Scheuermann, Praxishandbuch Brandschutz

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4.4.0.1 Einführung

 4.4.0.1 Einführung – Seite 0.1 – 01.06.2014>>

Im Zusammenhang mit der Erstellung von Brandschutzkonzepten für komplexe Bauaufgaben stellt sich häufig die Frage nach den mit den bauordnungsrechtlichen Vorschriften verfolgten Schutzzielen. Diskussionen in der Fachwelt haben gezeigt, dass über diese Ziele in einigen Punkten Unklarheit besteht. Zudem war zu beobachten, dass sich die Auffassungen darüber, was öffentlich-rechtlich erforderlich ist, aus unterschiedlichen Gründen auseinanderentwickelt haben, wie z.B. hinsichtlich der Notwendigkeit einer raucharmen Schicht für die Personenrettung, aber auch über die Frage, was unter »wirksamen« Löschmaßnahmen zu verstehen ist.

Die Fachkommission Bauaufsicht der Bauministerkonferenz – ARGEBAU, die für die Musterbauordnung (MBO) als Muster für die Landesbauordnungen zuständig ist, hat sich dieser Frage angenommen und ihre Projektgruppe Brandschutz mit diesbezüglichen Untersuchungen beauftragt. Dabei wurden alle Regelungen der Musterbauordnung und der zugehörigen Sonderbauvorschriften auf ihre Zielsetzung hinterfragt. Das Ergebnis sind die nachfolgend abgedruckten Grundsätze zu Fragen der Personenrettung und wirksamen Löschmaßnahmen.

Das Grundsatzpapier wurde im Oktober 2008 sowohl von der Fachkommission Bauaufsicht als auch von den Gremien der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren in Deutschland – AGBF (Arbeitskreis Grundsatzfragen und Arbeitskreis Vorbeugender Brand- und Gefahrenschutz – AK VB/G) einstimmig und ohne Änderungen angenommen. Die Grundsätze sind in dem Entwurf zur Muster-Richtlinie über den baulichen Brandschutz im Industriebau (Stand Februar 2014) eingearbeitet.

Die Grundsätze beziehen sich nur auf solche Gebäude, die die bauordnungsrechtlichen Anforderungen einhalten, also keine Abweichungen in Anspruch nehmen. Es werden Standardbauten und Sonderbauten unterschieden; Sonderbauten sind in der Musterbauordnung konkret aufgezählt (z.B. Hochhäuser, große Verkaufsstätten, Versammlungsstätten, Krankenhäuser, Heime usw., s. § 2 Abs. 4 MBO), alle anderen Bauvorhaben werden als Standardbauten bezeichnet. Für Standardbauten befinden sich die Brandschutzanforderungen abschließend in der MBO; für bestimmte Sonderbauten (geregelte Sonderbauten) sind weitere Regelungen zu beachten, wie z.B. die Versammlungsstättenverordnung, Verkaufsstättenverordnung, Beherbergungsstättenverordnung, Hochhausrichtlinie, Schulbaurichtlinie, Industriebaurichtlinie. Für andere Sonderbauten sind ggf. im Einzelfall Brandschutzanforderungen festzulegen.

Zur Absicherung des Schutzziels – Unterstützung der Brandbekämpfung – ist grundsätzlich von Folgendem auszugehen:

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  1. a)

    Die Gebäudenutzer haben bei typischen Brandfällen den Brandraum/Gefahrenbereich auf den entsprechend dem Brandschutzkonzept der Bauordnung oder ergänzender bauordnungsrechtlicher Vorschriften vorgeschriebenen Rettungswegen zu verlassen.

  2. b)

    Unter Beachtung physikalischer Modelle (Energie- und Massebilanzmodell) einschließlich physikalisch-strömungsmechanischer Modelle – wie sie beispielsweise auch der Normenreihe DIN 18232 zu Grunde liegen, hier wegen des geforderten Schutzziels jedoch mit modifizierten Randbedingungen – wäre z.B. bei einer natürlich wirkenden Rauchableitung rechnerisch eine aerodynamisch wirksame Rauchabzugsfläche Aw von 4 m2 bis 5 m2 in Zuordnung zu der Fläche des Raumes von A = 1.600 m2 ausreichend. Dabei wird ein Brandverlauf bis zum Ende der Entstehungsphase als Bemessungsszenario mit einer Energiefreisetzung von 2 MW über einen Zeitraum von einer Stunde betrachtet. Der öffentlichen Feuerwehr wird zudem eine gewisse Verrauchung des Raumes, z.B. durch örtliche Verwirbelung, zugemutet.

  3. c)

    Bei großen Räumen mit natürlich wirkender Rauchableitung ist allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Rauchgase nicht über größere Entfernungen innerhalb der Räume »verschleppt« werden; insofern wird als Vorgabe eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Rauchabzugsgeräten in diesen Räumen und die Bildung von Auslösegruppen verlangt. Daraus ergibt sich für große Räume eine Anordnung von mindestens 1 m2 Aw bezogen auf jeweils höchstens 400 m2 der Fläche A und die Zusammenfassung von Rauchabzugsgeräten zu Auslösegruppen für je 1.600 m2 der Fläche A. Die Größe der Rauchabschnitte ergibt sich aus der Raum- bzw. zulässigen Brandabschnittsgröße.

    Für die erarbeiteten Regelungen wird daher von folgenden Eckpunkten bei natürlich wirkender Rauchableitung ausgegangen:

    1. aa)

      In kleinen Räumen mit einer Fläche A von mehr als 200 m2 bis zu 1.600 m2 genügen im oberen Raumdrittel angeordnete Wand- und/oder Deckenöffnungen, die eine Rauchableitung ins Freie ermöglichen und deren geometrische Größe insgesamt mindestens 1 % der Fläche des Raumes beträgt. Zuluftflächen in insgesamt gleicher Größe sollten im unteren Raumdrittel vorhanden sein.

    2. bb)

      In großen Räumen mit einer Fläche A von mehr als 1.600 m2 gelten die Anforderungen nur noch als erfüllt, wenn je höchstens 400 m2 der Fläche A mindestens 1,5 m2 aerodynamisch wirksame Fläche Aw im oberen Raum drittel angeordnet wird. Je 1.600 m2 Fläche des Raumes sind Auslösegruppen für die Rauchabzugsgeräte zu bilden. Es müssen aerodynamisch wirksame Zuluftflächen im unteren Raumdrittel von mindestens 6 m2 vorhanden sein.

    3. cc)

      Die Zuluftflächen müssen leicht geöffnet werden können.

In die erarbeiteten Regelungen sind zudem Vorgaben zur maschinellen Rauchableitung aufgenommen worden.

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Es wurde klargestellt, dass das Bauordnungsrecht nicht die Aufgaben der Feuerwehr regelt, die Aufgaben der Feuerwehr ergeben sich aus den Feuerwehrgesetzen der Länder. Das Bauordnungsrecht erfasst nur die bauliche und technische Beschaffenheit eines Gebäudes. Diese muss so sein, dass die Rettung von Personen und wirksame Löschmaßnahmen möglich sind. Lediglich bei Gebäuden, für die als zweiter Rettungsweg eine »anleiterbare Stelle« genügt, muss zur tatsächlichen Herstellung dieses zweiten Rettungswegs die Feuerwehr mit ihrer Leiter mitwirken.

Die Feuerwehr kann im Brandfall nur eine begrenzte Anzahl von Personen retten. Die Anzahl der Personen, die von der Feuerwehr gerettet werden können, lässt sich nicht benennen, da die Umstände im Brandfall äußerst unterschiedlich sein können (Hilfsfrist, Zeit der Brandentdeckung und Brandmeldung, Brandentwicklung, Stärke der Feuerwehr, Mobilität der zu rettenden Personen usw.). Die Feuerwehr kann in Sonderbauten mit vielen Menschen die Personenrettung nicht sicherstellen; sie ist darauf angewiesen, dass die Personen beim Eintreffen der Feuerwehr das Gebäude bereits weitgehend verlassen haben oder sich in sicheren Bereichen befinden. Neben der ausreichenden Ausbildung von Rettungswegen ist daher ebenso von Bedeutung, dass die Menschen früh-/rechtzeitig mit der Flucht beginnen. Für eine rechtzeitige Räumung hat deshalb in Sonderbauten (z.B. Versammlungs- und Verkaufsstätten, Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen) der Betreiber zu sorgen.

Hinsichtlich der Ausbreitung von Feuer und Rauch sehen alle Brandschutzvorschriften der MBO und der zugehörigen Sonderbauregeln Anforderungen an Baustoffe und raumabschließende Bauteile vor, die direkt oder indirekt dem Schutz der Rettungswege vor Feuer und Rauch dienen. Eine Rauchableitung aus Rettungswegen zur Sicherstellung der Benutzbarkeit in der Phase der Personenrettung ist nicht vorgesehen, sie könnte ohnehin nur bereits eingedrungenen Rauch abführen. Für die Personenrettung muss in diesem Fall der alternative (zweite) Rettungsweg benutzt werden. Sind Rettungswege besonders schutzbedürftig, wird Rauchfreihaltung verlangt (wie z.B. in einem Sicherheitstreppenraum).

Die bauordnungsrechtlich verlangten Öffnungen zur Rauchableitung oder Rauchabzugsanlagen dienen der Unterstützung der Feuerwehr bei ihrer Arbeit, selbst wenn dafür keine quantifizierte Entrauchungswirkung vorgegeben ist. Löschmaßnahmen sind auch dann wirksam, wenn die Brandausbreitung erst an den klassischen »Barrieren« des bauordnungsrechtlichen Brandschutzes, wie z.B. der Brandwand, gestoppt werden kann.

Es besteht Handlungsbedarf seitens der ARGEBAU bezüglich der im Grundsatzpapier genannten Formulierungen in Muster-Vorschriften, die missverständlich sind. Erreicht werden soll, dass im Regelfall die Gestaltung der Rettungswege ohne ingenieurmäßige Bemessungen auskommt und diese nur bei Abweichungen heranzuziehen sind. Sonstige Änderungen werden nicht für erforderlich gehalten, da keine Erkenntnisse vorliegen, die eine Verschärfung des Anforderungsniveaus erfordern. Auch eine Absenkung ist nicht veranlasst und auch nicht beabsichtigt.

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Zu untersuchen wäre, ob es typische Abweichungsfälle, wie übergroße Räume oder mehrgeschossige Atrien, gibt, für die sich häufig vorkommende Randbedingungen feststellen lassen. Das für geregelte Bauvorhaben zugrunde gelegte Schutzniveau muss auch hier erreicht werden, was in einem Brandschutzkonzept nachzuweisen ist. Hierfür ist seitens Wissenschaft und Forschung der Frage nachzugehen, was eine qualifizierte Entrauchung als Teil eines Brandschutzkonzepts leisten kann und welche Bemessungsmethoden zu belastbaren, wiederholbaren und zuverlässigen Ergebnissen führen können.

Nachfolgend ist das Grundsatzpapier der Fachkommission Bauaufsicht abgedruckt.