Scheuermann, Praxishandbuch Brandschutz

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8.4.2 Beurteilungsmaßstäbe

Allgemeines

Bei der Beurteilung der Explosionsgefahr ist davon auszugehen, dass eine Entzündung eventuell vorhandener explosionsfähiger Atmosphäre stets möglich ist. Die Beurteilung ist also unabhängig von der Frage, ob Zündquellen vorhanden sind.

Es ist zu beachten, dass sicherheitstechnische Kenngrößen des Explosionsschutzes in der Regel für atmosphärische Bedingungen beschrieben sind.

Liegen die entsprechenden Kenngrößen nicht vor, so müssen sie ermittelt werden.

Beurteilung des Auftretens explosionsgefährdeter Atmosphäre

Das Auftreten explosionsfähiger Atmosphäre muss für das Innere und für die Umgebung der zu beurteilenden Arbeitsmittel oder Anlagen beurteilt werden.

Die Beurteilung des Auftretens explosionsfähiger Atmosphäre bezieht sich auf die Eigenschaften der Stoffe und auf deren mögliche Verarbeitungszustände, bei denen Gase, Dämpfe, Nebel oder Stäube, die explosionsfähige Atmosphäre bilden können, vorhanden sind oder entstehen können.

Hierbei sind folgende Eigenschaften der Stoffe zu berücksichtigen:

  1. 1.

    bei allen Stoffen: untere und obere Explosionsgrenze,

  2. 2.

    bei Flüssigkeiten: Flammpunkt bzw. unterer Explosionspunkt (UEP) und oberer Explosionspunkt (OEP), Sattdampfdruck bei den Verarbeitungs- bzw. Umgebungstemperaturen,

  3. 3.

    bei Stäuben: Korngrößenverteilung und Dichte, Feuchte, Schwelpunkt.

Darüber hinaus ist der Verarbeitungszustand der Stoffe zu berücksichtigen:

  1. 1.

    bei allen Stoffen: während des Umganges entstehende oder herrschende maximale (ggf. auch minimale) Konzentrationen der brennbaren Stoffe.

  2. 2.

    bei Flüssigkeiten und bei Nebeln:

    1. a)

      Art der Verarbeitung einer Flüssigkeit (z.B. Versprühen, Verspritzen und Aufreißen eines Flüssigkeitsstrahles, Verdampfen und Kondensation). Werden die Flüssigkeiten in Tröpfchen verteilt, z.B. versprüht, ist auch bei Temperaturen unterhalb des unteren Explosionspunktes (UEP) mit der Bildung von explosionsfähiger Atmosphäre zu rechnen. Bei Nebeln können sich wegen des Dampfdruckes der Flüssigkeit bei höheren Temperaturen die gefährlichen Eigenschaften den Werten des Dampf-Luft-Gemisches annähern.

    2. b)

      maximale (ggf. auch minimale) Verarbeitungs- bzw. Umgebungstemperaturen. Liegt z.B. die maximale Verarbeitungstemperatur über dem UEP der Flüssigkeit, so können explosionsfähige Dampf-Luft-Gemische vorhanden sein. Sofern der jeweilige UEP nicht bekannt  8.4.2 Beurteilungsmaßstäbe – Seite 2 – 01.12.2008>>ist, kann er in den folgenden beiden Fällen wie dargestellt abgeschätzt werden:

      • bei reinen, nicht halogenierten Flüssigkeiten 5 K unter dem Flammpunkt,

      • bei Lösemittel-Gemischen ohne halogenierte Komponente 15 K unter dem Flammpunkt.

  3. 3.

    bei Stäuben:

    Vorhandensein oder Entstehen von Staub-Luft-Gemischen bzw. Staubablagerungen, z.B. beim Mahlen, Sieben, Fördern, Füllen, Entleeren, Schleifen und Trocknen.

Ermittlung der Menge explosionsfähiger Atmosphäre

Zusätzlich zu den genannten Eigenschaften der Stoffe sind je nach Erfordernis zu berücksichtigen:

  1. 1.

    bei Gasen und Dämpfen:

    Dichteverhältnis bezogen auf Luft und Diffusionskoeffizient.

  2. 2.

    bei Flüssigkeiten:

    Verdunstungszahl.

    Die Dichte der Dämpfe aller brennbaren Flüssigkeiten ist größer als die der Luft bei gleicher Temperatur. Die Dichte von Gasen ist im Allgemeinen größer als die Dichte der Luft (ausgenommen z.B. Acetylen, Ammoniak, Cyanwasserstoff, Ethylen, Kohlenmonoxid, Methan und Wasserstoff). Je schwerer die Gase und Dämpfe sind, desto schneller fallen sie nach unten, wobei sie sich fortschreitend mit der zur Verfügung stehenden Luft vermischen. Die Entmischung eines einmal gebildeten Gemisches in leichte und schwere Anteile allein durch die Schwerkraft ist nicht möglich. Schwere Schwaden fallen nach unten und breiten sich aus. Sie können auch über weite Strecken »kriechen« und dort entzündet werden.

    Hierbei ist zu beachten, dass die Dichte des sich über einer Flüssigkeit bildenden Dampf-Luft-Gemisches durch den temperaturabhängigen Sattdampfdruck der Flüssigkeit begrenzt wird. So beträgt z.B. die auf Luft bezogene Dichte (Dichteverhältnis) des Dampfes von Hexan 2,97. Da jedoch Hexan bei 20 ˚C nur einen Sattdampfdruck von 0,16 bar hat, lässt sich die auf Luft bezogene Dichte des sich über der Flüssigkeit bildenden Dampf-Luft-Gemisches wie folgt berechnen: 2,97 × 0,16 + (1 – 0,16) = 1,3.

    Gase, die leichter als Luft sind, steigen umso schneller nach oben, je geringer ihre Dichte ist; sie vermischen sich hierbei fortschreitend mit Luft.

    Der Diffusionskoeffizient ist nur dann eine die Menge explosionsfähiger Atmosphäre bestimmende Größe, wenn im Raum keine wesentlichen Strömungen vorhanden sind.

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Über die zu berücksichtigenden Eigenschaften der Stoffe hinaus sind die örtlichen und betrieblichen Verhältnisse zu berücksichtigen:

  1. 1.

    bei allen Stoffen:

    1. a)

      Art des Umganges mit den Stoffen unter gasdichtem, flüssigkeitsdichtem oder staubdichtem Einschluss oder in offenen Apparaturen, z.B. Beschickung und Entleerung.

    2. b)

      Möglichkeit des Austretens von Stoffen an Ventilen, Schiebern, Rohrleitungsverbindungen, Pumpen usw.

    3. c)

      Be- und Entlüftungsverhältnisse und sonstige räumliche Verhältnisse.

Mit dem Vorhandensein von brennbaren Stoffen oder Gemischen ist insbesondere in Bereichen zu rechnen, die von der Lüftung nicht erfasst sind, z.B. unbelüftete tief liegende Bereiche wie Gruben, Kanäle und Schächte.

  1. 2.

    bei Gasen und Dämpfen:

    Geringe Luftbewegungen (natürlicher Zug, Umhergehen von Personen, thermische Konvektion) können bereits die Vermischung mit Luft erheblich beschleunigen.

  2. 3.

    bei Flüssigkeiten:

    Größe der Verdunstungsfläche, Verarbeitungstemperatur, Versprühen oder Verspritzen von Flüssigkeiten.

  3. 4.

    bei Stäuben:

    Bildung von Staubablagerungen, bevorzugt auf waagerechten oder schwach geneigten Flächen, Aufwirbeln von Stäuben.

Beurteilung der Gefährlichkeit explosionsfähiger Atmosphäre

Weiterhin sind je nach Erfordernis zu berücksichtigen:

  • maximaler Explosionsdruck

  • maximaler zeitlicher Druckanstieg

  • Detonationsgrenzen oder Neigung zur Detonation

Darüber hinaus sind die örtlichen und betrieblichen Verhältnisse zu berücksichtigen, insbesondere die Mengen der explosionsfähigen Atmosphäre und die Art ihres Einschlusses, z.B. in Behältern, mehr oder weniger geschlossenen Räumen, Gruben, Kanälen und im Freien.

Mehr als 10 1 zusammenhängende explosionsfähige Atmosphäre müssen in geschlossenen Räumen unabhängig von der Raumgröße grundsätzlich als gefährliche explosionsfähige Atmosphäre angesehen werden. Auch kleinere Mengen können bereits gefahrdrohend sein, wenn sie sich in unmittelbarer Nähe von Menschen befinden. Auch in Räumen von weniger als etwa 100 m3 kann bereits eine kleinere Menge als 10 1 gefahrdrohend sein.

Eine grobe Abschätzung ist mit Hilfe der Faustregel möglich, dass in solchen Räumen explosionsfähige Atmosphäre von mehr als einem Zehntausendstel des Raumvolumens gefahrdrohend sein kann, also z.B. in einem  8.4.2 Beurteilungsmaßstäbe – Seite 4 – 01.12.2008<<>>Raum von 80 m3 bereits 8 l. Hieraus darf aber nicht gefolgert werden, dass dann der gesamte Raum als explosionsgefährdeter Bereich gilt. Nur der Teilbereich, in dem gefährliche explosionsfähige Atmosphäre auftreten kann, gilt als explosionsgefährdeter Bereich. Die Auswirkungen einer Explosion können jedoch darüber hinausgehen und sind zu betrachten.

Bei vielen brennbaren Stäuben reicht bereits eine gleichmäßig über die gesamte Bodenfläche verteilte Staubablagerung von weniger als 1 mm Schichtdicke aus, um beim Aufwirbeln einen Raum normaler Höhe mit explosionsfähigem Staub-Luft-Gemisch vollständig auszufüllen. Infolge einer ersten Explosion kann abgelagerter Staub aufgewirbelt werden und zu Folgeexplosionen führen. In der Gefährdungsbeurteilung ist dies besonders zu beachten, weil in diesem Fall explosionsfähige Staub-Luft-Gemische und wirksame Zündquellen gleichzeitig auftreten.

Welche Menge explosionsfähiger Atmosphäre im Freien als gefahrdrohend angesehen werden muss, lässt sich nur für den Einzelfall abschätzen.

Befindet sich explosionsfähige Atmosphäre in Gefäßen, die dem möglicherweise auftretenden Explosionsdruck nicht standhalten, so sind wegen der Gefährdung, beispielsweise durch Splitter beim Bersten, weitaus geringere Mengen als die oben angegebenen als gefahrdrohend anzusehen. Eine untere Grenze kann hierfür nicht angegeben werden.

Beurteilung der Explosionsauswirkungen

Die Vermeidung des Entstehens einer gefährlichen explosionsfähigen Atmosphäre und des Wirksamwerdens von Zündquellen hat Vorrang vor einer Verringerung des Ausmaßes der Auswirkungen einer Explosion. Im Fall einer Explosion von gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre ist stets mit einem hohen Schadensausmaß und Personenschäden zu rechnen, die von Verletzten bis zu Toten reichen können. Eine fallweise differenzierte Betrachtung der Auswirkungen ist im Beurteilungsprozess deshalb in der Regel nicht erforderlich. Unabhängig davon sind begrenzte physikalische Wirkungen einer Explosion (z.B. Flammenausbreitung und Wärmestrahlung, Druckwirkungen, Möglichkeiten zur Ausbildung von Detonationen) zu betrachten. Besondere örtliche Verhältnisse sind zu berücksichtigen. Durch eine Explosion können auch in der Umgebung Auswirkungen entstehen, durch die andere gefährliche oder brennbare Stoffe freigesetzt bzw. entzündet werden können. Die sich in explosionsfähiger Atmosphäre ausbreitenden Flammen können ein Volumen einnehmen, das etwa zehnmal so groß ist wie das der explosionsfähigen Atmosphäre vor ihrer Entzündung. Bei Ausbreitung in einer Richtung muss deshalb mit entsprechend langen Stichflammen gerechnet werden. In lang gestreckten Behältern oder Rohrleitungen besteht die Gefahr der Ausbildung von Detonationen. Detonationswellen haben beim Aufprall auf Hindernisse eine besonders starke zerstörende Wirkung.

Höhere Gefährdungen

Eine das übliche Maß über- oder unterschreitende Explosionsauswirkung oder -gefährdung muss bzw. kann bei den zu ergreifenden Maßnahmen in Umfang und Art berücksichtigt werden.

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Mit einer das übliche Maß überschreitenden Auswirkung ist z.B. zu rechnen, wenn Versammlungsstätten (Kantinen usw.), Wege mit dichtem Verkehr (Straßen, viel benutzte Treppen, Fluchtwege usw.), Wohnungen und größere Büroräume im gefährdeten Bereich liegen oder wenn durch Explosionen Folgeschäden größeren Ausmaßes zu erwarten sind. Diesen Sonderfällen kann in der Regel bereits bei der Planung der Anlage durch Wahl ausreichender Abstände des explosionsgefährdeten Bereiches von den als Beispiel genannten Anlagen bzw. Einrichtungen oder durch Einsatz einer höherwertigen Gerätekategorie Rechnung getragen werden.

Niedrige Gefährdungen

Mit einer das übliche Maß unterschreitenden Auswirkung ist z.B. zu rechnen, wenn eine explosionsgefährdete Anlage unter solchen Bedingungen betrieben wird, z.B. abseits gelegene ferngesteuerte Anlage mit automatisch arbeitenden Notfunktionen, dass mit einer Gefährdung von Beschäftigten und Dritten nicht zu rechnen ist.

Eine das übliche Maß unterschreitende Explosionsgefährdung ist z.B. bei der Handhabung von Chlor-Kohlenwasserstoff-Verbindungen (CKW) gegeben. Für CKW, die einen Explosionsbereich, jedoch keinen Flammpunkt besitzen, gilt, dass Geräte verwendet werden dürfen, die für die jeweils um eine Stufe weniger gefährliche Zone geeignet sind. In Zone 2 müssen jedoch elektrische Arbeitsmittel mit der Schutzart mind. IP 5X, bei Motoren IP 4X, eingesetzt werden. In Zone 2 darf die Oberflächentemperatur aller Arbeitsmittel die jeweilige Zündtemperatur des CKW nicht überschreiten; offene Flammen sind nicht zulässig.

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