher ist zum größten Teil ein "öffentlicher" Raum. Pädagogische Fachkräfte sind ständige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner der Kinder, Eltern sowie der Kolleginnen und Kollegen. Ein sehr großer Teil der Arbeitszeit ist öffentlich und wird auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen und bewertet.

Im Arbeitsbereich Kita gibt es typische Belastungen für pädagogische Fachkräfte, die diese individuell erleben und mit diversen Kompetenzen auszugleichen versuchen. So sind z. B. folgende Umgebungsfaktoren zu benennen:

  • Der Lärmpegel ist in Kindertageseinrichtungen generell hoch. Die Mehrheit des pädagogischen Personals fühlt sich durch den Lärm am Arbeitsplatz belastet, jedoch ist der Ausprägungsgrad individuell unterschiedlich. Mit zunehmendem Alter steigt die Zahl derjenigen, die sich durch Lärm stark belastet fühlen. Lärm wirkt sich negativ auf das individuelle Wohlbefinden aus, vermindert die Leistungsfähigkeit und die Arbeitszufriedenheit. Belastete Erzieherinnen und Erzieher arbeiten mit schlechterer pädagogischer Prozessqualität, was fatale Folgen für Bindungsaufbau, Kontaktpflege und Kommunikation mit den Kindern hat. Schlechte akustische Bedingungen mit großen Nachhallzeiten setzen einen Kreislauf der Rückkopplung in Gang, der sich direkt auf den Spracherwerb von Kindern auswirkt: Aufgrund der Halligkeit wird die Sprachverständlichkeit reduziert, es wird lauter gesprochen, der Lärmpegel steigt, die Sprachverständlichkeit wird weiter reduziert, es wird lauter gesprochen etc. (UK NRW/BGW/LIA NRW 2015). Von der Durchführung von Lärmschutzmaßnahmen profitieren sowohl das pädagogische Personal als auch die Kinder. Lärmreduzierend wirken u. a. der Einbau von Akustikdecken, der Einsatz von lärmgedämpften Möbeln und Spielzeug sowie die organisatorische Entzerrung von Lärmspitzen (Viernickel/Weßels 2015; DGUV Information 202-093, 2017).

  • Die Betreuung, Unterstützung und Pflege kleiner Kinder stellt enorme körperliche Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte durch schweres Heben und Tragen, ungünstige Körperhaltungen beim Spielen und eine Arbeitsumgebung, die sich in erster Linie an den Bedürfnissen der Kinder orientiert, so dass die Fachkräfte oft auf viel zu kleinen Stühlen sitzen oder zu niedrige Regale bzw. Schänke benutzen. Diese schlechten ergonomischen Arbeitsbedingungen bilden einen bedeutsamen Risikofaktor in Hinblick auf die Gesundheit der Erzieherinnen und Erzieher. Notwendig ist die Ausstattung mit ergonomischen Möbeln für das gesamte Personal, z. B. für schriftliche Arbeiten, Pausenzeiten und Besprechungen, sowie mit Treppen für die Kinder zum selbstständigen Aufsteigen auf den Wickeltisch.

  • Hinzu kommt chronischer Zeitdruck, der häufig zu unzureichenden Pausen führt, so dass die psychische und emotionale Belastung in der Arbeitszeit durch fehlende Rückzugsmöglichkeiten verstärkt wird (Thinschmidt 2010).

"Als Folge dieser Belastungen können bei Erzieher/-innen u. a. Beschwerden des Bewegungsapparates, insbesondere in Rücken, Schulter und Nacken, Kopfschmerz, Ermüdbarkeit, Nervosität und Unruhe, Erkältungen und Stimmprobleme auftreten" (Kirche 2009). Generell haben weibliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen im Vergleich zu gleichaltrigen Frauen, die in anderen Berufen tätig sind, eine deutlich schlechtere subjektive Gesundheit und sind häufiger dauerhaft aufgrund gesundheitlicher Probleme im Berufsalltag eingeschränkt. Eine Studie der Alice-Salomon-Hochschule Berlin (ASH) im Auftrag der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen (UK NRW) und der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) über "Strukturqualität und Erzieherinnengesundheit" in NRW belegt diese eindeutigen Zusammenhänge zwischen strukturellen Rahmenbedingungen in Kitas und dem Gesundheitszustand der pädagogischen Fachkräfte auf (Viernickel/Voss 2013).

Aus diesem Bedingungsgefüge ergeben sich für die pädagogischen Fachkräfte in Kitas spezifische Bedürfnissituationen. Das Theoriemodell von Grawe (2004) beschreibt die Bedürfnisse nach Orientierung und Kontrolle, nach Lustgewinn und Unlustvermeidung, nach Bindung sowie nach Selbstwerterhöhung bzw. Selbstschutz. Sie müssen als konsistente Handlungsmotivatoren menschlicher Aktivität verstanden werden.

Da pädagogische Fachkräfte dafür verantwortlich sind, Kindern ihrer Einrichtung eine Umgebung des Wohlbefindens, der Sicherheit und Geborgenheit zu bieten, benötigen sie selbst Orientierung und Kontrolle über dieses Setting. Von ihrem eigenen Wohlbefinden hängt entscheidend die Qualität ihrer pädagogischen Arbeit ab. Zu deren Sicherstellung muss die Gestaltung der Tagesabläufe und Räume (Ergonomie und Akustik), die Nutzung, Lagerung und Pflege von Material und Unterlagen physisch angemessen und sicher (Datenschutz) sowie Verantwortungsbereiche transparent sein und bei Bedarf auch neu strukturiert werden können. Aktuelle Informationen müssen geregelt eingeholt bzw. weitergegeben werden können. Das Recht, die eigene fachliche Kompetenz einzubringen, Entscheidungsfreiheit zu haben bei alltäglichen Abläufen, aber auch bei längerfristigen Gestaltungen und Entscheidungen, befriedigen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit (Bindung) und Selbstwerterhöhung bzw. Selbstschutz.

Wohlbefinden, als Bedürfnis nach Unlustvermeidung und Lustgewinn, benötigt als Voraussetzung das Gefühl, ein Setting kompetent gestalten und nutzen zu können. Dazu gehören zuerst die selbstbestimme Regulation und Befriedigung der eigenen physischen und psychischen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Erholung, Entspannung sowie die sichere Aufbewahrung persönlicher Sachen und die Kommunikation im Tagesverlauf.

NUBBEK = Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit, siehe Literaturverzeichnis unter Tietze 2013

3.3.2
Bedürfnisse von Eltern und Familien in Kindertageseinrichtungen

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Eltern sind die ersten Bezugspersonen ihrer Kinder. Die in der Familie erlebte Sozialisation beeinflusst die Entwicklung eines Kindes und seine Bildungsbiografie maßgeblich. Mit dem Eintritt in eine Kindertageseinrichtung erfährt das Kleinkind neben der Familie eine weitere wichtige "Lebenswelt" und "Sozialisationsinstanz". Die Situation der Eltern in einer Kita wird immer bedeutsamen Einfluss auf das kindliche Erleben haben. Kinder nutzen ihre Eltern als Modelle für ihr Verhalten zu pädagogischen Fachkräften, zu anderen Kindern und in Gebäuden und Räumen. Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass Eltern und Familien sich willkommen fühlen, Orientierung, Kontaktaufnahme und Zugehörigkeit erleben. Ausschlaggebend ist, dass "das Kind die Zusammenarbeit [...] als positiv und vertrauensvoll erlebt" (MFKJKS/MSW 2016, S. 62). Was das für die Nutzergruppe Eltern und Familien bedeutet, wird nachfolgend dargestellt.

Das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz orientiert sich ganz auf das eigene Kind: Ist mein Kind hier sicher? Fühlt es sich geborgen und angenommen? Was genau passiert mit meinem Kind? Wo kann ich Gegenstände wie etwa einen Kinderwagen, Jacken, Spielzeug, Fahrzeuge (Roller etc.) abstellen?

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Das Bedürfnis nach Information und Austausch dient der Orientierung und Kontrolle dieser "neuen Lebenswelt". Eltern brauchen und suchen zuerst den regelmäßigen Austausch mit den Bezugserzieherinnen und -erziehern ihres Kindes. Das wird in Kitas über Tür- und Angel-Gespräche, Aufnahme-, Eingewöhnungs- und Entwicklungsgespräche oder ggf. auch Hausbesuche ermöglicht. Informationen erhalten die Eltern über die schriftliche Konzeption der Einrichtung, über die Homepage, Elternbriefe, E-Mails, Fotos, Ausstellungen der Arbeitsprodukte der Kinder, Hospitationen und Elternabende. Angebote, die neben der Information der Unterstützung der Familienerziehung dienen, sind z. B. Elternkurse, Vorträge, Veranstaltungen zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz, Elternstammtische und -cafés. Größere Herausforderungen stellen diese Bedürfnisse für Familien mit Migrationshintergrund dar. Hier müssen in den Kitas z. B. mehrsprachige Aushänge und Flyer erarbeitet und ggf. Dolmetscher hinzugezogen werden.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Teilhabe fokussiert auf das Wohlbefinden der Eltern und Familien und ihr Recht auf aktive Mitgestaltung. Zu den rechtlich verankerten Formen der Mitbestimmung von Eltern in der Kindertageseinrichtung zählen die Elternversammlung, das gewählte Gremium des Elternbeirates und der Rat der Tageseinrichtung. Zusätzlich gibt es vielfältige Möglichkeiten der Elternmitwirkung, z. B. Mitgestaltung von Festen, Begleitung von Ausflügen, Gartenpflege, Reparaturarbeiten, Einbringung beruflicher Kompetenzen und eigener Ideen. Kontakte mit anderen Familien und weiteren Eltern können über Elternstammtische, Flyer, Termine und Treffpunkte, Projekte, Ausflüge etc. gesucht und gepflegt werden. Eltern und Familien mit eingeschränktem Raumnutzungsverhalten (z. B. benachteilige oder psychisch kranke Personen, Migranten) benötigen eine spezifische niedrigschwellige Willkommenskultur und individuelle Unterstützungsangebote. Sie werden mit den üblichen Zugängen und Informationswegen oft nur punktuell erreicht.