DGUV Information 202-098 - Impulse für die Förderung der Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern

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Abschnitt 5.2 - 5.2 Steuerungsaufgabe: Auftauen - Individuelle und gemeinsame Förderung von Änderungsbereitschaft und Kontrolle von Widerstand

Mit jeder der drei Phasen aus Abbildung 5.1 ist eine spezifische Steuerungsaufgabe verbunden.

  1. (1)

    Das Auftauen zielt darauf, die Änderungsbereitschaft möglichst aller Organisationsmitglieder zu fördern und aufrechtzuerhalten.

  2. (2)

    Das Verändern zielt auf die mentale Planung der Veränderung mit allen Maßnahmen und Handlungsschritten sowie erste Anwendung "im laufenden Betrieb" (= Verändern). Diese Phase geht über in

  3. (3)

    Die Stabilisierung, d.h. die flexible Ausführung des Handlungsplanes mit rechtzeitiger Feinjustierung und Stabilisierung des Neuen in entsprechenden Alltagssituationen.

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Abbildung 5.2: Steuerungsaufgaben zwischen Auftauen und Stabilisieren

Diese Steuerungsaufgaben bleiben über die gesamte Prozessdauer hinweg relevant: Zum einen muss ein Veränderungsvorhaben immer wieder reflektiert und evaluiert werden, indem frühere Schritte in mehreren Schleifen durchlaufen werden. Zum anderen können auch in fortgeschrittenen Phasen Motivationsfragen und Hürden auftauchen oder Maßnahmen sich als ungeeignet erweisen, was u. U. erfordert, Zwischenziele zu korrigieren oder gar ein sich als ungeeignet oder unerreichbar erweisendes Ziel rechtzeitig aufzugeben.

5.2.1
Inkongruenz-Erfahrungen als Voraussetzung von Änderungsbereitschaft ermöglichen

Wie in Abschnitt 5.1.1 erwähnt, kann der Anstoß für Veränderungen unterschiedlichste Quellen haben. Immer aber geht es um Inkongruenz-Erfahrungen, d. h., was bisher erfolgreich war, eindeutig bzw. unproblematisch schien, wird nun ambivalent erlebt und verlangt Aufmerksamkeit. Sieland und Heyse (2010, 91 ff.) haben diesen Prozess detailliert beschrieben. Solche Ist-Soll-Abweichungen entstehen, wenn Handlungsgewohnheiten spürbar anstrengender werden, auf Widerstand und Kritik stoßen, nicht mehr zu den gewünschten Zielen führen oder unerwünschte Nebenwirkungen erkennbar werden. Auch Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation, Supervisionserfahrung, ein Feedback, Direktiven "von oben" oder eine Weiterbildung können bisherige Gewohnheiten als kontraproduktiv bewusst machen, ebenso wie geänderte Anforderungen am Arbeitsplatz oder ein kritisches Lebensereignis bei sich selbst oder nahe stehenden Personen. Ohne solche Inkongruenz-Erfahrungen, d. h., wenn alles so ist, wie es sein sollte, gibt es keinen Anlass, etwas zu ändern! Psychologisch betrachtet handelt es sich um eine Diskrepanz zwischen Anforderungen, Leistungsvoraussetzungen sowie erwünschten und erreichten Handlungsergebnissen.

Definition: Inkongruenzerfahrung
Personen prüfen neue Erkenntnisse, eigene Erfahrungen oder Erwartungen von außen darauf, ob sie mit ihren Wertvorstellungen, ihrem Selbstbild, ihren Überzeugungen, Wünschen, Zielen... übereinstimmen (=kongruent). Ist das der Fall, fühlt sich die Person bestätigt. Inkongruenz hingegen wird meist als unangenehm erlebt. Das Bewusstwerden dieses unangenehmen Gefühls oder die kognitive Wahrnehmung der Unstimmigkeit können zum Ausgangspunkt für Veränderungen im Denken und Handeln werden, um eine Passung wieder herzustellen. Ohne unangenehme Diskrepanzen zwischen IST und SOLL fehlt der Person die Motivation für Veränderungen.

Abbildung 5.3 soll diesen Zusammenhang deutlich machen. Im beruflichen wie privaten Leben erleben Personen (im übertragenen Sinn gilt das auch für Organisationen) externe Anforderungen und innere Gestaltungswünsche (Position 1). Wie sie mit diesen Anforderungen umgehen, hängt ab von ihren Leistungsvoraussetzungen, d. h. von Kompetenzen und Ressourcen, die die Zielerreichung begünstigen, und von Einschränkungen und Belastungsfaktoren, die die Aufgabenerfüllung erschweren (Position 2). Dieses Kräftespiel zwischen Anforderungen (1) und Leistungsvoraussetzungen (2) wird als individuelle, subjektive Beanspruchung beim Handeln erlebt (3). Damit wird ausgedrückt, dass objektiv gleiche Situationen von den einen eher als interessante Herausforderung, von anderen aber als bedrohliche Überforderung interpretiert werden. Das Handlungsergebnis wird als Erfolg oder Misserfolg betrachtet. Es beeinflusst die künftigen Leistungen sowie die Gesundheit der Person und wirkt über die Arbeits- und Lebenszufriedenheit (4 und 5) zurück auf die Leistungsvoraussetzungen für künftige Anforderungen (2).

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Abbildung 5.3: Zusammenhang von Anforderungen, Leistungsvoraussetzungen und Handlungsergebnissen (vgl. Sieland, 2007)

Inkongruenz-Erfahrungen treten auf, wenn dieses System nicht mehr routinemäßig funktioniert.

Bei geringfügigen Ist-Soll-Diskrepanzen wird im Sinne der Selbstregulation ein alternatives Verhalten aus dem eigenen Repertoire aktiviert, mit dem das System etwas modifiziert weiter bestehen kann. Bei gravierenden Hindernissen wird jedoch ein Reflexionsprozess einsetzen, der einen Änderungsbedarf oder ein Änderungsbedürfnis deutlich macht und zu einer bewussten Entscheidung für Um- oder Neuorientierung führt (Sieland & Heyse, 2010). Dies kann sowohl in die Richtung gehen, (1) Anforderungen zu vermeiden, die man nicht (mehr) bewältigen kann, als auch (2) Ansprüche an die Qualität der Ergebnisse und die Folgen für die Gesundheit zu reduzieren ("Saure-Trauben-Reaktion"), (3) die Leistungsfähigkeit zu stärken, (4) Handlungen zu verändern oder Belastungen abzubauen. In jedem Fall geht es um die Veränderung von Denken und Verhalten.

Information: Daten für Taten
Konkret könnte das z. B. für eine änderungsinteressierte Person, die im AVEM, dem Test für Arbeitsbezogene Verhaltens- und Erlebensmuster (Schaarschmidt & Fischer, 2008), dem Risikotyp A (Selbstüberforderer) zugerechnet wird, bedeuten:
  • Situationen anders einschätzen: Nicht mehr nur: "Ich bin beruflich besonders engagiert", sondern auch: "Gleichzeitig vernachlässige ich meine Gesundheit sträflich."

  • Handlungsweisen anders einschätzen: Nicht mehr nur: "Ich übernehme gerne noch eine Aufgabe für das Kollegium.", sondern auch: "Damit entziehe ich mich noch mehr meiner Familie und übe mich noch mehr in Selbstausbeutung."

  • Handlungsergebnisse anders einschätzen: Nicht mehr nur: "Die Kolleginnen und Kollegen werden davon profitieren.", sondern auch: "Manche werden mein Engagement als Strebertum einschätzen, werden denken, mir fehlen andere Lebensziele."

  • Handlungsfolgen anders einschätzen: Nicht mehr nur: "Nach diesem Engagement werden mich die Kolleginnen und Kollegen mit weiteren Aufgaben verschonen.", sondern auch: "Je mehr Aufgaben ich übernehme, umso besser üben die anderen ihre Entschuldigungen, sich davor zu ‘drücken‘!"

  • Bisheriges (unbewusstes) Ziel ändern; Nicht mehr: nett und hilfsbereit erscheinen; gemocht werden; Streit vermeiden; Kontrolle ausüben...

  • Bisheriges Verhalten beenden Nicht mehr: andere fragen, ob ich helfen kann; nicht nein sagen können, auch wenn die Bitten anderer meine eigenen Wünsche erheblich blockieren; sich für alles mitverantwortlich fühlen; anderen die Wünsche vom Gesicht ablesen ("möchtest du, dass ich...?"); ...

  • Neues Ziel definieren: Die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung verbessern; mein Leben leben...

  • Neues Verhalten praktizieren: Mir meine Wünsche bewusst machen und sie aufschreiben; kein sofortiges Eingehen auf Wünsche anderer; Bedenkzeit einfordern oder freundlich, aber bestimmt, nein sagen - ohne Entschuldigung; Verantwortung da lassen, wo sie ist...

  • Bisherige Folgen klarmachen: Selbst-Überforderung und Selbstentfremdung (ich weiß genauer, was andere von mir wollen, als dass ich wüsste, was ich von mir selbst erwarte); Erschöpfung; ...

  • Künftige Folgen imaginieren: Auseinandersetzung mit anderen; Klage und Leid anderer aushalten müssen - aber mehr Freude mit mir selbst ...

Inkongruenz-Erfahrungen werden vor allem dann von Änderungsbedürfnis oder Änderungsbedarf zu Änderungsbereitschaft führen, wenn sie optimal dosiert sind. Zu schwache oder kurze Impulse werden übersehen oder vernachlässigt. Zu starke Ist-Soll-Abweichungen werden leicht als Bedrohung erlebt und mobilisieren eher Abwehr und Hilflosigkeit als Änderungsbereitschaft. Sie binden dann viel Steuerungskapazität zur Vermeidung von Destabilisierung und zur Aufrechterhaltung des Selbstwertes, sodass eine konstruktive Auseinandersetzung zunächst sehr schwer wird.

Jeder Änderungsimpuls - komme er von außen oder aus innerem Antrieb - verlangt eine Güterabwägung und eine Entscheidung. Beides ist durch das Risiko zweier Fehler gefährdet:

  1. 1.

    Unterlassungsfehler: Man reagiert nicht, zu spät oder zu schwach und verpasst damit Chancen bzw. läuft Gefahr, negativen Entwicklungen nicht rechtzeitig gegenzusteuern.

  2. 2.

    Handlungsfehler: Man lässt sich auf Änderungshandeln ein, verfehlt aber trotz aufwendiger Aktionen die Ziele, z. B. weil man ziel-ungeeignete Maßnahmen ergreift, während des Prozesses aus unterschiedlichen Beweggründen oder Zwängen aufgibt, weil unerwünschte und untragbare Nebenwirkungen auftreten oder die Folgen ein neues Problem darstellen. Z. B. kann die Einführung von sogenannten Rückkehr-Gesprächen nach längerer Krankheit als fürsorgliche persönliche Anteilnahme und als Evaluationsmöglichkeit für Belastungsfaktoren begrüßt oder aber als Bespitzelung und Einmischung in die Privatsphäre interpretiert werden.

Beide Fehlentscheidungen lassen sich durch sorgfältige Analyse der Ausgangssituation mit ihrem objektiven Änderungsbedarf oder subjektiven Änderungsbedürfnis, der angestrebten Ziele und Zwischenziele, der Ressourcen, Potenziale und Widerstände, der Maßnahmen und ihrer Wirkungen zwar nicht immer vermeiden, doch zumindest reduzieren - ganz besonders dann, wenn es gepaart ist mit weitgehender Transparenz und Partizipation im Vorgehen, wodurch die Betroffenen zu Beteiligten werden.

Was hier für die Einzelperson ausgeführt wird, gilt im übertragenen Sinn auch für Organisationen. Auch dort können geringfügige Ist-Soll-Diskrepanzen zu Steuerbewegungen führen, die im Rahmen eines Spektrums von bewährten Reaktionsmöglichkeiten liegen. Erst wenn z. B. die Gewaltproblematik an einer Schule, der Gesundheitszustand eines wesentlichen Teils des Kollegiums, unproduktive Arbeitsbelastung, die Konflikte zwischen Schulleitung und Lehrerinnen und Lehrern so eskalieren, dass das übliche Reaktionsschema nicht mehr greift, stellt sich die Frage nach umfassenden Veränderungen. Allerdings muss das Kollegium dann auch mit ausreichender Intensität spüren, dass es selbst am Zuge ist und anderweitige Erklärungen, Ablenkung oder Emotionsregulation (Bagatellisieren, Verdrängen ...) nicht mehr greifen. Nur dann erreicht die Änderungsbereitschaft das erforderliche Niveau zum Auftauen der gewohnten Sicht- und Handlungsweisen (Lewin, 1958).

Allerdings ist vor missionarischem Eifer und Ungeduld zu warnen. Wenn ein Protagonist (s)ein Gesundheitsziel zu euphorisch anpreist, erhöht er den Änderungswiderstand von Skeptikern oder begünstigt eine kurzfristige Änderungseuphorie und damit schnelle Entmutigung bei Misserfolgen. Organisationsentwicklung zielt in der Regel auf langfristige Änderungswünsche und -ziele ab; kurzfristige motivationale Strohfeuer sind als Startkapital eher hinderlich.

Inkongruenz-Erfahrungen durch Ist-Stand-Analyse provozieren

Wenn sich Inkongruenz-Erfahrungen nur als diffuse Unzufriedenheit bemerkbar machen oder die Meinungen in einem Kollegium sehr auseinander gehen, können sachorientierte, differenzierte Ist-Stand-Analysen zu einer Klärung beitragen. Sie schützen auch bei einmütiger Änderungsbereitschaft vor übereilten Abwehr- oder Lösungsversuchen (bevor klar ist, worin das Problem liegt, wer es hat und welche Bedingungen eine mögliche Lösung erfüllen soll). Handlungsziele werden ja vielfach ambivalent, d. h. als vorteilhaft und riskant zugleich erlebt. Sie müssen von den zu motivierenden Personen als wünschenswert, d. h. mit dem Selbstbild vereinbar bzw. als Selbstwert steigernd bewertet werden, und diese müssen bereit sein, sich öffentlich dazu zu bekennen.

Gesundheitsförderer sollten beachten: Statt ein Kollegium von außen zu bewerten, sollte es seine Gesundheitsentwicklung in Vergangenheit und Zukunft selbst beurteilen. Anstelle eines Unbedingtheitsanspruches von Veränderung sollte die Ambivalenz von Handeln und Nicht-Handeln bewusst gemacht werden. Personen sollten nicht gezwungen werden, ihr bisheriges Verhalten als völlig falsch oder unverantwortlich ablehnen zu müssen, und die diskutierten Lösungen sollten auch nicht mit einem Absolutheitsanspruch versehen werden. Dann besteht die Chance für eine mittelfristig belastbare Änderungsmotivation. Man fühlt sich mitgenommen und kann mitentscheiden, wo und wie man sich selbst und das System verändern möchte.

Ein Königsweg, Inkongruenz-Erfahrungen rational aufzuarbeiten, ist die SWOT-Analyse (vgl. Abb. 5.4). Eine Fragestellung wird in vier Richtungen nach positiven und problematischen Aspekten untersucht (Stärken-Schwächen-Chancen-Gefahren/Bedrohungen; engl: Strength, Weakness, Opportunities, Threads = SWOT). Abbildung 5.4 zeigt ein allgemeines Beispiel für eine individuelle Situationsanalyse; dies kann ohne weiteres auf eine Organisation übertragen werden (Heyse, 2011). Besonders effektiv stellt sich SWOT dar, wenn die eigene Perspektive durch eine Fremdperspektive (z. B. von einem "kritischen Freund") ergänzt wird.

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Abbildung 5.4: Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Gefahren (SWOT)

Tipp
Suchen Sie nach günstigen und ungünstigen Beispielen in Ihren Projekterfahrungen für die geschilderten Zusammenhänge. Im Internet finden Sie eine Kopiervorlage für die SWOT-Analyse.ccc_3595_08.jpg

Neben diesen informellen Instrumenten werden auch objektivierte Diagnosen zur Bestandsaufnahme angeboten.

Information: Diagnose-Tools für Schulen
IQES - Instrumente für die Qualitätsentwicklung und Evaluation in Schulen (www.iqesonline.net/)
IEGL - Inventar zur Erfassung von Gesundheitsressourcen im Lehrerberuf (http://www.ichundmeineschule.eu)

5.2.2
Widerstand: Individuelle Änderungshindernisse erkennen

Änderungsarbeit ist selten ein Neuanfang im eigentlichen Sinne, sondern baut auf Vorerfahrungen und Einstellungen aller Beteiligten auf. Nur wenige Änderungsimpulse und realisierte Veränderungen erweisen sich sofort als befriedigend und vorteilhaft. Vielmehr ist der Verzicht auf Gewohnheiten, Haltungen oder Regeln mit Verunsicherung verbunden, die mit Willenskraft gesteuert werden muss - nicht selten über lange Zeiträume. Es kommt erst dann zu einem selbst tragenden Prozess, wenn der Veränderungsgewinn spürbar wird. Während der "Durststrecke" erleben die Änderungsbeteiligten immer wieder von außen oder innen die Versuchung, zu den alten Gewohnheiten zurückzukehren oder konkurrierende Ziele anzusteuern, die vermeintlich noch besser sind, bevor das vereinbarte Ziel erreicht ist. Organisationsentwicklung ist deswegen so schwierig, weil Veränderungen dort anfangen, wo sie dem größten Widerstand ausgesetzt sind: Im Kopf der Menschen (Heyse, 2011).

Einige Quellen von Widerstand seien etwas näher betrachtet. Die Leserinnen und Leser sollten ihre bisherigen Projekterfahrungen damit in Beziehung setzen. Zunächst geht es um individuelle Änderungshindernisse.

Man muss normalerweise mit drei Arten von Widerständen gegen einen Veränderungsplan rechnen:

  • Ich-Hindernisse in der einzelnen Person: Z. B. widersprüchliche Motivation, fehlende Fähigkeiten, Übungsmangel, Überforderung, fehlende Selbstkonkordanz, typische Entschuldigungen

Definition: Selbstkonkordanz
Selbstkonkordanz wird als das Ausmaß definiert, mit dem einerseits die Ziele und andererseits die authentischen Interessen und Werte einer Person vereinbar sind.
  • Du-Hindernisse durch Mitmenschen bzw. Interaktionspartner: Partner, Freunde, Kollegen, Vorgesetzte, Untergebene und andere relevanten Gruppen, die negativ auf geändertes Verhalten reagieren

  • Es-Hindernisse in der Organisation: Zeitmangel, ungünstige Strukturen, Denkströmungen, Rechtsunsicherheit, Ressourcenmangel

Wenn hier ernsthafte Barrieren deutlich werden, muss man sich damit ausdrücklich befassen und ggf. zunächst einen Plan für deren Bewältigung entwerfen.

Subjektive Theorien reflektieren

Alle Betroffenen haben mehr oder weniger prägnante Vorstellungen und Prioritäten, welche Aspekte ihrer Arbeit - Verfahrensweisen, Gewohnheiten oder Regeln und Organisationsstrukturen - sie unter gesundheitlichen Aspekten für besonders erhaltens- oder änderungswürdig halten. Änderungsbedürfnis und Veränderungsbereitschaft hängen ganz wesentlich von diesen "subjektiven Theorien" ab. Die subjektiven Theorien von Schulleiterinnen und Schulleitern darüber, wie Menschen oder eine Schule zu führen seien, was eine gute und gesunde Schule ist usw., wirken sich u. a. auf ihren Führungsstil und ihre Innovationskonzepte aus. Auch Lehrkräfte selbst, Schülerinnen, Schüler und Eltern haben subjektive Theorien darüber, was ein guter Lehrer, eine gute Schule und Schulleitung ist. Diese müssen nicht unbedingt kongruent sein. Wenn darüber nicht kommuniziert wird, resultieren Konflikte, Misstrauen und Widerstand. Argyris (1990) unterscheidet in diesem Zusammenhang offiziell vertretene Theorien und Leitsätze, wie gute Praxis im Prinzip funktionieren sollte (=expoused theory), von den Theorien, die der realisierten Praxis zugrunde liegen und diese rechtfertigen (=theory in use). Nicht selten stimmt beides nicht überein ("Sie predigen Wasser und trinken Wein").

Definition: Subjektive Theorien
Subjektive Theorien sind Modelle von Wirklichkeit, mit denen wir versuchen, uns die Welt zu erklären, indem wir subjektiv plausible Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Erscheinungen in unserer Erlebniswelt herstellen oder Ursachen und Wirkungen für uns definieren. Sie sind in hohem Maße individuell, können aber auch von Gruppen geteilt werden, deren Mitglieder ähnlich denken. Wir entwickeln sie aufgrund unserer Erfahrungen, durch soziale Kontakte und angeeignetes Wissen. Wissenschaftlich-objektive Theorien beruhen hingegen auf systematischer Forschung unter professionellen Standards. Die subjektiven Modelle können mehr oder minder differenziert wissenschaftlich fundierten Theorien oder der "objektiven" Wirklichkeit angemessen sein.
In der Regel wird man sich der eigenen subjektiven Theorien erst in der Auseinandersetzung mit anderen Personen bewusst; dennoch haben sie großen Einfluss auf unser Handeln und Denken und sind schwer aufzubrechen, selbst wenn objektive Erkenntnisse dagegen stehen.

Bemerken die Akteure jedoch nicht, dass ihre tatsächliche Praxis von ihren subjektiven Theorien abweicht, fehlt ihnen die Inkongruenz-Erfahrung mit dem Impuls zur Veränderung.

Unterschiedliche Problemwahrnehmung verstehen

Widerstände in einem Kollegium zu Beginn und im Verlauf von Veränderungsprozessen können auch daraus resultieren, dass die Kolleginnen und Kollegen sich auf unterschiedlichen Stufen der Problemwahrnehmung befinden und sich nicht im Gleichtakt eines Veränderungsprozesses bewegen. Daraus entstehende Skepsis und Zurückhaltung sollten zunächst als normale und realistische Reaktionen verstanden und nicht als Signale der Faulheit oder Angst der üblichen "Bedenkenträger" pathologisiert werden. Prochaska und Diclemente (1992) haben im Zusammenhang mit Suchtverhalten ein Modell entwickelt, die Theorie der "Stufen des Wandels". Es unterscheidet die Stufen: Sorglosigkeit - Bewusstwerdung - Veränderungsplanung - Handlung/Ausführung - Routine/Stabilisierung. Die Stufen werden nicht unbedingt linear durchlaufen, da es immer wieder Rückschritte und Rückgriffe, Korrekturen von Entscheidungen, Rückkoppelungen usw. geben kann (s. Abb. 5.5). Die Theorie kann zum Verständnis individueller und kollegialer Änderungswiderstände beitragen, wenn Personen Veränderung in unterschiedlichem Maß für notwendig halten oder sich mit einem Änderungsziel unterschiedlich stark identifizieren.

Die ersten beiden Stufen bis hin zu Änderungsbereitschaft haben wir bereits als "Auftauen" ausführlich diskutiert. Auch in den folgenden Phasen der Planung und Ausführung ist ein Projekt immer wieder durch mehr oder weniger starke Änderungsresistenzen gefährdet.

Definition: Änderungsresistenz
Personen und Organisationen funktionieren in der Regel routinemäßig mehr oder weniger stabil. Wenn sich aber das Umfeld verändert oder neue Anforderungen bewältigt werden sollen, müssen sie im Dienste ihrer Zukunftsfähigkeit darauf reagieren. Änderungsresistenz bezeichnet den Widerstand von Einzelpersonen, Teams und Organisationen gegen den Veränderungsdruck und den Versuch, möglichst den Status Quo zu bewahren. Dabei sind durchaus Unterschiede zwischen Einzelpersonen und Menschen in Organisationen zu verzeichnen: Während die einen dem Wandel offen gegenüberstehen, wehren sich andere gegen Veränderungen - nicht selten ambivalent, wenn sie sich selbst nicht ändern wollen, aber dies von anderen erwarten, um von etwaigen Vorteilen des neuen Zustandes zu profitieren. Änderungsagenten benötigen eine besondere Sensibilität, Änderungsresistenz zu verstehen und damit respektvoll umzugehen.
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Abbildung 5.5: Fünf Phasen der Änderungsbereitschaft und Änderungsresistenz (Sieland & Heyse, 2010 nach Prochaska & Diclemente, 1992)

Zwar haben Personen auf der Stufe der Planung von Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung bereits eingesehen, dass sie sich um ihre gesundheitlichen Leistungsvoraussetzungen kümmern sollten. Vielleicht ist diese Einsicht durch Ist-Stand-Analysen und objektive Diagnosen verstärkt worden. Dennoch muss die Änderungsbereitschaft immer wieder durch effektive Motivierungsstrategien gepflegt und gegen Resistenz abgesichert werden. Arbeitsgruppen können durch gemeinsame Diagnosen und Arbeitsprozesse dafür eine gute Basis sein. So praktizieren z. B. die Weight-Watchers wöchentliche Treffen zur Stützung ihrer Änderungsbereitschaft und gegenseitigen Kontrolle, indem sie objektive Rückmeldungen von der Personenwaage gemeinsam registrieren. In Untergruppen könnten Kollegiumsmitglieder verschiedene Handlungsziele in dem gemeinsamen Projekt entwickeln und verfolgen und die Erfahrung bekommen: Wir haben unterschiedliche Problemansichten, aber wir können einzeln oder in kleinen Gruppen etwas zusammen unternehmen (vgl. auch das Kap. 9 in diesem Buch)!

Nicht nur hinsichtlich des Bewusstseins für ein bestimmtes Problem gibt es individuelle Unterschiede, auch in der Art und Weise, wie sie mit krisenhaften Situationen (Inkongruenz-Erfahrungen) umgehen, unterscheiden sich die Mitglieder eines Kollegiums. Schley (1988) spricht in Anlehnung an Kübler-Ross (1980) von der Bewältigungsspirale und unterscheidet vier Stufen: Nicht wahrhaben wollen/Ignorieren, Auflehnung/Suche nach Schuldigen, Resignation/Depression, Aufbruch zu neuen Ufern (Abb. 5.6).

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Abbildung 5.6: Spirale der Krisenbewältigung (nach: Schley, 1988)

Diese Entwicklung verläuft in Gruppen durchaus nicht im Gleichtakt. Während die einen sich noch so verhalten, als sei nichts geschehen, suchen andere schon nach Lösungen. Wo manche Personen Schuldige ausfindig machen wollen (und sie vielfach in der Gesellschaft lokalisieren), lassen andere alle Hoffnung fahren ("man kann ja doch nichts ändern") und isolieren sich oder idealisieren die gute Beziehung zu ihrer Klasse. Schley (1998) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen "Sensitizern", die Probleme und Chancen früh bemerken, und "Repressern" die erst spät unter Zeit- und Lösungsdruck aktiv werden, sowie zwischen Personen, die primär verändern bzw. bewahren wollen, und solchen, die mehr Gewicht auf schnelle Lösungen legen oder stärker einen sorgfältigen, reflektierten Klärungsprozess bevorzugen. Diese unterschiedlichen Stile und Selbstverständnisse in einer Gruppe erschweren zusätzlich ein gemeinsames Verständnis und eine kollegiale Änderungsbereitschaft.

In derartigen Konstellationen ist eine einfühlsame Gesprächsführung seitens der Moderatoren und Protagonisten besonders gefragt, denn sie kann zur Aufrechterhaltung der Motivation und zur Förderung der individuellen Änderungsbereitschaft beitragen. Hinweise dazu finden sich bei Sieland und Heyse (2010, S. 78-90; vgl. Miller & Rollnick, 1999) sowie im Internetportal zu diesem Buch.

Tipp
Prüfen Sie, ob Ihre Mitarbeit in bisherigen Projekten eher durch Ich-, Du- oder Es-Hindernisse eingeschränkt wurde. Schätzen Sie, wie viele KollegInnen/Projektbeteiligte - einschließlich Ihrer selbst - auf welcher Stufe der Änderungsbereitschaft nach Abbildung 5.5 bzw. welcher Phase der Krisenbewältigung (Abbildung 5.6) waren.

Leitbilder auf ihre Funktionalität für Änderungsbereitschaft prüfen

Leitbilder können für Veränderungsprozesse mehr oder weniger hilfreich sein. Jede neue Initiative, auch wenn sie dezidiert zur Gesundheitsförderung beitragen soll, wird nur auf Akzeptanz stoßen, wenn sie mit den persönlichen Leitbildern oder denen der Organisation vereinbar ist (Selbstkonkordanz). Je nach Verbindlichkeitsgrad wird zwischen Muss-, Soll- und Kann-Normen unterschieden.

Definition: Muss-, Soll- und Kann-Normen
Normen sind Erwartungswerte, die von Personen oder innerhalb einer Gruppe für verbindlich oder funktional gehalten werden. Abweichungen, Einhaltung und Nichteinhaltung werden individuell als unangenehm oder bedrohlich wahrgenommen (siehe Inkongruenzerfahrung) und in Gruppen u.U. mit Sanktionen belegt. Welche Konsequenzen Verstöße nach sich ziehen, hängt vom Verbindlichkeitsgrad der Normen ab.
Manche Normen haben Unbedingtheitsanspruch: Jeder muss unbedingt...; andere haben "Soll-Charakter" ( jeder sollte möglichst...) und wieder andere haben eher unverbindlichen "Kann-Charakter" (man kann in dem Fall...). Je mehr Normen für eine Person unbedingten "Muss-Charakter" haben, desto stärker wird ihr Handlungsspielraum eingeschränkt.

Leitbilder bergen eine hohe Motivationskraft und generieren bzw. rechtfertigen damit übereinstimmende Maßnahmen. Wer sich mit ihnen identifiziert, genießt Vorteile: Weniger Entscheidungskonflikte, größeres Zugehörigkeitsgefühl und identitätsstiftende Klarheit über sich selbst. Ein Leitbild kann aber auch entmutigend wirken, wenn es zwar eine starke Verbindlichkeit besitzt, aber z. B. aufgrund äußerer Hindernisse nicht umgesetzt werden kann (was eng im Zusammenhang mit Burnout steht). Insofern können Leitbilder Anlass für die Mitarbeit an Organisationsentwicklungsmaßnahmen sein oder für Widerstand dagegen. Eine Person oder Gruppe wehrt sich, wenn ihre Leitbilder infrage gestellt werden. Bei diesen Gegenreaktionen entstehen mitunter Koalitionen von Personen, die bisher nicht enger miteinander zu tun hatten. Personen, die für fast alle Aktivitäten bzw. Veränderungen offen sind, verfügen möglicherweise nicht über ein klares Leitbild in der jeweiligen Sache, vielleicht aber in Bezug auf ihre Person, z. B. im Sinne von: "Mach es allen Recht".

Tipp
Bemühungen gelingen, wenn man bereit ist, eigene Überzeugungen zu überdenken, Denken und Handeln neu auszurichten, loszulassen und Situationen neu zu bewerten. Ohne Umdenken keine Verhaltensänderung - nicht in der Interaktion und nicht in Bezug auf die eigene Selbstorganisation.
Konkretisieren wir die Ausführungen auf die Beteiligung an Lehrergruppen zur Gesundheitsförderung:
Probleme: Lehrende, die sich nach ihrem pädagogischen Leitbild als "Bergführer" oder "Schutzengel" definieren, die ihre Schülerinnen und Schüler sicher zum Lernziel führen wollen, könnten in ihrer guten Absicht Gefahr laufen, die tatsächlichen Effekte ihres Handelns zu übersehen: Dass sie unselbständiges Lernen bei den Schülerinnen und Schülern fördern und sich selbst möglicherweise überfordern. Lehrende, die sich als Einzelkämpfer verstehen, würden wahrscheinlich kooperative Veränderungsstrategien ablehnen. Lehrer, die entlastende Veränderungen vom Arbeitgeber erwarten, hoffen auf Verhältnisprävention und lehnen vielleicht Verhaltensprävention eher ab. Entsprechendes gilt umgekehrt.
Anregungen: Persönliche Leitbilder sollten offen diskutiert und ihre Vereinbarkeit mit den Zielen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung usw. geprüft werden. In unserem Projekt wurde dies gewährleistet, indem die Lehrenden in zielhomogenen Beteiligungsgruppen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung planten und durchführten, die ihnen sinnvoll erschienen. Sie waren als Arbeit an den Leistungsvoraussetzungen zu interpretieren, die die Verwirklichung des Leitbildes erst ermöglichen (instrumentelle Funktion für das Leitbild).

Unterschiedliche Toleranz für Ungewissheiten berücksichtigen

Personen unterscheiden sich in ihrer Bereitschaft, Unsicherheit und Widersprüche auszuhalten ("Ambiguitätstoleranz"; vgl. Reiß, 1997). Wer an Veränderungen mitwirken soll, braucht eine gewisse Bereitschaft, auf den "Spatz in der Hand" zu verzichten, ohne sicher zu wissen, ob er die "Taube auf dem Dach" bekommen wird. Er muss die "Komfortzone" der sicheren Gewissheiten verlassen. Der ungewisse Ausgang von Veränderungsprojekten hat Abenteuercharakter, den nicht jede Person gern akzeptiert. Personen mit geringer Ambiguitätstoleranz bevorzugen klare Vorgaben hinsichtlich der Ziele, Methoden, zeitlichen Abläufe und Verantwortlichkeiten. Sie erwarten ausreichend Zeit für detaillierte Planung, mahnen verbindlichen Konsens an und verlassen möglicherweise den Kreis der Beteiligten, wenn diese Planungssicherheit nicht mehr in dem für sie notwendigen Maße gewährleistet scheint.

Definition: Ambiguitätstoleranz
Mit Ambiguitätstoleranz (v. lat. ambiguitas "Zweideutigkeit", "Doppelsinn") wird die Fähigkeit bezeichnet, Uneindeutiges, Mehrdimensionales, Widersprüchliches (Antinomien), Unterschiede (siehe auch Diversity), "Sowohl-als-auch-Situationen"... auszuhalten, zu akzeptieren, ohne es auf ein "Entweder - oder" zu vereinfachen oder auf lineare, eindimensionale Strukturen zu reduzieren. Ambiguitätstoleranz ist in gewisser Weise das Pendant zur Inkongruenzerfahrung; sie lässt Inkongruenzen bestehen und versucht, sie positiv zu nutzen.

Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz schätzen dagegen Prozesse des Suchens und Experimentierens. Sie können sich auf Projekte besser einlassen, in denen divergente Ziel- und Lösungsideen im Spiel sind, und reagieren ablehnend, wenn zu viel vorgegeben wird. Während also die einen von Anfang an starke Bedürfnisse nach Struktur und Kontrolle haben, schätzen die anderen einen gewissen Abenteuercharakter von Projekten. Man kann vermuten, dass diese Unterscheidung zur Fraktionsbildung und zu Diskrepanzen im Kollegium beiträgt.

Das Bemühen, Betroffene möglichst zu Beteiligten zu machen, wird dann konterkariert, wenn Arbeitsweisen und Strukturierungsbedürfnisse bestimmter Gruppenmitglieder nicht ausreichend berücksichtigt werden, allerdings im Rahmen demokratischer und partizipativer Spielregeln. Prozessmoderatoren sollten sich daher der eigenen Ambiguitätstoleranz bewusst sein und den anderen nicht das eigene Maß aufzwingen.

Tipp
Ungewissheiten sollte man nicht durch Optimismus überspielen. Es macht Sinn, etwaige Skeptiker als hilfreich zu integrieren statt als Bedenkenträger zu verunglimpfen. Eine Übung dazu (Umfeld-Analyse) finden Sie im Kap. 7 und als Kopiervorlage unter www.handbuch-lehrergesundheit.de. ccc_3595_08.jpg

Das Veränderungsparadoxon als Hindernis erkennen

Ein weiteres Entwicklungshindernis ist im Rahmen von Organisationsentwicklung häufiger zu beobachten: Es wäre logisch, wenn diejenigen Organisationsmitglieder, die Innovationen oder Reformen einsehen und diese akzeptieren, ja sogar selbst fordern, sich auch tatkräftig daran beteiligen und durch gleichzeitig notwendige individuelle Verhaltensänderungen stützen würden (Reiß, 1997). Viele handeln aber nicht logisch, sondern psycho-logisch nach dem paradoxen Motto: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!". Diese Diskrepanz lässt sich auflösen, wenn man die gegenseitige Abhängigkeit von individuellen Verhaltensänderungen und Rahmenbedingungen deutlich macht und als Change-Agent selbst beachtet.

Individuelle Verhaltensänderungen sind erst dauerhaft, wenn sich auch die Bedingungen verändern, die das alte Verhalten belohnt und gefestigt haben, wie sich am Beispiel "Suchtverhalten" deutlich machen lässt. Und gescheiterte Unternehmensfusionen, bei denen die unterschiedlichen Beziehungs-Kulturen und Selbstverständnisse nicht genug Beachtung fanden, demonstrieren, wie wichtig es für den Erfolg von Innovationen in Systemen ist, Menschen "mitzunehmen" und ihnen Möglichkeiten zu geben, ihr Verhalten ohne "Gesichtsverlust" anzupassen. Dies gilt ganz besonders für Institutionen ohne starke hierarchische Ordnung und Weisungsbefugnis der Leitung wie der Schule.

Diversity respektvoll bewältigen statt bekämpfen

Die unterschiedlichen Ansichten und Analysen der Einzelnen und der Gruppierungen in der Schule führen dazu, dass es in der Regel keine einmütigen Entschlüsse gibt, sich auf den Weg zu machen und die Inkongruenzen zu bearbeiten - wenn es nicht schon über das Vorhandensein einer Ist-Soll-Abweichung Diskussionen gibt. Daraus resultieren oft Kräfte verschleißende Dispute zwischen denen, die Veränderungen als Gefahren für das Bewährte betrachten, und jenen, die sie als Chancen für verbesserte Zukunftsfähigkeit einschätzen. Der Zeitpunkt, an dem Leiden am Ist-Zustand oder der Wunsch nach einem anderen Soll-Zustand in handelndes Lernen umschlägt, ist individuell verschieden. Menschen sind normalerweise erst dann bereit, sich zu verändern, wenn sie es nicht mehr aushalten oder etwas Besseres finden, d. h. erst wenn ein Ist-Zustand so nachteilig oder aversiv ist, dass sich die Mühe einer Neuorientierung aus ihrer Sicht lohnt - oder wenn ein neues attraktives Ziel so stark lockt, dass man die bisherigen Routinen und Gewohnheiten oder gar die Lebensweise aufgibt - manchmal recht vorschnell ("Love it or leave it.").

Definition: Diversity
Mit Diversity wird zunächst die Verschiedenartigkeit von Menschen benannt, angefangen von unterschiedlichen Meinungen bis hin zu ethnischen und religiösen Unterschieden, Geschlecht und Hautfarbe. Gleichzeitig wird aber ausgedrückt, dass Menschen in Bezug auf die ihnen zukommende Respektierung und Anerkennung ihrer Verschiedenheit gleich sind. Mit diesem Begriff wird zudem die Chance hervorgehoben, die Vielfalt positiv zu nutzen (Wächter et al., 2003).

Diese Unterschiedlichkeit (Diversity) mag engagierte Reformer, kreative Schulleiterinnen und Schulleiter sowie ungeduldige Kollegien anstrengen. Werden diese unterschiedlichen Schwellen und Argumente jedoch bewusst gemacht, diskutiert und berücksichtigt, wird es weniger Ablehnung geben.

Schley (1998) beschreibt den Umgang mit Diversity anhand von fünf Typen (Abb. 5.7 linke Spalte) von Mitgliedern in Arbeitsgruppen und Kollegien (s. Abb. 5.7, linke Spalte), er verbindet sie mit Anregungen für die Gruppenmoderation (Abb. 5.7 rechte Spalte, um diese Merkmale nicht destruktiv zu Fraktionsbildungen werden zu lassen, sondern ihr Potenzial für das gemeinsame Projekt auszuschöpfen.

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Abbildung 5.7: Charakteristische Rollen im Kollegium nach Schley (1998)

Konfrontationen gehören zum Aufbau belastbarer Arbeitsbeziehungen, auch wenn sie Elemente von Unzufriedenheit, Konkurrenz, Konflikt und Kampf beinhalten. Die Mitglieder ringen um Positionen, werden sich ihrer Unterschiede genauer bewusst und bestimmen klarer, wie sie miteinander arbeiten wollen. Die Gruppenleitung hat dafür zu sorgen, dass die Gruppe diese Kampfphase überwindet, eine positive Streitkultur mit Beziehungsklärung, Konfliktmanagement und Lösungsorientierung entwickelt, die Potenziale der Unterschiedlichkeit nutzt und zu einem Team zusammenwächst. Es geht um Unterstützen, Begleiten, Trainieren, Coachen, um Begriffs-, Interessen- und Rollenklärung. Die Moderation sollte immer wieder das gemeinsame Ziel hervorheben, um eine Kooperationsbasis zu schaffen. Sie muss durch Zuhören und Fragen zu Offenheit und Engagement ermutigen, damit das Konfliktpotenzial nicht unter den Teppich gekehrt wird - es wirkt sonst verdeckt und unkalkulierbar. Manche Teams zerbrechen bereits in dieser Phase, weil sie den Eindruck haben, dass nichts mehr vorangeht.

Tipp
Folgende Fragen sind zu klären: Welche Beziehungs- und Sachkonflikte gibt es in der Gruppe? Sind alle mit den Mitteln der Aufgabenbewältigung einverstanden? Wer neigt aus welchen Gründen dazu, die Gruppe zu verlassen? Was ist die Aufgabe? Wie soll sich die Gruppe organisieren? Hat die Gruppe eine klare und akzeptierte Führung? Wer hat die Verantwortung? Wie werden Probleme gelöst? Wie ist das Verhältnis zu den anderen Gruppen?
Risiken entstehen durch: Destruktive Feedbacks, Gesichtsverlust, Demütigung, Machtspiele und Gerüchte.

Angst vor den Folgen erkennen und thematisieren

Manchmal stoßen nicht die eigentlichen Handlungsziele auf Bedenken, sondern die Sorgen von Kollegiumsmitgliedern richten sich auf deren vermutliche Folgen oder Nebenwirkungen. Lehrkräfte können z. B. Interesse an kollegialen Fallbesprechungsgruppen bekunden, entscheiden sich letztendlich aber dagegen, weil sie trotz der erhofften Entlastung befürchten, von ihrer Familie oder einigen Kolleginnen und Kollegen für dieses zusätzliche Engagement kritisiert zu werden oder etwas anderes dafür aufgeben zu müssen.

Widerstand durch Praxisprobleme

Wenn zu einem späteren Zeitpunkt klar ist, welche Gesundheitsziele erreicht werden sollen, tragen die Akteure Handlungsmöglichkeiten zusammen und bewerten sie unter zwei Aspekten: (1) Wie wahrscheinlich führen die möglichen Maßnahmen zum gewünschten Ziel und (2) sind sie mit eigener Kraft realisierbar? Bei der Reflexion dieser Fragen können Zweifel und Änderungswiderstände aufkommen. Begeisterte sind in der Gefahr, sich von der Wünschbarkeit einer Maßnahme zunächst blenden zu lassen. Später realisieren sie aber vielleicht, dass z. B. die Ressourcen nicht ausreichen, um sie erfolgreich durchzuhalten. Skeptiker wollen möglicherweise vor Bedenken und erwarteten Schwierigkeiten gar nicht erst anfangen. Mit zunehmender Bereitschaft, auf das Ziel tatsächlich zuzugehen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen, wächst allerdings in der Regel auch der Optimismus bezogen auf die Selbstwirksamkeit und die Erfolgsaussichten der Maßnahmen und Handlungsschritte, was wiederum die Veränderungsmotivation selbstverstärkend beflügelt.

Fazit

Änderungswiderstände können unterschiedlich klar, kraftvoll und breitenwirksam in Erscheinung treten. Kollegiumsmitglieder können sich auf unterschiedlichen Stufen wechselseitig ermutigen oder demotivieren. Widerstand muss nicht bedeuten, dass sich die Betreffenden grundsätzlich gegen Veränderung wehren; vielleicht kommt es ihnen nur darauf an, mitreden zu dürfen. Die Berücksichtigung von Widerstand bietet eine große Chance, nicht die erstbeste Lösung eines Problems als einzige und richtige anzusehen, sondern im Diskurs die Sichtweisen zu kommunizieren und gemeinsame Lösungswege zu finden. Aus der Vielfalt wächst Kreativität. Aber immer sind auch Neubewertungen in Richtung "Weitermachen" oder "Aufhören" möglich.

Die Zweifler und Zögerer sind manchmal ein gutes Gegengewicht einer vorschnellen Innovationseuphorie. Brecht hat ihnen in seinem Gedicht "Der Zweifler" ein Denkmal gesetzt:

Bertold Brecht: "Der Zweifler"

Immer wenn uns
Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiele und
Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
So sehr zweifelte.

Ich, sagte er uns
Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für Einige Wert hätte.
Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos
Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:
Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
Ist es auch angeknüpft an vorhandenes? Sind die Sätze, die
Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?

Nachdenklich betrachteten wir mit Neugier den zweifelnden
Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
Begannen von vorne.

Folgende Fragen können helfen, erwarteten Widerstand und Widerspruch zu reflektieren (Heyse, 2011):

Tipp: Reflexion zu erwartender Widerstände und Widersprüche
  • Welche Hypothesen haben wir über die Entstehung der Probleme?

  • Welche Lösungsversuche wurden mit welchem Erfolg bereits unternommen?

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  • Welche Sachzwänge, Entwicklungen, Traditionen oder Regeln bestehen in Bezug auf das Problem?

  • Wer hat Interesse an der Veränderung und aus welchen Motiven?

  • Wer möchte, dass es so bleibt - und warum?

  • Was passiert, wenn nichts passiert?

  • Was sind unsere Glaubenssätze in Bezug auf unsere Selbstwirksamkeit? Haben wir die Fähigkeiten und Ressourcen für eine Veränderung?

  • Welche Erfahrungen haben wir als Kollegium mit Planungen und Beschlüssen?

  • Wie motivieren wir uns? Wollen wir etwas vermeiden oder etwas gewinnen?

  • Was sind die "Kosten" einer Veränderung; welchen "Preis" müssen wir zahlen? Wie sieht die Gewinn-Verlust-Bilanz der geplanten Veränderung aus?

  • Was ist das Gute an der derzeitigen Situation? Wie können wir das Gute erhalten und die Nachteile verringern?

  • Was/wer hindert uns, es anders zu machen?

5.2.3
Widerstände in und zwischen Gruppen erkennen und bewältigen

Auch wenn sich in Kollegien die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer kennen, müssen sie in Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Zusammensetzungen doch immer wieder zu einem zielorientierten Arbeitsprozess zusammenfinden (vgl. auch Kap. 9 in diesem Band). Zunächst ist eine Ansammlung von Individuen noch keine arbeitsfähige Gruppe. Dazu bedarf es einiger Schritte, die im Fall des Misslingens zum Scheitern der Gruppe führen. Ihre adäquate Beachtung jedoch kann Potenziale für den gemeinsamen Arbeitsprozess freisetzen (vgl. Schley, 1998).

Gruppenfindung

Zunächst wird der Zweck der Gruppenbildung diskutiert sowie der Titel, die Zusammensetzung, die Art der Leitung, die Arbeitsweise und Dauer der Zusammenarbeit bestimmt. Wichtige Prozesse finden statt: Vertrauensbildung, Ähnlichkeiten suchen, Regeln und Normen entwickeln, Aufbau von Sympathiebeziehungen, Orientierung an anderen, Zuweisung von Rollen und Verantwortlichkeiten. Transparenz ist in dieser Phase unverzichtbar: Informieren, kommunizieren, visualisieren und diskutieren. Alle müssen eingebunden werden und Wertschätzung für ihre unterschiedlichen Aufgaben und Talente bekommen.

Folgende Fragen sind zu klären: Was ist genau die Aufgabe? Wird sie von allen ähnlich gesehen und bejaht? Haben alle eine positive Haltung, sie in dieser Gruppe zu bewältigen? Welche Erwartungsängste empfinden sie mit Blick auf die Aufgabe?

Risiken entstehen durch Intransparenz, Gerüchtebildung, einsame Entscheidungen, "Hintergedanken", verdeckte Strategien und das Verschweigen von Sorgen.

Konfrontation, Konkurrenz und Koaktion überwinden

Definition: Koaktion, Interaktion und Kontraaktion
In der Sozialpsychologie werden drei Formen der Zusammenarbeit zwischen Personen bzw. Gruppen unterschieden:
Koaktion=Die Partner arbeiten ohne wechselseitige Effekte nebeneinander her.
Interaktion=Die Partner arbeiten miteinander und beeinflussen sich gegenseitig.
Kontraaktion=Die beiden Partner kämpfen gegeneinander.

In einer zweiten Phase werden bei der intensiveren Befassung mit der Materie differenziertere Meinungsunterschiede über Wege, Ziele und Aufgaben, Funktionen und Normen sowie über die Führerschaft in der Gruppe sichtbar (Weller, 2005). Macht- und Interessenkonflikte, der Kampf um Rollen und Status werden unterschwellig oder auch offen geführt, evtl. auch gegen die Projekt- oder Gruppenleitung. Es kommt zu Konfrontationen auf persönlicher Ebene, zu Inhalts- und Beziehungskonflikten. Unterschiedliche Leitbilder (vgl. 5.2.2) können zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen führen. Die Gefahr der "Cliquenbildung" und Solidarisierung mit Meinungsführern ist hoch. Eine selektive Solidarität nur zur "eigenen" Untergruppe wird deutlich. Es besteht die Gefahr, dass Untergruppen oder einzelne Meinungsführer in Konkurrenz gegeneinander geraten oder ohne gemeinsames Konzept nebeneinander her arbeiten (=Koaktion).

Gruppenkonsens

Wenn die Phase der Konfrontation gut bewältigt wurde, entwickeln sich Kooperationsmuster, Spielregeln und Normen, mit denen die Arbeit funktioniert. Den Einzelnen sind ihre Rolle und ihre persönliche Verantwortung klar und sie bestimmen das eigene Maß an Engagement. Es kommt zu einer belastbaren Verständigung über Aufgaben, Prozeduren, Funktionen und zum konstruktiven Umgang mit Ambivalenzen, Störungen, Widerstand und Konflikten. Die Gruppe entwickelt ein Identitätsgefühl, die Mitglieder kooperieren, der Gruppenkonsens steigt, sodass Einzelne auch ausloten, wie weit das Gruppenklima und die Harmonie tragfähig sind.

Tipp
Folgende Fragen sind zu klären: Machen sie Fortschritte beim Akzeptieren ihrer Arbeitsmethoden und Rollen? Ist das gemeinsame Ziel klar und gewünscht? Stärkt das Ziel die Zusammenarbeit? Haben sie einen akzeptierten Handlungsplan?
Risiken entstehen durch: Machtkampf, Auseinandersetzungen und Streit um den richtigen Weg.

In unseren Schulprojekten sollten sich die Lehrkräfte einem Vorhaben zuordnen, für das sie sich interessieren und das sie für besonders sinnvoll und dringlich halten. Durch derart zielhomogene Gruppen sollten die oben beschriebenen internen Gruppenkonflikte reduziert werden. Gleichzeitig wollten wir damit das gegenseitige Verständnis und die gemeinsame Verantwortung stärken, den kooperativen Lernprozess stützen sowie über individuelle Mutlosigkeit, motivationale Tiefen, persönliche Irrwege und Zweifel hinweghelfen.

Allerdings mussten wir dafür in Kauf nehmen, dass Bewertungsdifferenzen nun zwischen den Gruppen ausgetragen wurden.

Ergebnisorientierung

Wenn die ersten drei Stadien erfolgreich bewältigt wurden, erreicht die Gruppe ein optimales Leistungsniveau. Ziel- und Aufgabenorientierung und Produktivität nehmen zu, Gruppenstrukturen, Normen und das Verhalten der einzelnen Mitglieder werden verstanden und akzeptiert. Die Mitglieder sind verhaltenssicher bei ihrer Kooperation. Sie können Meinungsunterschiede und Missverständnisse gut bewältigen und konzentrieren sich auf den gemeinsamen Arbeitsauftrag. Allerdings erreicht die Interaktion immer nur vorübergehend dieses Niveau. Rückfälle auf frühere Stufen bzw. Problemlagen sind normal und sollten nicht als Katastrophe gewertet werden. Hier sind das Lob des Fehlers und das positive Feedback angebracht.

Tipp
Folgende Fragen sind zu klären: Hat jeder eine funktionale Rolle für die Aufgabenbewältigung übernommen? Haben die Gruppenmitglieder konstruktiv und effektiv gearbeitet? Spüren sie ein Fortschrittsbewusstsein? Konzentriert sich die Gruppe auf die Erfüllung der Aufgabe? Werden die neuen Rollen und Aufgabenverteilungen flexibel gehandhabt? Geben gemeinsame Ziele ausreichende Sicherheit?
Risiken entstehen durch: Zeitdruck sowie die Überforderung mit den neuen Rollen und Aufgaben.

Gruppendynamische Prozesse

Eine Möglichkeit, gruppendynamische Problemlagen z. B. durch unterschiedliche subjektive Theorien aufzudecken und transparent zu machen, kann eine Kollegiumsaufstellung nach bestimmten Kriterien sein. Das sollte aber mit großer Vorsicht und nur mit Hilfe externer Moderatoren gehandhabt werden. Abb. 5.8 zeigt das Ergebnis einer Aufstellung, die ein Schulleiter in Bezug auf sein Kollegium vorgenommen hat (vgl. Riemann, 1962). Es ist sinnvoll, dass auch andere Projektteilnehmer diese Art des Soziogramms aus Ihrer Sicht vornehmen!

Die 23 Lehrerinnen und Lehrer wurden nach - aus Sicht des Schulleiters - ihren bevorzugten Arbeitshaltungen und den damit verbundenen Grundängsten auf zwei Dimensionen positioniert: "Kooperation" versus "Einzelkämpfer" und "Bewahren" versus "Verändern" (Abbildung 5.8). Selbstverständlich sind auch andere Kriterien je nach Lage und Zweck möglich.

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Abbildung 5.8: Kollegiumsaufstellung nach bevorzugten Arbeitsweisen und Arbeitszielen zum Erkennen von Koalitionen aus der Sicht des Schulleiters (Riemann, 1962)

Die 17 Personen in den oberen beiden Quadranten bevorzugen nach Meinung des Schulleiters in besonderer Weise tragfähige Beziehungen und sind zu Kompromissen auf der Sachebene bereit. Sie unterscheiden sich darin von den 6 eher auf den Lehrstoff konzentrierten Kollegiumsmitgliedern in den unteren Quadranten, die im Zweifelsfall die Sachpositionen energischer vertreten und dafür bereit sind, Beziehungen zu belasten bzw. als Einzelkämpfer ihre Positionen zu vertreten.

Darüber hinaus schätzt er, dass sich die Kolleginnen und Kollegen auch in Bezug auf ihre Veränderungsbereitschaft unterscheiden: Den 14 Kolleginnen und Kollegen in den linken Quadranten schreibt der Schulleiter die eher konservative Tendenz zu, sich für das einzusetzen, was sie für bewährt halten und Neuerungen eher skeptisch zu begegnen. Im Gegensatz dazu hält er die 9 Personen in den rechten Quadranten für eher bereit, die Mängel des Ist-Zustandes genauer zu spüren und Neues zu erproben. Er selbst positioniert sich in der Gruppe der Veränderungsbereiten, die für ihre Position ggf. auch Beziehungen belasten.

Man kann sich die psychodynamischen Kräfte innerhalb und zwischen den Gruppen leicht vorstellen, selbst bei Alltagsangelegenheiten - umso mehr, wenn es sich um Maßnahmen zur gesundheitsförderlichen Schul- oder Personalentwicklung handelt. Solche Gruppierungen neigen häufig dazu, sich feindselig gegenüber zu stehen und Misserfolge oder Stagnation den jeweils Andersdenkenden zuzuschreiben, was die Gräben noch vertieft. Erschwerend kommt hinzu, dass Spannungen und Gräben nicht nur entlang der beiden Dimensionen bzw. zwischen den vier Feldern verlaufen, sondern auch innerhalb der einzelnen Felder auftreten können.

Solche Konstellationen können Kollegien lähmen und unfähig für Entwicklungen machen. Zum Änderungspotenzial können die Unterschiede aber werden, wenn die Diversität (vgl. Kap. 5.2.2) als Ressource gesehen und genutzt wird, voneinander zu lernen und nicht gegeneinander zu intrigieren. Zauderer können Revolutionäre vor Irrwegen bewahren, die "Macher" können lernen, dass man erst gute Beziehungen aufbauen muss, bevor sich Menschen auf Neues einlassen, die "social-emotional"-Kolleginnen und Kollegen müssen auch Sachforderungen bedienen. Es geht darum, das Gute im wechselseitig als schlecht angesehenen Verhalten und Denken zu erkennen und gelten zu lassen, andere Sichtweisen zu akzeptieren und zu tolerieren. Solche Prozesse bedürfen in der Regel der externen Begleitung, da Systemangehörige als Teil des Beziehungsgeflechtes nicht die notwendige Distanz haben.

Natürlich gibt es auch andere Merkmale, die zu Spannungen in Gruppen führen, z. B. zwischen Lehrenden, die ihr Aufgabenspektrum reduzieren wollen im Kontrast zu solchen, die zur Übernahme weiterer interessanter Aufgaben und Rollen bereit sind, oder zwischen Lehrkräften, die eher Defizite beklagen, gegenüber solchen, die eher ressourcen- und chancenorientiert denken.

Verlassen wir nun die Ausführungen über individuelle und gruppenbezogene Chancen und Risiken für das Auftauen. Es gilt - wie oben erwähnt: Was nicht aufgetaut wurde, kann nicht verändert werden, aber was aufgetaut wurde, wird nicht ohne weiteres verändert. Daher geht es jetzt um den zweiten wichtigen Schritt

5.2.4
Änderungsbereitschaft und Änderungsfähigkeit

Die Beachtung und Überwindung von individuellen Widerständen und Hindernissen in der Zusammenarbeit von Gruppen ist notwendig, aber noch nicht hinreichend.

Eine Veränderung des Verhaltens einzelner Lehrerinnen und Lehrer, eines Kollegiums, relevanter Gruppen und der Leitungsebene oder Änderungen der Organisationsstrukturen und des Unterrichts werden nur realisiert, wenn ausreichende Änderungsbereitschaft und ausreichende Änderungsfähigkeit zusammentreffen.

Änderungsbereitschaft beruht auf dem eigenen Wollen bzw. der Identifikation mit von außen angestoßenen Änderungserwartungen, dem Sollen. Wollen und Sollen werden aber erst wirksam, wenn eine entsprechende Änderungsfähigkeit gesichert ist, d. h. Kompetenzen und Ressourcen in Form von Können und Wissen zur Verfügung stehen. Heyse (2007, 2008, 2011) hat ein Modell entwickelt, das in Abbildung 5.9 geringfügig adaptiert wurde (in Anlehnung an Corsten & Reiß, 1995). Es eignet sich zur Beschreibung von individuellen Problemlagen im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit. Es dient aber auch der Analyse von Gelingens- und Misslingensfaktoren für Verhaltensänderungen.

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Abbildung 5.9: Veränderungen zwischen Änderungsbereitschaft und Änderungsfähigkeit (vgl. Sieland & Heyse, 2010)

Verdeutlichen wir uns das am Beispiel einer Schule, die etwas für die Gesundheit der Bediensteten unternehmen möchte oder auf entsprechende Erwartungen ihres sozialen Umfeldes eingeht. Im Einzelnen sind dann u. a. folgende Fragen zu klären:

Wollen: In welchem Maß ist das Kollegium bereit, sein Gesundheitshandeln zu stärken? Verträgt sich das mit den gemeinsamen Werten/Leitbildern? Spürt es deutlich, dass eine Änderung aktuell dringend notwendig ist und keinen Aufschub duldet? Kann es die bisherigen Verfahren und Haltungen konstruktiv reflektieren und neue Einstellungen und Überzeugungen begründen? Will es die entsprechenden Kosten (Ressourcen, Zeit, Anstrengung, Lustverlust...) tragen? Ist das Kollegium ausreichend besorgt über die Gefahren des Ist-Zustandes und ausreichend aktiviert durch persönlich relevante Chancen bei Veränderungen? Erst wenn diese Motivationsquellen sprudeln, wird die Überwindung von alten Gewohnheiten wahrscheinlich.

Sollen: Welche Erwartungen bestehen im Umfeld, bei Vorgesetzten und infolge administrativer Vorschriften? Wird die Änderungsbereitschaft ausreichend von außen bzw. "oben" gefordert, unterstützt oder eher erschwert und behindert? Nicht selten spüren Lehrkräfte, dass das Bemühen um eine hohe Unterrichtsqualität im Konflikt steht mit einer leistungs- und gesundheitsförderlichen Lebensführung. Vielfach siegt dann die Verpflichtung nach § 54 BBG: "Der Beamte hat sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen. Er hat sein Amt uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten. ..."

Wissen: Verfügt die Schule/das Kollegium über ausreichendes inhaltliches Wissen zum Gesundheitsmanagement und weiß das Kollegium, wie Organisations- und Personalentwicklungsprozesse gestaltet werden müssen, um stabile Gewohnheiten zu verändern, und woran Veränderungsversuche häufig scheitern? Können die Akteure diese Kenntnisse mit ihrem derzeitigen Gesundheitshandeln in Verbindung bringen, d.h., wissen sie, was sie verändern müssen?

Tabelle 5.3: Fünf Formen von Wissen für einen erfolgreichen Änderungsprozess

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Können: Schließlich eine letzte Vorbedingung für erfolgreiche Veränderungen: Verfügt die Schule über ausreichende Ressourcen zur Realisierung einer gesundheitsdienlichen Organisations-, Personal- oder Unterrichtsentwicklung? Hat sie ausreichend Zeit und Kraft, kann sie auf ein soziales Stützsystem, Beratungsdienste, Expertenhilfe usw. zurückgreifen? Ist das Kollegium kompetent für entsprechende Arbeitsprozesse?

Damit ist unmittelbar klar: Die interne oder externe Forderung nach gesundheitsförderlicher Verhaltensänderung läuft ins Leere, wenn sie nicht durch Wollen, Wissen, Können und passende Wertvorstellungen gestützt wird, denn: "Mit einem Warum im Herzen ist fast jedes Wie zu ertragen" (vgl. Margraf & Berking, 2005).

Diese vier Bedingungsfaktoren wirken wie Kettenglieder zusammen. Wenn eines zu schwach ist, wird die Kette bei Belastung an dieser Stelle reißen, egal wie stark die übrigen Kettenglieder sind.

5.2.5
Pflege der Leistungsvoraussetzungen zur Änderungsfähigkeit

Viele Personen - insbesondere am Arbeitsplatz Schule - konzentrieren sich einseitig auf die Anforderungen, seien es ihre eigenen Arbeits- und Leistungsziele (Wollen) oder externe Vorgaben (Sollen), mit denen sie sich mehr oder weniger identifizieren (s. Abb. 5.3). Sie sind bemüht, diese Anforderungen möglichst gut zu erfüllen und erfahren dabei Ge- und Misslingensgefühle.

Die Gefahr besteht allerdings, dass sie dabei die Pflege ihrer eigenen Leistungsvoraussetzungen, d. h. ihre fachlichen, gesundheitlichen und persönlichen Ressourcen, Kompetenzen, ihre Stressresistenz, Arbeitszufriedenheit usw. vernachlässigen. Wenn sie den Preis ihres Engagements aus den Augen verlieren, riskieren sie, sich selbst zu überfordern und auszubeuten. Gerade Lehrerinnen und Lehrern, die aufgrund ihrer beruflichen Belastungen die Sorge um den Erhalt und die Förderung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit besonders nötig hätten, fällt es oft schwer, sich dafür zu motivieren und die erforderlichen Maßnahmen konsequent zu ergreifen.

Dieser Mangel tritt aber meist erst dann ins Bewusstsein, wenn gesundheitliche Einschränkungen oder Überforderungen die eigenen oder fremdgesetzten privaten und beruflichen Ziele blockieren. Während z. B. professionelles Rettungspersonal von Anfang an lernt: "Eigensicherung geht vor Hilfeleistung für andere", wird dieses Thema in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften - wenn überhaupt - eher am Rande behandelt. Zudem gehört die Selbstüberforderung im Dienste anderer fast schon zum Selbstbild von Lehrkräften und wird als Zeichen von hohem pädagogischem Engagement statt als zweifelhafte Selbstvernachlässigung bewertet.

Die Pflege der Leistungsvoraussetzungen und ein Potenzial an Ressourcen stellt die unverzichtbare Basis für die Zukunftsfähigkeit, die Anpassung an sich wandelnde Umfeldbedingungen und die Steuerung von notwendigen Veränderungsprozessen dar. Nur wer nicht ständig am Rande seiner Leistungsfähigkeit agiert, wird über die erforderliche Energie und die Fähigkeiten für die Veränderung seines eigenen Verhaltens sowie von gruppendynamischen und organisationalen Strukturen verfügen.

Um es an einem Bild zu verdeutlichen: Moderne Autos geben dem allzu sehr auf das Ziel fixierten Fahrer ein deutliches Warnsignal, damit er sich frühzeitig um den Energienachschub (Tanken) oder fällige Wartungsarbeiten kümmern kann. So wird er vor Ausfällen zur unerwünschten Zeit geschützt und erhält sogar eine "Mobilitätsgarantie" bis zum nächsten Wartungsintervall. Bezogen auf ein Lehrerkollegium muss das Bild auf eine Autokarawane mit Fahrzeugen verschiedener Bauart und unterschiedlichen Erhaltungszuständen erweitert werden. Deshalb empfehlen sich regelmäßige "Wartungsdiagnosen" mit Blick auf die Leistungsvoraussetzungen der einzelnen Lehrpersonen, auf die Potenziale und Risikofaktoren im Zusammenspiel des Kollegiums und auf die systemischen Rahmenbedingungen für die Bildungs- und Erziehungsarbeit.

In einer solchen Situation ist es ggf. sinnvoll, zunächst in einem dem eigentlichen Veränderungsvorhaben vorgeschalteten Projekt die unerlässlichen Ressourcen an Zeit und Energie sowie das Know-how für eine Kursänderung zu beschaffen. Dazu eignen sich z. B. systematische, lernziel- und projektorientierte Fortbildungsmaßnahmen, Hospitationen in anderen Schulen, die bereits auf dem Weg oder schon angekommen sind, Gruppen-Supervision, Training von Arbeitsmethoden, Diagnose-, Evaluations- und Dokumentationsverfahren, aber auch die Verbesserung von individuellen Bewältigungsstrategien für Belastung und Stress, Zeitmanagement und manches mehr.

Der schlimmste Ausgang eines Prozesses der Organisationsveränderung ist in der Regel nicht so sehr das Verfehlen des Zieles und die Verschwendung von Psychoenergie zu Lasten der wichtigen Kernaufgaben. Bedeutsamer ist die Gefahr der Entmutigung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Aufspaltung in konkurrierende Untergruppen, der wechselseitigen Schuldzuschreibung sowie der Stärkung von destruktiven Überzeugungen über sich selbst, die Lage und Zukunft der Organisation, die Kompetenz der Leitung usw. Leider zeigen empirische Studien, dass rund 70 Prozent der Veränderungsprojekte in Unternehmen ihre angestrebten Ziele nicht erreichen (Moldaschl, 2010; Beer & Nohria, 2000; Larkin & Larkin, 1996).

Die U-Prozedur als Potenzial fördernde Arbeitsstruktur

Eine spezielle Form der Pflege von Leistungsvoraussetzungen besteht darin, sich von bisherigen Denk- und Arbeitsstrategien zu lösen und auf der Sachebene einen Zyklus von Reflexionsschritten systematisch zu durchlaufen. Neben anderen Methoden (siehe z. B. Heyse, 2011) eignet sich die sog. U-Prozedur nach Glasl (1996) und Schley (1998) dafür besonders (Abb. 5.10). Ihr Grundanliegen ist, die Spannung zwischen historisch gewachsenen und für die Zukunft wünschbaren Entwicklungen bewusst zu machen. Sie begegnet ausdrücklich der Verlockung, mit kurzschlüssigen Lösungsideen und -versuchen den sorgsamen Planungs- und Entscheidungsweg vermeintlich abzukürzen und ermöglicht ein tiefgehendes Auftauen, indem sie bis in die Werteebene hinein zu Reflexionen zwingt. In der Abbildung 5.10 sind auch die scheinbar zeitsparenden "Abkürzungen" des Zyklus eingetragen, die vielleicht für vordergründige Verfahrensänderungen hinreichen, aber nicht zum Umdenken führen.

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Abbildung 5.10: Die U-Prozedur nach Glasl (1996) sowie Schley (1998)

Tipp
Zur U-Prozedur finden Sie unter www.handbuch-lehrergesundheit.de eine Übung. ccc_3595_08.jpg

Wenn z. B. das Gesundheitsmanagement im Kollegium analysiert werden soll, kann dies nach der U-Prozedur etwa so geschehen:

Im ersten Schritt beschreibt eine Gruppe gemeinsam, wie die Praxis bisher aussieht, z. B.: Wie wird das Thema bisher behandelt? Was erleben einzelne Lehrende und das Kollegium an gesundheitlichen Beanspruchungen und wie reagieren sie darauf? Gibt es bewährtes individuelles oder kollektives Gesundheitshandeln? Wie geht man mit erkennbarer Überbeanspruchung um?

Im zweiten Schritt der Prozedur setzt man sich mit den Rollen der bei diesem Geschehen betroffenen Personen auseinander. Dabei soll die Ist-Situation z. B. mit Blick auf das bisherige Gesundheitsmanagement nicht nur beschrieben, sondern auch nach den stabilisierenden Prinzipien erkannt und verstanden werden. Erst wenn das bisherige implizite System sichtbar geworden ist, kann eine grundlegende Veränderung von Strukturen, Rollen, Arbeitsweisen usw. erfolgen. Wer und was ist besonders belastet bzw. belastend, wer und was zeigt sich als Ressource?

Im dritten Schritt versucht man herauszufinden, welche Grundüberzeugungen im Kollegium herrschen, welche Leitsätze und subjektiven Theorien usw. bestehen. Dabei könnte es zu Erkenntnissen kommen wie: "Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen die Schülerinnen und Schüler, die Gesundheit ist Sache der einzelnen Lehrkraft." - "Wer über Gesundheit klagt, wird bei uns als "Mimose" stigmatisiert - die Berufsarbeit an sich muss Befriedigung und Kraft verleihen." - "Wir brauchen keine zusätzliche Stimmungsstabilisierung; dafür haben wir nicht auch noch Zeit." - Man darf der Schulleitung nicht in den Rücken fallen." - "Gesundheitsförderung wird von den Eltern nicht akzeptiert, sondern als Bequemlichkeit der Lehrkräfte verstanden"...

Im vierten Schritt wird die Frage gestellt, inwiefern die bisherige Praxis zufriedenstellend oder veränderungsbedürftig ist.

Im fünften Schritt geht es um die Frage: Von welchen Grundregeln, Prinzipien oder Werten wollen wir bei der Gestaltung des Gesundheitsmanagements in Zukunft ausgehen? Dies ist das Gegenstück zum dritten Schritt, jedoch nun im Ausblick auf die Zukunft.

Im sechsten Schritt ist die Frage zu klären: Wie sollten gemäß unseren neuen Zielen und Überzeugungen die Beziehungen, Rollen und Verantwortlichkeiten unter den Betroffenen aussehen? Wie sollten die Betroffenen miteinander umgehen? Es wird ein Handlungsplan entworfen, der vereinbarte Ziele verfolgen soll. Wer würde sich für welche Aspekte erwärmen und für die Umsetzung verantwortlich fühlen?

Im siebten Schritt werden die Maßnahmen umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft.

In jedem Schritt und auf jeder Stufe können selbstverständlich andere Methoden eingesetzt werden wie z. B. Brainwriting oder die Kraftfeldanalyse (siehe Kap. 6 und Heyse, 2011), denn die U-Prozedur beschreibt eine Arbeitsstruktur, nicht konkrete Arbeitsweisen.

Readiness for Change überprüfen

Die Änderungsbereitschaft muss über Monate aufrechterhalten und gegen bisherige Gewohnheiten behauptet werden - nicht nur als emphatisch gefasster Entschluss, sondern über die Vorbereitung einer Veränderung, ihrer konkreten Umsetzung bis zu ihrer Stabilisierung im Alltag. Daher sollte am Ende der Auftauphase geprüft werden, inwieweit die betroffenen und beteiligten Personen und Gruppen zu ihrer Änderungsbereitschaft stehen und welche Chancen sie dem Projekt einräumen.

Tipp: Checkliste "Änderungsbereitschaft prüfen"
Selbstkonkordanzprüfung:
  • Ist die derzeitige Situation an der Schule für Sie selbst bzw. für Ihr Kollegium befriedigend?

  • Halten Sie das vorgesehene Projekt für zweckmäßig und warum?

  • Werden sich in absehbarer Zeit weitere Chancen oder Risiken ergeben, die aktives Eingreifen erfordern?

  • Warum sollte jetzt unmittelbar damit begonnen werden?

  • Sind die Zielzustände und Handlungsschritte wünschbar und entsprechen sie Ihren Wertvorstellungen?

  • Sind Sie bereit, daran mitzuarbeiten und warum?

Selbstwirksamkeitsprüfung:
  • Können Sie aus eigenen Kräften den Projektausgang günstig beeinflussen?

  • Welchen Nutzen erwarten Sie für sich selbst und für die Schule?

  • Welchen Verlust befürchten Sie, wenn die Maßnahmen unterbleiben?

  • Welche Handlungsmöglichkeiten stehen Ihnen zur Verfügung?

  • Haben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen ausreichende zeitliche und personale Ressourcen, um effektiv mitzuarbeiten?

Folgenprüfung:
  • Führen die vorgesehenen Zielhandlungen zum angestrebten Zielzustand?

  • Sind die kurz- und langfristigen Wirkungen Ihrer Handlungen überwiegend wünschenswert?

  • Mit welchen "Nebenwirkungen" ist zu rechnen?

  • Wer kann/soll diese feststellen? Wer entscheidet, ob und wie diese abzustellen oder zu tolerieren sind?

  • Wer entscheidet im Ernstfall über Zeitpunkt und Art des Projektabbruches?

Umfeldkonkordanzprüfung:
  • Werden die Zielhandlungen und Zielzustände vom Umfeld unterstützt?

  • Sind die erstrebten Zielhandlungen und Zielzustände untereinander und mit den Umfeldbedingungen der Schule vereinbar oder konflikthaft?

Prüfen Sie mit Hilfe dieser Liste auch frühere Projekte, die im Sande verlaufen sind oder bewusst aufgegeben wurden.

Wir haben dem Prozess des individuellen Auftauens breiten Raum eingeräumt aus der Erfahrung, dass persönliche und organisatorische Veränderungen nur dann eine Chance bekommen, tatsächlich und stabil im Alltag realisiert zu werden, wenn sie auf einem tragfähigen motivationalen Fundament ruhen. Dazu müssen sie sorgfältig bedacht sein, begleitet von dem entsprechenden Können und Wissen und ausgestattet mit den erforderlichen Ressourcen. Spontan gefasste Vorsätze und vorschnelle Lösungen scheitern in der Regel, insbesondere in einem so komplexen Gebilde wie einem Schulkollegium.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: In jedem Projekt gibt es natürlicherweise vielfältige Gründe für das Scheitern, aber auch Bündel von Maßnahmen, um diesen Risiken entgegenzuwirken. Die hier beschriebenen Überlegungen sollen den Blick dafür stärken, damit geeignete Maßnahmen frühzeitig eingesetzt werden können.