Scheuermann, Praxishandbuch Brandschutz

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5.2.10 Flammschutzmittel und Brandschutzbeschichtung

Materialschutz gegenüber der thermischen Energie des Nutz-, insbesondere jedoch gegenüber dem Schadensfeuer ist im baulichen Brandschutz ein Anliegen, an welchem seit Jahrhunderten gearbeitet wird. Ausgangspunkt waren z.B. Theaterbrände, die durch den sorglosen Umgang mit offenem Feuer in den Dekorationen, aber auch im Bereich des Bühnenabschlussvorhangs während des Theaterbetriebes ihren Ausgang nahmen. Die Lehren aus diesen Ereignissen haben sich bis in die heutige Zeit erhalten:

  • Feuerwehr-Brandwachen während der Zeiten mit Publikumsverkehr,

  • der »eiserne Vorhang« mit oder ohne automatische Wasserberieselung zur Trennung von Bühnen- und Betriebsbereichen vom Zuschauerraum,

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  • die Imprägnierung leicht entflammbarer, großflächiger Materialkomponenten, insbesondere der Textilien und sonstiger Dekorationsstoffe mit entflammungshemmenden Imprägnierungen (wie früher werden auch heute noch Salzmischungen aus Boraten, Aluminaten und Phosphaten verwandt, deren Anwendung im Heimtextilbereich erschwert ist durch den Mangel an Waschfestigkeit, was jedoch im Einweg-Dekobereich keinen Hinderungsgrund darstellt).

Der prinzipielle Grundgedanke des Schutzes entflammbarer bzw. thermisch labiler Materialien oder auch Konstruktionen vor einem Stützfeuerangriff ist dementsprechend als lange bekannt anzusehen, jedoch konnten erst in letzter Zeit mit seinem hohen technologischen Entwicklungsstandard die verschiedenen, prinzipiell bekannten Verfahren des Feuerschutzes verfeinert und durch Grundlagenforschung – gekoppelt mit Empirie und normenmäßiger Prüfung der Entwicklungsresultate – wesentliche Verbesserungen des baulichen Brandschutzes erreicht werden.

In der angelsächsischen Literatur ist diese bauliche oder auch gebrauchstextile Schutzmaßnahme durch die Abkürzung FR gekennzeichnet, wobei die Interpretationen zwischen »flame« bzw. »fire retardants« variiert und prinzipiell eine wesentlich bessere Beschreibung des resultierenden Schutzeffektes bietet als die deutschen Bezeichnungen Feuerschutz- oder Flammschutzmittel, da der deutsche Begriff »-schutzmittel« wesentlich schlechter gewählt erscheint als der angelsächsische Begriff »retardant«, was bei wörtlicher Übersetzung »verzögernd« bedeutet. Hier ist im Prinzip nämlich keine absolute Schutzfunktion zu erwarten, sondern nur eine »Wirkungsverzögerung« der einwirkenden thermischen Energie. Es ist jedoch einsichtig, dass ein Begriff wie z.B. »Feuereinwirkungsverzögerungsmittel« gegenüber den beiden oben genannten kaum eine Chance in der Anwendung hätte.

Es existieren prinzipiell zwei Möglichkeiten, die oben verbal artikulierten Schutzfunktionen bei Baustoffen und Bauteilen in die Praxis umzusetzen:

Physikalisch: Hier wird versucht, durch Be- oder Verkleidungen, welche den von außen herangetragenen thermischen Angriff im Übergang behindern, die zu rasche Aufheizung thermisch labiler Baustoffe zu vermeiden. Wichtig ist dieses insbesondere für thermisch sensible Bauteile mit tragender Funktion (z.B. Träger oder Stützen aus Holz oder Stahl) oder Bauteile, welche den Raumabschluss auch im Brandlastfall gewährleisten müssen.

Wesentlich ist in diesen Fällen neben der ausreichenden thermischen Stabilität der verwandten Feuerschutzmaterialien ihre möglichst geringe Wärmeleitfähigkeit, eine möglichst geringe Rohdichte aus statischen Gründen und außerdem die Möglichkeit des sicheren festen Verbundes mit dem zu schützenden Objekt, auch unter den Bedingungen der Brandlast.

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Prinzipiell besteht also hier die genannte »Feuerschutzfunktion« darin, den Wärmeübergang aus dem Brandraum auf das zu schützende Objekt durch Schichten geringer Wärmeleitfähigkeit zu behindern.

Chemisch: Hier lassen sich theoretisch drei Reaktionstypen differenzieren, die jedoch praktisch selten streng auseinanderzuhalten sein dürften:

  • Verzehr der angreifenden thermischen Energie durch chemische Reaktionen.

Hierunter sind z.B. die Dehydratisierung, die Decarbonatisierung oder auch andere Abspaltungsreaktionen zu fassen, bei denen durch den Energieverbrauch bei der Durchführung der chemischen Umsetzung ein »Kühleffekt« des zu schützenden Materials eintritt. Typische Vertreter dieser Schutzfunktion sind Kalk- und Gipsputze bzw. Betonüberdeckungen, aber auch mechanisch befestigte Schutzbekleidungen wie Gipskartonfeuerschutzplatten (GFK).

  • Verbrauch der angreifenden thermischen Energie durch chemische Reaktionen zusammen mit der passiven Ausbildung physikalisch wirksamer poröser Reststrukturen.

Die hier aufzuführenden Schutzmaßnahmen beziehen sich auf Anstriche, Spachtel, Mörtelmassen, Schotten und Dichtungssysteme, welche, durch die angreifende thermische Energie aktiviert, sich zunächst wärmeverzehrend zersetzen (z.B. durch Abspaltung von Wasser, Kohlendioxid, Ammoniak u.a.) und dann einen porösen, jedoch stabilen Rückstand hinterlassen, welcher den weiteren Wärmeübergang erheblich verzögert. Das wirksame Prinzip dieser ablativen Feuerschutzmassen, die in unterschiedlicher Viskosität angeboten werden, sind Isocyanat-Rezepturen, wie sie ähnlich auch zur Herstellung von normalen Polyurethanen angewandt werden. Vorteilhaft bei der Anwendung sind die starke Klebhaftung während und nach dem Polymerisationsprozess sowie der Kühleffekt durch die chemische Zersetzung und anschließend die geringe Wärmeleitfähigkeit des stark porösen Restkörpers.

  • Verbrauch der angreifenden thermischen Energie durch chemische Reaktionen und aktive Ausbildung wärmeschutzwirksamer Schaumstruktur.

Die Anwendungsfelder dieser intumeszierenden Materialien sind prinzipiell wie vorhergehend, doch werden diese Rezepturen bevorzugt für Feuerschutzanstriche verwandt. Es sind auch plattenförmige Materialien unter unterschiedlicher Bezeichnung und in verschiedenartiger Zusammensetzung im Handel. Die Funktion derartiger »intumeszierender« Materialien lässt sich wie folgt beschreiben. Das gesamte System besteht in den meisten Fällen aus drei Funktionskomponenten:

  • Gerüstbildner,

  • Glasbildner,

  • Treibmittel.

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Der Gerüstbildner ist eine meist organische Substanz, welche sich bei thermischer Belastung zu einem Kohlenstoffgerüst umwandelt und die Standfestigkeit des angestrebten Schaumkörpers bedingt.

Verwandt werden hier insbesondere Polyole. Dies sind mehrwertige Alkohole, bei welchen durch thermisch-chemische Dehydratisierung ein Karamel-Kohlenstoffgerüst als Stützmasse zurückbleibt. Zum Einsatz kommen aber auch Phenol-, Harnstoff- und Melamin-Polykondensate, außerdem auch Polyurethane, bei denen bei thermischer Belastung eine Umsetzung zu kondensierten Kohlenstoffgerüsten stattfindet. Und schließlich kommen auch Harze zum Einsatz, die als Oberflächenschutz im unbelasteten Zustand eine lacktechnologische Funktion erfüllen, bei beginnendem Brand jedoch auch ein graphitartiges Kohlenstoffstützgerüst bilden.

Außerdem können schichtförmig aufgebaute Graphite mit entsprechender Vorbehandlung (Blähgraphite), aber auch rein anorganische Schichtminerale wie z.B. Tonminerale mit sich unter Temperatureinwirkung aufblähenden Zwischenschichten verwendet werden. Bei thermischer Belastung werden die resistenten Flächenstrukturen auseinandergetrieben und können als Gerüst ihre Funktion im aufschäumenden System erfüllen.

Der Glasbildner liefert die abdichtende Schaummembran, wobei besonders die Viskosität als Funktion der einwirkenden Temperatur eine wesentliche Rolle in der Auswahl spielt, da zum einen bei zu geringer Viskosität der resultierende Schaum instabil wird, zum anderen bei zu hoher Viskosität ein zu schwaches Aufblähverhalten resultiert. Angewendet werden die folgenden Substanzen:

  • Phosphate, hier besonders Polyphosphate, welche außerdem bei thermischer Belastung durch chemische Dehydratisierung zur Kohlenstoffgerüstbildung organischer Gemischbestandteile beitragen,

  • Borate, Aluminate und Alkalisilikate (Wassergläser), welche allein oder zusammen mit organischen Bestandteilen relativ gering viskose Schmelzen bei geringer thermischer Belastung bilden.

Das Treibmittel besteht aus festen Substanzen, die schon bei relativ milder Wärmeeinwirkung Gase oder Dämpfe freisetzen. Diese übernehmen die Gasfüllung des resultierenden Schaumes. Verwandt werden wasserdampf-, ammoniak- bzw. kohlensäuregasbildende Verbindungen, aber auch HCl-abspaltende Komponenten.

Chemischer Eingriff in die Verbrennungsreaktion

Die hier zusammengefassten chemischen Feuerschutzmittel greifen in den Chemismus der Verbrennungsreaktionen auf unterschiedliche Weise ein.

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Sie werden daher nur bei zu schützenden brennbaren Substanzen angewandt. Ihre Wirkungen lassen sich wie folgt differenzieren, wobei mehrere dieser Reaktionen gemeinsam auftreten können:

  • Störung der Energiebilanz,

  • Entwicklung nichtbrennbarer Gase und Dämpfe,

  • Bildung von Schmelzen,

  • chemische Graphitisierung oder Verkohlung,

  • Bildung von Flammengiften,

  • Substitution leichtentflammbarer Komponenten.

Die Störung der Energiebilanz des primären Verbrennungsprozesses erfolgt durch endotherme statt exotherme Reaktionsführung oder dadurch, dass durch unvollständige Verbrennung der Brenn- bzw. Heizwert nicht vollständig ausgenutzt wird.

2 C + O2 = 2 CO + X MJ

(1)

2 CO + O2 = 2 CO2 + 2 X MJ

(2)

Die Reaktionsgleichungen (1) und (2) zeigen die vollständige Verbrennung von Kohlenstoff zum Kohlendioxid. Der erste Reaktionsschritt setzt etwa ein Drittel der Gesamtenergie frei, der zweite Schritt zwei Drittel. Wird die Reaktion nun durch Einwirkung des Flammschutzmittels nach dem ersten Schritt abgebrochen, steht dem Gesamtsystem für die weitere Aufbereitung des Brennstoffes erheblich weniger Energie zur Verfügung.

Bei der Entwicklung nichtbrennbarer Gase und Dämpfe wird zum einen Bindungs- und Verdampfungsenergie verbraucht und zum anderen ein Inertisierungseffekt durch die abgegebenen Gase oder Dämpfe (H2O, CO2 und NH3) erreicht.

Die Bildung von Schmelzen verhindert durch einen Überzug den Zutritt des Luftsauerstoffs zu dem brennbaren Material (Na2B4O7/Aluminate/ Silikate mit vielen Kristallwassern).

Bei der chemischen Graphitisierung oder Verkohlung wird bei relativ niedriger Belastungstemperatur durch gebildete Schwefel- und Phosphorsäure oder deren Anhydriden entweder aus dem Substrat Wasser abgespalten oder mittels eines oxidativen Abbaus eine dehydratisierungsanaloge Abbaureaktion eingeleitet. In beiden Fällen verbleibt zumeist nur äußerlich ein schwer angreifbares Kohlenstoffgerüst der organischen Grundsubstanz, welches sehr resistent gegen thermischen oxidativen Angriff ist.

Die Bildung von Flammengiften wird durch Halogenzusatz zumeist unter gleichzeitigem Zusatz von Antimontrioxid erreicht. Durch gebildete Halogenradikale in der Gasphase kommt es zum Einfang der H-, O- und OH-Radikale, welche die Gasphasenoxidation in der Flamme bewirken:

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scheuermann_33485_05_02_10_001.gif + O2 = Oscheuermann_33485_05_02_10_001.gif + scheuermann_33485_05_02_10_002.gif

(3)

scheuermann_33485_05_02_10_002.gif + H2 = Oscheuermann_33485_05_02_10_001.gif + scheuermann_33485_05_02_10_001.gif

(4)

Oscheuermann_33485_05_02_10_001.gif + CO = CO2 + scheuermann_33485_05_02_10_001.gif

(5)

scheuermann_33485_05_02_10_001.gif + HX = H2 + scheuermann_33485_05_02_10_003.gif

(6)

OH + HX = H2O + scheuermann_33485_05_02_10_003.gif

(7)

scheuermann_33485_05_02_10_001.gif + scheuermann_33485_05_02_10_003.gif = HX

(8)

Die normalerweise ohne Flammschutzmittel ablaufende Radikalkettenverzweigung [Reaktionen (3) bis (5), auch der Flammenmotor genannt] wird durch den Halogenid-Zusatz [X = Halogenid oder auch Halogen Cl oder Br; Reaktionsgleichungen (6) bis (8)] durch Radikaleinfang an der Proliferation gehindert, wodurch die Flamme erlischt. Die katalytische Wirkung des außerdem zugesetzten Antimontrioxids wird wie folgt beschrieben:

Sb2O3 + 2 HCl

2 SbOCl

+ H2O

(9)

5 SbOCl

Sb4O5Cl2

+ SbCl3

(10)

4 Sb4O5Cl2

5 Sb3O4Cl

+ SbCl3

(11)

3 Sb3O4Cl

4 Sb2O3

+ SbCl3

(12)

Hierbei wird immer wieder SbCl3 (Siedepunkt 223 ˚C) in die Gasphase abgegeben, welches durch Abspaltung von Chlorradikalen die Flammen-Oxidationsreaktion unterdrückt.

Anwendung chemischer Feuerschutzmittel

Bei der Verwendung chemischer Feuerschutzmittel sind immer die Vorgaben des Prüfzeugnisses zu beachten. Dies betrifft nicht nur die Anwendung, sondern auch die vorgeschriebene Prüfung und Wartung, was zu erheblichen Folgekosten führt.

Die Dämmschichtbildner sind zudem hygroskopisch, sie nehmen also Wasser auf und dürfen deshalb nicht feuchter Witterung ausgesetzt werden. Da die Aufbringung vor der Dacheindeckung stattfinden muss (Schutz der Obergurte), bedeutet dies, dass die Aufbringung nur während einer trockenen Periode durchgeführt werden kann, was sich bei hiesigen Sommern als schwierig erweisen könnte.

Bei der nachträglichen Ertüchtigung vorhandener Bausubstanz kann ein Dämmschichtbildner ein unverzichtbares Hilfsmittel sein. Auch kann eine Anwendung zum nachträglichen Schutz von Isolierungen elektrischer Kabel angebracht sein, wobei hier jedoch der Funktionserhalt im Brandlastfall von untergeordneter Bedeutung ist gegenüber der Neutralisation saurer korrosiver Pyrolysegasbestandteile.

Für Stahlbauteile sind zugelassene Dämmschichtbildner auf dem Markt, die eine Erhöhung der Feuerwiderstandsdauer bewirken. Bei Holzbautei- 5.2.10 Flammschutzmittel und Brandschutzbeschichtung – Seite 35 – 01.12.2013<<len könnte zwar, wie Versuche gezeigt haben, auch eine Erhöhung der Feuerwiderstandsdauer erreicht werden, derzeit sind aber zugelassene Dämmschichtbildner für diesen Zweck nicht erhältlich. Sie können jedoch zur Verbesserung des Entflammungsverhaltens des Baustoffs Holz eingesetzt werden.