DGUV Information 206-001 - Stress am Arbeitsplatz

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Abschnitt 2 - Stress als Unfallursache

Nachdem die klassische Unfallprävention erfolgreich zu einer Abnahme von insbesondere technisch bedingten Unfällen geführt hat, ist in der Folge davon eine umso größere Bedeutung den organisatorischen und verhaltensbedingten Unfallursachen zuzuschreiben. Schätzungen gehen davon aus, dass sicherheitswidriges Verhalten, das häufig als eine Folge organisatorischer Mängel angesehen werden kann, mittlerweile den Löwenanteil der Unfallursachen ausmacht.

Fragt man nach den Ursachen sicherheitswidrigen Verhaltens, ist die Nennung der Ursachenkategorien Nicht-wissen, Nichtwollen und Nicht-können nahe liegend. In Bezug auf Überforderung und Stresserleben scheinen diese Kategorien auf unterschiedliche Weise einen Beitrag zu leisten. Stress kann die Folge mangelnder Qualifikation, unzureichender Information und vielleicht auch nicht vorhandener Motivation sein.

Stress kann arbeitsbedingt sein oder in der privaten Lebenssphäre verursacht werden. Beide Stressquellen können sich in ihren Auswirkungen ergänzen oder sogar wechselseitig verstärken.

Dass Stress als Folge von arbeitsbedingten Belastungen zugenommen hat, lässt sich durch empirische Erhebungen, z.B. die bereits erwähnte FORSA-Umfrage von 2001, belegen. Das Sozialministerium in Nordrhein-Westfalen führte eine ähnliche Befragung bereits 1996 durch und kam zu dem Ergebnis, dass sich über 30 % der Befragten von hohem Zeitdruck stark oder ziemlich stark belastet fühlen.

Stress als Folge hoher Belastungen kann als unfallförderliche Bedingung angesehen werden, was in statistischen Erhebungen mehrfach bestätigt wurde (Bild 2-1). Die beiden nachfolgend angeführten Studien belegen diese Aussage.

Stress im Auto

Ergebnisse einer Befragung an über 1000 Autofahrern:

  • Jeder dritte Verkehrsunfall in Deutschland wird durch Stress verursacht.

  • 41 % der Befragten unter 26 Jahren gaben an, oft oder immer gestresst zu sein.

  • In der Altersgruppe über 55 Jahren waren es nur 15 %.

  • Jeder elfte Befragte gab an, nie Stress am Steuer zu haben.

Quelle: Direct-Versicherung, Psychonomics Institut, Köln

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Bild 2-1: Verkehrsstress

Einfluss von Stress auf Arbeitsunfälle bei Pflegekräften

  • Von 874 Befragten hatten 32 % in den vergangenen 12 Monaten einen Arbeitsunfall.

  • Personen mit hohem Stressniveau hatten dabei eine mehr als doppelt so hohe Unfallhäufigkeit.

Studie BGW und DAK, 1998

Um den Zusammenhang von Stress als Unfallursache plausibel zu machen, ist eine nähere Betrachtung des Stressphänomens notwendig.

Stress stellt eine Beanspruchungsreaktion des Organismus auf Belastungen bzw. Stressoren dar. Wie in Bild 2-2 dargestellt, führen Stressoren in Abhängigkeit ihrer Art, Intensität und Kombination vor dem Hintergrund der individuellen Leistungsvoraussetzungen zu Stressfolgen, die auf mehreren Dimensionen differenziert werden können. So können sie in ihrer kurz-, mittel- und langfristigen Wirkung unterschieden werden.

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Bild 2-2: Stress - Ursachen und Auswirkungen - Rahmenbedingungen

Kurzfristige Stressfolgen sind dabei als Reaktionen auf kurzfristig wirkende und sich nicht häufig wiederholende Stressexpositionen zu verstehen. Arbeitsbedingte Erkrankungen sind kaum zu erwarten, jedoch kann es aufgrund der Fehlbeanspruchungen zu einer erhöhten Unfallgefährdung kommen (Beispiele 1 und 3, Seite 20 ff.).

Mittel- bis langfristige Stressfolgen können sich als Reaktionen auf langfristige Stressexpositionen zeigen und zu Gesundheitsschäden, wie etwa stressbedingte Herz-Kreislauf-Erkrankungen, führen.

Dennoch dürfen Stressfolgen nicht zwangsläufig als gesundheitsschädigend und negativ eingeschätzt werden.

Stressoren können unter bestimmten Bedingungen auch als Herausforderung und Ansporn verstanden werden. Das ist dann der Fall, wenn sie vom Mitarbeiter gehandhabt und überwunden werden können. Es können sich positive Stressfolgen im Sinne von Erfolgserlebnissen, von Lern- und Trainingseffekten ergeben.

Langfristig kann daraus auch eine höhere Identifikation mit der Tätigkeit entstehen. Auf den Dimensionen des psychischen, des somatischen, also körperlichen, und des verhaltensbedingten Erlebens ist mit deutlichen und vielfältigen Reaktionen zu rechnen. Bild 2-3 beinhaltet einige dieser Reaktionen.

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Bild 2-3: Reaktionen bei Stress

Stressbedingte Veränderungen können zu bewusstem oder unbewusstem sicherheitswidrigen Verhalten führen. In Bezug auf Wahrnehmungs- und Handlungsfähigkeit lassen sich diese Veränderungen im Wesentlichen auf die vorübergehend eingeschränkten kognitiven, pezeptiven und vegetativen Fähigkeiten zurückführen. In Verbindung mit einer erhöhten Risikoneigung kann es zu inadäquatem, insbesondere sicherheitswidrigem Verhalten kommen.

An drei Beispielen wird nachfolgend der Zusammenhang zwischen Stress und Unfällen veranschaulicht. Dabei wurde ganz bewusst von unterschiedlichen Stressvorstellungen ausgegangen, die jedoch alle einen gemeinsamen Nenner haben. Es handelt sich um Situationen, in denen die Fähigkeit zu adäquater Handlungsregulation vorübergehend eingeschränkt ist. Die folgenden Beispiele haben einmal

  • Stress als Folge von Zeitdruck (quantitative Überforderung),

  • Stress als Folge emotionaler Belastungen

    und

  • Stress als Folge situativer Überforderung (Informationsverdichtung)

zum Inhalt.

So verschieden diese Belastungsarten in Bezug auf ihre Entstehung und Verursachung auch sein mögen, in ihren Auswirkungen unterscheiden sie sich nicht mehr so deutlich. Vielleicht werden deswegen im allgemeinen Sprachgebrauch unterschiedlichste Belastungssituationen unter dem Begriff "Stress" zusammengefasst.

Beispiel 1

Unfall als Folge quantitativer Überforderung (Zeitdruck)

Stress als Folge von Zeitdruck ist ein Zustand, der von jedem Menschen unseres Kulturkreises mehr oder weniger häufig erlebt wird.

In diesen Situationen entsteht die Tendenz zu sicherheitswidrigem Verhalten, das als kompensatorisches Verhalten dem Zeitdruck entgegenwirken soll. Dadurch steigt die Unfallgefährdung.

Der folgende Fall belegt diesen Zusammenhang.

Ein Baustellenleiter ist verantwortlich für die fristgerechte Bauausführung. Daher sind für Teilabschnitte bis zur Endabnahme feste Zeitvorgaben gegeben. Allerdings setzen diese Vorgaben einen störungsfreien Baubetrieb voraus, der in Wirklichkeit nicht zu erwarten ist. Störungen sind Unterbrechungen, die sich zu einem erheblichen Zeitverlust aufaddieren können. Je stärker der Zeitdruck (Übergabetermin), desto stärker wird das Stresserleben.

Die Gefahr von hektischem und sicherheitswidrigem Verhalten ist dann sowohl beim Baustellenleiter als auch bei den Bauarbeitern als erhöht anzusehen. Den Zusammenhang verdeutlicht Bild 2-4.

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Bild 2-4: Wie sicherheitswidriges Verhalten entstehen kann

Das eigentliche Problem ist weniger im sicherheitswidrigen Verhalten des oder der Mitarbeiter zu sehen; das eigentliche Problem liegt in der organisatorischen Arbeitsgestaltung.

Der Zusammenhang zwischen Unterlassungen bzw. Mängel in der Organisation und daraus resultierendem sicherheitswidrigen (kompensatorischen) Verhalten tritt hier deutlich zu Tage.

Präventionsmöglichkeiten

Wie aus Bild 2-4 zu entnehmen, können folgende Präventionsansätze abgeleitet werden:

Planung muss Störungen, die aus Erfahrung bekannt sind und die sich wiederholen können, ausdrücklich berücksichtigen. So sind Störungen auf Baustellen z.B. durch andere Gewerke oder Probleme mit der eigenen Terminhaltung infolge schlechten Wetters eher realistisch als unwahrscheinlich. Für unvorhergesehene Störungen, die zu einem größeren Zeitverlust führen können, ist ein entsprechendes Reglement festzulegen, das jedem Mitarbeiter bekannt ist und von jedem akzeptiert wird. Dazu gehören ansprechbare und entscheidungsbefugte Führungskräfte vor Ort, auf der Baustelle oder im Betrieb.

Muss dennoch unter Zeitdruck gearbeitet werden, ist umso eindringlicher auf die Einhaltung der entsprechenden berufsgenossenschaftlichen Vorschriften zu achten.

Beispiel 2

Tödliche Verkehrsunfälle als Folge emotionaler Belastungen

Wenn Stresserleben zu einer höheren Unfallgefahr führt, müsste sich dies in erhöhten Unfallzahlen manifestieren. Werden reale Unfälle zugrunde gelegt, kann diese Aussage über eine retrospektive Betrachtung überprüft werden. Einem solchen Ansatz wurde in einer amerikanischen Erhebung (Setzer, 1969) nachgegangen.

Dabei wurden 96 Autofahrer, die für tödliche Unfälle mit insgesamt 117 Toten verantwortlich waren, zu ihrer Vorgeschichte befragt. Es ging darum festzustellen, inwieweit berufliche oder private Belastungen zu langfristigen Stressfolgen und dieser wiederum zu einer Einschränkung der Fahrfähigkeit geführt hatten. Es wurden dazu die überlebenden Autofahrer, Freunde, Ärzte, Kollegen, Arbeitgeber usw. befragt.

Auf der Grundlage dieser Datenbasis konnte auch das Stressniveau der nicht überlebenden Autofahrer berücksichtigt werden. Es wurde der Zeitraum von 12 Monaten vor dem Verkehrsunfall bezüglich Stress auslösender und kritischer Ereignisse untersucht. Persönliche Krisen, tragische Ereignisse, Konflikte, Krankheit, Überforderung, Tod von nahen Angehörigen, finanzielle Belastungen standen dabei im Mittelpunkt der Befragung.

Um einen Vergleich und eine Beurteilung zu ermöglichen, wurde eine ebenso große Kontrollgruppe von 96 Autofahrern, die unfallfrei waren, gebildet. Wie der folgenden Tabelle zu entnehmen ist, scheint dabei ein deutlicher Zusammenhang zwischen Stressbelastung und Unfallhäufigkeit zu bestehen.

Stress und emotionale Belastungen als Unfallursache

GruppenAnzahl der Fahrer %Personalkonflikte %Persönliche Tragödien %Berufl. Stress, Geldsorgen %Ein oder mehr Stressoren %
Unfallgruppe963293652
Kontrollgruppe9675818
Auszug aus einer Studie von Setzer, 1969

Präventionsmöglichkeiten

Liegen bei einem Mitarbeiter akute Belastungssituationen, z.B. emotionale Belastungen infolge kritischer Lebensereignisse wie etwa Todesfall in der Familie, vor, stellt sich die Frage nach der momentanen Arbeitsfähigkeit. Je nach Einschätzung des Vorgesetzten und je nach Wunsch des Mitarbeiters sollte die Möglichkeit einer persönlichen Freistellung für einige Tage, auch abweichend vom Urlaubsplan gegeben sein.

Alleinarbeit und Nachtschichten sind zu vermeiden. Als eine Folge kritischer Lebensereignisse können sich insbesondere nach Unfällen Traumatisierungen einstellen, die sich, sofern keine Behandlung stattfindet, zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) ausweiten können. Berufsgenossenschaften bieten zur Vermeidung von unfallbedingten Traumatisierungen zunehmend Betreuungskonzepte an. Somit können nicht nur die bereits erwähnten Belastungsstörungen mit langen Ausfallzeiten vermieden werden, auch die durch Traumatisierungen bedingten Unfallgefährdungen lassen sich so reduzieren.

Beispiel 3

Unfallgefahr aufgrund situativer Überforderung (Informationsverdichtung)

Sowohl im Arbeitsleben als auch im Straßenverkehr kann es, wie bereits oben angedeutet, zu Situationen kommen, in denen die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit überfordert ist, was wiederum zu einer höheren Unfallgefährdung führt.

Situationen dieser Art ergeben sich häufig unvorhergesehen, womit eine adäquate Handlungsregulation zusätzlich erschwert wird. Das folgende Beispiel beschreibt eine Situation aus dem Straßenverkehr, die jeder erfahrene Autofahrer in ähnlicher Weise sicherlich schon erlebt hat. Wie in der folgenden Abbildung ersichtlich, handelt es sich um die hinweisende Beschilderung unmittelbar vor einem Verkehrskreisel.

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Durch die dargestellte Verkehrssituation ist zumindest der ortsfremde Autofahrer überfordert, da er in ca. 10 Sekunden oder innerhalb 100m die Information des Verkehrsschildes wahrnehmen und verarbeiten muss, um eine Entscheidung bezüglich des Einordnens treffen zu können. Dabei muss er den Verkehr beachten.

Wie die Erfahrung der Verkehrsbehörde zeigt, ereignen sich an dieser Stelle in der Tat gehäuft kritische Situationen mit Unfällen, die nur deswegen nicht zu größeren Schäden führen, da die Geschwindigkeit in und vor dem Kreisel reduziert ist.

Die in diesem Beispiel dargestellte Fehlbeanspruchung als Folge einer Informationsverdichtung kann auch auf Arbeitstätigkeiten übertragen werden, etwa wenn unerfahrene Mitarbeiter Überwachungs-, Kontroll- und Steuertätigkeiten verrichten und es dabei zu unvorhergesehenem Zeitdruck kommt.

Präventionsmöglichkeiten

Verhältnisprävention vor Verhaltensprävention ist ein Grundsatz, der insbesondere bei Gefährdungen dieser Art zu beachten ist. Verhaltensorientierte Maßnahmen würden allein ohne nachhaltige Wirkung bleiben. Notwendig wäre hier eine rechtzeitige Beschilderung, welche die relevanten Informationen in eindeutiger und nicht verwirrender Form beinhaltet. Voraussetzung dazu ist die Kenntnis der notwendigen perzeptiven, kognitiven und motorischen Anforderungen, die sich an den Autofahrer stellen und die jeweils dazu notwendige Zeit. Dabei müssten die Verkehrsplaner, und das ist entscheidend, von ortsunkundigen Autofahrern ausgehen.

Überträgt man dieses Beispiel auf den betrieblichen Alltag stellt sich die Frage, wann und wo von situativer Überforderung ausgegangen werden kann. Diese Frage allerdings darf nicht dem erfahrenen Praktiker, sondern muss dem unerfahrenen und nicht routinierten Mitarbeiter gestellt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Berufsgenossenschaften das Thema "Stress als Unfallursache" aufgenommen haben und in wirksamer Form Unterstützung durch Beratung, Schulung und Information anbieten.