DGUV Information 203-077 - Thermische Gefährdung durch Störlichtbögen Hilfe bei der Auswahl der persönlichen Schutzausrüstung

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Anhang 4 - Anwendung der Risikomatrix

A 4.1
Allgemeines

In der Praxis hat sich in vielen Jahren Einsatzerfahrung von PSAgS gezeigt, dass bei Störlichtbogenereignissen, bei denen PSAgS fachgerecht getragen wurde, in der Regel keine Verletzungen aufgetreten sind - zum Teil auch bei Überschreitung des rechnerischen Schutzpegels der PSAgS. Dies zeigt, dass das Berechnungsverfahren (Kapitel 3 Phase 3) in der Regel ausreichend Sicherheitsreserven enthält, zumal die dort teilweise angenommenen Worst-Case-Bedingungen in vielen Fällen nicht alle zeitgleich vorliegen.

Darüber hinaus können aber auch nicht direkt quantifizierbare Einflussfaktoren wie z. B. die Qualifikation des Personals, der Einsatz von überbrückungssicherer Ausrüstung oder fehlende Ausbreitungsmöglichkeiten eines Störlichtbogens das Eintrittsrisiko einer Störlichtbogenverletzung deutlich verringern, ohne dass diese Faktoren im Berechnungsverfahren bislang abgebildet werden konnten.

Mit dem hier beschriebenen erweiterten Ansatz einer Risikobewertung können über die bisher bewerteten numerischen Rechenparameter hinaus nun auch weitere Maßnahmen (technische, organisatorische, persönliche) und Einflussfaktoren (statistische, ergonomische) bei der Beurteilung einer Gefährdung durch Störlichtbögen berücksichtig werden (Abb. A 4-1).

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Abb. A 4-1
Gesamtbewertung der Einflussfaktoren ergibt Störlichtbogenrisiko

Die Risikobewertung eröffnet damit die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen Überschreitungen des rechnerischen Schutzpegels von PSAgS in festgelegten Grenzen zu erlauben, wenn das daraus resultierende Verletzungsrisiko hinreichend klein ist. Dies wird mit der Anwendung der Risikomatrix (Kapitel 3, Abb. 3-2) und dem im Folgenden beschriebenen Anwendungsverfahren erreicht. Das Restrisiko einer Verletzung durch Störlichtbogen ist die Verknüpfung der erwarteten Verletzungsschwere und der erwarteten Eintrittswahrscheinlichkeit einer Verletzung - jeweils nach Berücksichtigung aller getroffenen Maßnahmen.

Die Risikomatrix kann erst angewandt werden, wenn das Berechnungsverfahren (Kapitel 3, Phase 3) eine Überschreitung des rechnerischen Schutzpegels der PSAgS ergibt. Es ist dann die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Verletzungsschwere einer Störlichtbogenverletzung nach Anwendung der getroffenen Maßnahmen abschätzen. Das sich ergebende Restrisiko ist zu bewerten

(Risikomatrix):

"grün":Tätigkeiten dürfen durchgeführt werden
"gelb":Tätigkeiten dürfen durchgeführt werden, aber aktives Risikomanagement ist notwendig:
-Risiko nach DIN EN 31010 (VDE 0050-1) so gering wie vernünftigerweise praktikabel (ALARP - as low as reasonably practicable)halten,
-Einzelfallbewertung,
-regelmäßige Überprüfung, ob weitere technische,
organisatorische oder persönliche Maßnahmen möglich sind,
-ggf. Turnusfestlegung
"rot":Tätigkeiten dürfen so nicht durchgeführt werden;
-ggf. weitere Maßnahmen nach Phase 5 durchführen,
-ggf. ist die Anlage freizuschalten

A 4.2
Bewertung der erwarteten Verletzungsschwere

Es ist die erwartete Verletzungsschwere bei Eintritt eines Störlichtbogens unter Berücksichtigung aller getroffenen Schutzmaßnahmen zu bewerten. Die gravierendsten Auswirkungen bestehen im Zusammenhang mit den thermischen Lichtbogenwirkungen.

Der Schweregrad einer Verbrennung ist grundsätzlich abhängig von einer Vielzahl komplexer Faktoren, wie z. B. der Intensität und der Dauer des einwirkenden Wärmeflusses auf die Hautoberfläche und der daraus bedingten Temperaturerhöhung in verschiedenen Tiefen der Haut. Die erwartete Verletzungsschwere wird in diesem Verfahren über das Verhältnis der erwarteten Lichtbogenenergie (WLB ) des Störlichtbogens und dem rechnerischen Schutzpegel der PSAgS (WLBS ) entsprechend der nachfolgend angegebenen Tabelle A 4-1 vereinfacht abgeschätzt.

Anmerkung 1:

Die in Tabelle A 4-1 angegebenen Werte basieren auf Literaturauswertungen und Festlegungen der AG Störlichtbogen und beinhalten einen Sicherheitsabstand, der aus Expertensicht als ausreichend angesehen wird.

Anmerkung 2:

Diese DGUV Information betrachtet nicht die möglichen Gefährdungen durch weitere Effekte eines Störlichtbogens, z. B. durch Druck, Schall, wegfliegende Teile, Strahlung, geschmolzene Partikel oder Gase. Diese Gefährdungen müssen ggf. gesondert betrachtet werden.

A 4.3
Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit

Es ist bei der Anwendung der Risikomatrix die erwartete Eintrittswahrscheinlichkeit (EW) einer Verletzung durch Störlichtbogen (SLB) unter Berücksichtigung aller getroffenen Maßnahmen abzuschätzen. Dabei beeinflussen sowohl die Maßnahmen gegen das Auftreten eines Störlichtbogens wie auch die Maßnahmen gegen die Auswirkungen eines möglichen Störlichtbogens die erwartete Eintrittswahrscheinlichkeit einer Verletzung (Abb. A 4-2).

Die möglichen Kategorien für die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Störlichtbogenverletzung sind in Tabelle A 4-2 aufgeführt.

Tabelle A 4-1 Bewertungskriterien zur Ermittlung der möglichen Verletzungsschwere

BezeichnungBeschreibungLichtbogenenergie/Schutzpegel
1Leichte VerletzungHautverbrennung < 2. GradesWLB / WLBS ≤ 1
2Reversible VerletzungHautverbrennung 2. Grades; Blasenbildung, starke Schmerzen, vollständige Heilung oder mit Narbenbildung1 < WLB / WLBS ≤ 3
3Irreversible VerletzungHautverbrennung 3. Grades; Verbrennung tieferer Hautschichten3 < WLB / WLBS ≤ 10
4Tödliche VerletzungHautverbrennungen 3. Grades oder schwerer, großflächig, irreversibel, mit tödlichen FolgenWLB / WLBS > 10
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Abb. A 4-2
Einfluss von Maßnahmen gegen Auftreten und Auswirkung von Störlichtbögen

Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Verletzung durch Störlichtbögen kann auf Basis von detaillierten Bewertungskriterien (Tabelle A 4-3) auch differenzierter abgeschätzt werden. Dabei kommen Bewertungspunkte zum Einsatz, die für die nachfolgenden Bewertungskriterien vergeben werden können:

  1. a)

    Art/Zustand der Anlage

  2. b)

    Technische Maßnahmen

  3. c)

    Organisatorische Maßnahmen

  4. d)

    Persönliche Maßnahmen

  5. e)

    Statistische Einflussfaktoren

  6. f)

    Ergonomische Einflussfaktoren

Die Summe der Bewertungspunkte ergibt einen Wert mit dessen Hilfe die Eintrittswahrscheinlichkeit festgelegt werden kann (siehe Abb. A 4-3).

Jedes betrachtete Kriterium ist in Bezug auf die ausgeführte Tätigkeit/Tätigkeitsgruppe und die vorliegende Anlage/auf den vorliegenden Anlagentyp sowie im Zusammenwirken mit den anderen Kriterien nach Tabelle A 4-3 zu bewerten.

Die Bewertungspunkte 0 bis 10 sind dahingehend zu vergeben, wie weit das jeweilige Kriterium die Verletzungswahrscheinlichkeit beeinflusst: Einfluss führt zu Verletzungswahrscheinlichkeit:

0praktisch unmöglich;
2denkbar, aber sehr unwahrscheinlich;
4unwahrscheinlich;
7selten;
10gelegentlich bis häufig.

Ist ein Kriterium nicht zutreffend (z. B. es ist keine entsprechende Maßnahme möglich, es liegen keine statistischen Daten vor), ist der Wert der Bewertungspunkte für dieses Kriterium auf den Durchschnittwert der anderen bewerteten Kriterien zu setzen, damit das Ergebnis nicht verzerrt wird.

Beispiel:

Kriterium a)... 4 Punkte
Kriterium b)... nicht zutreffend
→ Wert wird auf 3,5 Punkte gesetzt
Kriterium c)... 2 Punkte
Kriterium d)... 4 Punkte
Kriterium e)... nicht zutreffend
→ Wert wird auf 3,5 Punkte gesetzt
Kriterium f)... 4 Punkte

Die Bewertung der Kriterien a, c, d und f ergeben zusammen 14 Punkte. Die Werte der nicht zutreffenden Kriterien b und e werden auf den Wert 3,5 (=14/4: Mittelwert der 4 anderen Kriterien) gesetzt.

Tabelle A 4-2 Erwartete, durchschnittliche Verletzungshäufigkeit eines Beschäftigten nach Maßnahmen

BezeichnungBeschreibungHäufigkeit
1Praktisch unmöglichMit einer Verletzung muss nicht gerechnet werden.< 1x in 100 Jahren
2Denkbar, aber sehr unwahrscheinlichUnter theoretischen Betrachtungen könnte es zu einer Verletzung kommen. Dies ist in der Praxis unter vernünftig vorhersehbaren Voraussetzungen nicht zu erwarten.1x in 100 Jahren
3UnwahrscheinlichIn der Branche sind Unfälle bekannt, die nicht ausgeschlossen werden können, aber sehr selten sind.1x in 50 Jahren
4SeltenEine Verletzung durch einen Störlichtbogen ist durchaus möglich1x in 10 Jahren
5Gelegentlich bis häufigEine Verletzung durch einen Lichtbogen ist zu erwarten.monatlich ... jährlich

Tabelle A 4-3 Kriterien zu Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Verletzung

BezeichnungBeschreibungmögliche Bewertungspunkte (Einfluss auf EW)
a)Art/Zustand der AnlageArt/Zustand der Anlage hinsichtlich überbrückungsfähiger Potenziale (Lichtbogenentstehung) oder der Begrenzung von Lichtbogenauswirkung, z. B.
  • Offene, überbrückbare Potenziale (Potenzialabstände, Überbrückbarkeit, z. B. durch Werkzeuge/Hilfsmittel oder ggf. herabfallende leitfähige Teile)

  • Schottung zu Nachbarfeldern/Trennung von Potenzialen (z. B. Zwischenstege)

  • Verschmutzung, Feuchtigkeit, Bewuchs

  • Wartung und Prüfung

  • Alter der Anlage

  • Besondere Umgebungsbedingung (z. B. klimatische Bedingungen)

  • Anlage mit geschlossenen Türen

  • Berührungsschutz (z. B. VDE 0660-514)

  • Niederspannungs-Anlage gemäß VDE 0660-600-2 Beiblatt 1 (Störlichtbogengeprüfte Anlagen)

  • Fußpunktfreie Niederspannungs-Anlage

  • Mittelspannungs-Anlagen gemäß VDE 0671-200 (Störlichtbogengeprüfte Anlagen)

  • Schaltfehlerschutz

0 ... praktisch unmöglich
2 ... denkbar, sehr unwahrscheinlich
4 ... unwahrscheinlich
7 ... selten
10 ... gelegentlich bis häufig
b)Technische MaßnahmenTechnische Maßnahmen zur Vermeidung von Potenzialüberbrückungen (Lichtbogenentstehung) oder zur Begrenzung von Lichtbogenauswirkungen, z. B.
  • Einsatz von Werkzeugen und Ausrüstungen (hinsichtlich Überbrückungssicherheit, Abstand)

  • Einsatz von Schutz- und Hilfsmitteln

  • Zustand der Arbeitsmittel

  • Einsatz von Messgeräten (z. B. passende Messkategorie)

  • Aktives Störlichtbogenschutzsystem

  • Arbeitsschutzsicherungen

  • Kontrolle der Wirksamkeit technischer Maßnahmen

0 ... praktisch unmöglich
2 ... denkbar, sehr unwahrscheinlich
4 ... unwahrscheinlich
7 ... selten
10 ... gelegentlich bis häufig nicht zutreffend
c)Organisatorische MaßnahmenOrganisatorische Maßnahmen zur Vermeidung von Potenzialüberbrückungen (Lichtbogenentstehung) oder zur Begrenzung von Lichtbogenauswirkungen, z. B.
  • Organisatorische Regelungen (z. B. Betriebs-/Arbeitsanweisungen): Verantwortlichkeiten Schutzmaßnahmen gegen SLB (z. B. Prüfung auf Fehlerfreiheit) Unterweisung/Schulung Überprüfung der Wirksamkeit Anlagendokumentation Zutrittsregelung zu elektrischen Anlagen Einweisung in elektrische Anlagen

  • Umgang mit elektrischen Unfällen/Beinaheunfällen: Auswertung/Kommunikation Maßnahmen/Wirksamkeitskontrolle von Maßnahmen

  • Bei Durchführung von Schalthandlungen: Betriebliche Regelungen/Organisation von Schalthandlungen Dokumentation von Schalthandlungen Schaltbefähigung/Schaltberechtigung Erhalt der Qualifikation

  • Bei Durchführung AuS: AuS-Arbeitsanweisungen (Maßnahmen zum Störlichtbogenschutz) Anweisende Elektrofachkraft Spezialausbildung Erhalt der Qualifikation Kontrolle (Qualitätssicherung)

  • Umgang mit Fremdpersonal: Anforderungen/Präqualifizierung Einweisung/Schulung Erhalt der Qualifikation Kontrolle (Qualitätssicherung)

0 ... praktisch unmöglich
2 ... denkbar, sehr unwahrscheinlich
4 ... unwahrscheinlich
7 ... selten
10 ... gelegentlich bis häufig nicht zutreffend
d)Persönliche MaßnahmenPersönliche Maßnahmen zur Vermeidung von Potenzialüberbrückungen (Lichtbogenentstehung) oder zur Begrenzung von Lichtbogenauswirkungen, z. B.
  • Nutzung von PSAgS: Auswahl der PSAgS (z. B. Störlichtbogenschutzklasse) Verwendung/Prüfung (z. B. Sichtprüfung) Pflege, Wartung und Reparatur Überprüfung der Anwendung/Qualitätssicherung

  • Qualifikation der ausführenden Personen: Tätigkeitsspezifische/anlagenspezifische Kenntnisse Arbeitsweise und Erfahrung Unterweisungen Spezielle Befähigungen (z. B. Schaltbefähigung, AuS) Erhalt der Qualifikation Überprüfung der Qualifikation

0 ... praktisch unmöglich
2 ... denkbar, sehr unwahrscheinlich
4 ... unwahrscheinlich
7 ... selten
10 ... gelegentlich bis häufig nicht zutreffend
e)Statistische EinflussfaktorenStatistische Einflussfaktoren, die bei der Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Lichtbogens oder einer Verletzung durch Lichtbogen eine Rolle spielen, z. B.
  • Unfallstatistik (z. B. Unfallhäufigkeit auf Basis eigener Betriebserfahrungen oder bekannter Unfallereignisse und Statistikdaten)

  • Weitere stochastische Faktoren (z. B. Häufigkeit/Dauer der Tätigkeiten mit Störlichtbogengefährdung, tätigkeitsbezogen: z. B. Spannungsprüfen an bereits freigeschalteten Anlagen)

f)Ergonomische EinflussfaktorenErgonomische Einflussfaktoren, die bei der Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Lichtbogens oder einer Verletzung durch Lichtbogen eine Rolle spielen, z. B.
  • PSAgS Tragekomfort (z. B. Passform, Hygiene, Taktilität) Trageakzeptanz

  • Arbeitsumgebung (z. B. Bewegungsfreiheit, Zwangshaltung, Beleuchtung, klimatische Bedingungen) Psychische Belastung (z. B. Zeitdruck, Ablenkung)

0 ... praktisch unmöglich
2 ... denkbar, sehr unwahrscheinlich
4 ... unwahrscheinlich
7 ... selten
10 ... gelegentlich bis häufig nicht zutreffend

Die Summe der Bewertungspunkte für die Kriterien a) bis f ) führt zur Einstufung der erwarteten Eintrittswahrscheinlichkeit einer Verletzung in der Risikomatrix (Abb. A 4-3):

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Abb. A 4-3
Risikomatrix mit Summe der Bewertungspunkte