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Matthes, Arbeitssicherheitsjournal 2010, 13
Schutz vor tätlichen Angriffen

Guido Matthes

 Matthes: Schutz vor tätlichen Angriffen - Arbeitssicherheitsjournal 2010 Heft 8 - 13>>

Wer beim Thema Arbeitssicherheit an PSA und Schutzzäune denkt, liegt zwar grundsätzlich richtig – übersieht aber die wachsende Zahl der tätlichen Angriffe auf Mitarbeiter. Was lässt sich dagegen unternehmen, bzw. wie lassen sich die Mitarbeiter schützen, ohne sie gleich in eine Rüstung zu packen?

Mitarbeiter, die es erlebt haben, sprechen von einer leidvollen Erfahrung: Tätliche Übergriffe auf Bedienstete oder Angestellte kommen leider öfter vor, als man denkt. Aber was lässt sich dagegen unternehmen? Bei Sicherheitsrisiken durch eine unsichere Maschine ist es noch relativ einfach, diesen durch Schutzzäune und richtige Arbeitskleidung zu begegnen. Aber bei tätlichen Übergriffen ist das Problem wesentlich komplexer. Hier spielen organisatorische, technische und psychologische Faktoren eine Rolle und greifen ineinander.

Grundsätzliche Unterscheidungsmerkmale

Ein erstes Unterscheidungsmerkmal ist die Art der Gewaltanwendung: psychisch oder physisch? Als psychische Gewaltanwendungen gelten Beleidigungen und Mobbing, aber auch Erpressung. Bei sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz reichen die Ausmaße von anzüglichen und herabsetzenden Äußerungen bis hin zu Vergewaltigungen. Die körperlichen = physischen Übergriffe reichen vom „einfachen“ Berühren (am Arm packen) über Schubsen und „leichten“ Schlägen bis zu Angriffen mit Verletzungen, die sogar stationär behandelt werden müssen.

Ein zweites Unterscheidungsmerkmal ist die Örtlichkeit: Wo finden solche tätlichen Angriffe statt? Die Spanne reicht vom Kunden, der den Beamten (Behörde, Jobcenter) angreift über Außenstehende, die Mitarbeiter bedrohen (Bank, Kundencenter) über scheinbar Pflegebedürftige, die den Pfleger attackieren bis zum Fahrgast, der den Busfahrer angreift.

Schriftliche Attacken

Eine andere, nur scheinbar harmlose Art von Übergriffen sind anonyme, schriftliche Angriffe vor allem durch Täter von innen, sprich Mitarbeiter eines Unternehmens. Eine Untersuchung der „WIK – Zeitschrift für die Sicherheit der Wirtschaft“ aus 2001 stellte fest, dass Angriffe in Wort und Schrift nicht unüblich sind. Dazu hat der Linguistenverband Deutschland (LVD), der seit den 80er-Jahren insbesondere bei schwerwiegenden anonymen schriftlichen/verbalen Angriffen hinzugezogen wird, diverse Fälle ausgewertet. Die rund 1.700 dokumentierten Fälle sind zwar nicht repräsentativ, zeigen aber interessante Tendenzen auf.

So herrscht unter den mit der Thematik befassten Experten Einigkeit bezüglich der Häufigkeitsverteilung der verschiedenen Arten von anonymen Angriffen in Wort und Schrift. Die Spannbreite der Delikttypen in der LVD-Statistik reicht vom sogenannten klassischen „Anonymen-Business-Mobbing“ (ABM) über Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdung bis zu falschen Anschuldigungen, öffentlichen Verleumdungen bzw. Bedrohungen und Erpressung.

Fast immer stecken dahinter unzufriedene Mitarbeiter, die mit veränderten Arbeitsbedingungen nicht klarkommen. Hinzu kommen Konflikte mit Vorgesetzten bzw. Kollegen. Konsequenzen sind dann die erwähnten kriminellen schriftlichen und/oder verbalen Handlungen. Die Folgen für das Unternehmen sind, neben den reinen Angriffen, illoyale Mitarbeiter, die ihr Handeln als Racheakt gegen den Betrieb, den Mitarbeiter oder Kunden verstehen.

Von verbal bis tätlich

Anonyme Angriffe in Wort und Schrift können nicht völlig verhindert werden. Das Risiko, dass Mitarbeiter Opfer solcher Attacken werden, lässt sich aber reduzieren. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist getan, wenn im Rahmen von Präventionsmaßnahmen das erweiterte Führungsmanagement kontrolliert und verbessert wird. Dadurch stellt sich ein angenehmes Betriebsklima ein, das wiederum die Grundlage für Betriebssicherheit und -frieden ist. Eine ganz andere Bedrohung erleben Mitarbeiter von Rettungsdiensten und Pflegeeinrichtungen, die Opfer von (aggressiven) körperlichen Übergriffen durch Patienten werden. Wie bei schriftlichen Attacken ist auch hier ein direkter Schutz vor Übergriffen eigentlich nicht möglich. Präventive Maßnahmen sind deshalb umso wichtiger, wobei das Aggressionsmanagement und Deeskalationsübungen für Mitarbeiter im Vordergrund stehen.

Leider ein „Klassiker“ sind Übergriffe auf Fahrdienstmitarbeiter, Fahrausweisprüfer und Mitarbeiter von Ordnungs- sowie Sicherheitsdiensten von Beförderungsbetrieben. Eine Auswertung von Arbeitsunfällen in den Jahren 2000 und 2001 durch die BG Bahnen ergab, dass 921 Arbeitsunfälle durch Übergriffe Dritter verursacht wurden, davon 812 in den Verkehrsunternehmen mit Straßenbahnen und Linienbussen.

Der Anteil an der Gesamtzahl der Arbeitsunfälle lag bei 6,5 % im Jahr 2000 und 7,9 % im Jahr 2001. Zieht man die Wegeunfälle ab, wurde ungefähr jeder 10. Arbeitsunfall durch Übergriffe Dritter verursacht. Dabei handelt es sich aber nur um Unfälle, die der BG Bahnen gemeldet wurden. Die tatsächliche Anzahl von Übergriffen Dritter liegt laut der BG wesentlich höher. Viele Unfälle und Auseinandersetzungen mit Dritten werden zwar in den Unternehmen erfasst, aber der Berufsgenossenschaft wegen einer Arbeitsunfähigkeit von weniger als drei Tagen nicht gemeldet.

Resultate auf Mensch und Arbeitsleistung

Wie wirken sich Übergriffe auf den Menschen/Mitarbeiter aus? Zu unterscheiden ist hier zwischen den sogenannten weichen (psychischen) und harten (physischen) Auswirkungen. Die körperlichen (physischen) sind offensichtlich und relativ leicht auszumachen sowie zu behandeln.

Ganz anders kann es sich bei den seelischen Verletzungen verhalten. Hier sind längerfristige psychologische Schäden möglich, die sich dann auch auf das Unternehmen auswirken, da der Mitarbeiter und somit seine Arbeitskraft fehlt. Auch die Auswirkungen auf nebensächlich Beteiligte sollte man nicht außer Acht lassen. Entstandene Ängste, bedingt durch einen Überfall oder Angriff, können ein schwerer Hemmschuh für die Arbeitsleistung und für ein gutes Betriebsklima sein.

Ein schweres Trauma, das sich aus einem Übergriff ergeben kann, ist das PTBS (Posttrauma-

 Matthes: Schutz vor tätlichen Angriffen - Arbeitssicherheitsjournal 2010 Heft 8 - 14<<

tisches Belastungs-Syndrom) bzw. PTSD (Post Traumatic Stress Disorder). Die Bezeichnung der posttraumatischen Belastungsstörung wurde ursprünglich beim Militär geprägt. Soldaten, die während des Vietnamkrieges aufgrund verschiedenster Kriegsereignisse dienstuntauglich wurden, weil sie stärksten körperlichen oder seelischen Belastungen ausgesetzt waren, bekamen diese Diagnose. Heutzutage wird sie auch in zivilen Bereichen gestellt. Wann immer ein Mensch einem Geschehen von außergewöhnlicher körperlicher oder seelischer Bedrohung ausgesetzt war, besteht die Gefahr der Entwicklung einer PTBS.

Rechtliche Grundlagen

Klare Vorgaben für konfliktträchtige Situationen sorgen für ein rechtlich korrektes Verhalten und geben dem Mitarbeiter ein sicheres Gefühl dafür, was rechtlich erlaubt bzw. möglich ist. Neben den Gesetzen sind diese Vorgaben auch ein Handlungsleitfaden, um in Problemfällen richtig vorzugehen. Unternehmen sollten deshalb ihre Mitarbeiter in rechtlichen Fragen schulen.

Bei Übergriffen gegen Busfahrer kommt z.B. der § 316 StGB zum Tragen. Er bezieht sich auf die Störung öffentlicher Räume. Aber leider erfasst er den Schutz von Bus- und Bahnfahrer nicht ausreichend, obwohl er in § 316a „Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“ und § 316b „Störung öffentlicher Betriebe“ unterteilt ist.

Interessanter für den Fall eines tätlichen Angriffs ist die daraus resultierende Notwehr, beschrieben im § 32 BGB. Hier wird die Notwehr bezeichnet als „Unbedenklichkeit von schädigenden Handlungen, wenn sie zur Verteidigung gegen einen Angreifer gerichtet sind“ (Begriff der Rechtssprache (vgl. auch BGB § 227 und StGB § 15)). In Verbindung damit steht der sogenannte „Notwehrparagraf“, im Rechtsdeutsch „Rechtfertigender Notstand“, StGB § 34.

Die aus einem Angriff resultierende sogenannte Notwehrhandlung bezeichnet „die Handlung, die der Verteidiger zur Abwehr des Angriffs vornimmt“. Sie berechtigt nur zur „erforderlichen Verteidigung“ und nicht zu weiterführenden Handlungen, die über die reine Notwehr/Abwehr eines Angriffes hinausgehen. Die Notwehr ist dann erforderlich, wenn „sie geeignet ist, den Angriff sicher und endgültig zu beenden“. Der Notwehrübende hat dabei das relativ mildeste Mittel zu wählen, allerdings muss er sich auf Risiken bei der Verteidigung nicht einlassen. Ebenso wenig ist er zu einer „schimpflichen Flucht verpflichtet, da das Recht dem Unrecht nicht weichen muss“. Soweit die Theorie.

Mögliche Lösungsansätze für mehr Arbeitssicherheit

Es stellen sich also folgende Fragen: Wie kann ich dem begegnen? Wie kann ich reagieren, als Betroffener, aber auch als Arbeitgeber? Hier gibt es vorbeugende Maßnahmen, die grundsätzlich zu unterscheiden sind in:

  1. technische Vorkehrungen: Videoüberwachung, Schutzscheiben oder entsprechende Ausrüstung des Personals (z.B. Elektroschocker),

  2. personenbezogene Maßnahmen: Anti-Gewalt-Trainings, Schulungen, Mediation, Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurse sowie

  3. organisatorische Maßnahmen: bessere Personalausstattung bzw. mehr Personal einsetzen oder, je nach Örtlichkeit (Bahnhof, Behörde usw.), eine engere Zusammenarbeit zwischen Personal, Polizei und Wachdiensten sowie, wenn möglich, helle, übersichtliche Büroräume mit Blickkontakt zu Kollegen, damit im Falle eines Falles schnell jemand eingreifen/helfen kann.

Oft ist eine Kombination aus technischen und menschlichen Maßnahmen sinnvoll. Ein sich daraus ergebenes Sicherheitskonzept berücksichtigt dann nicht nur alle Arbeitsabläufe, sondern auch die Sicherheit der Mitarbeiter. So kann man z.B. Videokameras und ein Alarmsystem installieren, die Mitarbeiter in Deeskalationstechniken schulen und einen Wachdienst engagieren. Zur Vermeidung von Arbeitsunfällen, zu denen versicherungstechnisch auch die tätlichen Angriffe gehören, haben technische Schutzeinrichtungen meist Vorrang vor organisatorischen oder personellen Maßnahmen. Erfahrungsgemäß sind sie wirksamer, weil ihre Anwendung nicht vom „Faktor Mensch“ abhängt, sondern sie automatisch funktionieren.

Eine weitere organisatorische Maßnahme ist, die Öffentlichkeit in die Maßnahmen zu integrieren. Im Bereich der Bus- und Bahnführer kann man beispielsweise durch stärkere Öffentlichkeitsarbeit (Hinweis auf Sicherheitsmaßnahmen) die Fahrgäste für Übergriffe besser sensibilisieren und so für ein stärkeres Sicherheitsgefühl sorgen.

Hat ein Übergriff stattgefunden, sollte der Arbeitgeber sofort nach dem Vorfall den Betroffenen begleiten und sich um ihn kümmern. Dies gilt selbstverständlich bei körperlichen Verletzungen, aber viel mehr bei einem psychischen Schock. Dessen Schäden sitzen oft viel tiefer und sind längerfristiger als „oberflächliche“ Verletzungen. Dazu sollte man sich schon im Vorfeld überlegen, ob innerbetrieblich geschulte Ersthelfer zur Verfügung stehen oder man sich an ein externes Kriseninterventionsteam wendet.

Beispiele aus der Praxis

Nicht immer lässt sich mit einer (einfachen) technischen oder organisatorischen Maßnahme ein Übergriff verhindern. In diesen Fällen sollte man personenbezogene Maßnahmen in Betracht ziehen. Zum Beispiel bietet die Polizei diverse Präventionsmaßnahmen gegen gewaltsame Übergriffe an. Exemplarisch sei hier die Schulung der kriminalpolizeilichen Beratungsstelle Kaiserslautern und der Bundespolizei für Mitarbeiter der ARGE (ARGE steht für Arbeitsgemeinschaften zwischen der Agentur für Arbeit und den Kommunen) genannt.

Ziel des Programms war die Verbesserung der Sicherheit am Arbeitsplatz. Im Mittelpunkt standen sicherheitstechnische Maßnahmen und Seminare zur Eigensicherung. In den letzten zwei Jahren hat die ARGE Kaiserslautern eine zunehmende Zahl von Angriffen auf Bedienstete feststellen müssen. Schwerster Vorfall bisher war eine Attacke im Dezember 2007, bei der ein Arbeitsloser eine Sachbearbeiterin durch Messerstiche schwer verletzte. Auch im Job-Center in Rüsselsheim nahe Frankfurt kam es Ende August 2010 zu einem Handgemenge. Ein wichtiger Rat an die Mitarbeiter: Oft hilft vorausschauendes Handeln (wer kommt zu mir in die Sprechstunde?). Eskaliert die Situation, sollten sofort einer oder mehrere Kollegen um (körperlichen) Beistand gebeten werden.

Das Projekt abba

Ein Gemeinschaftsprojekt von Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand ist „abba –Arbeitsbelastungen und Bedrohungen in Arbeitsgemeinschaften“. Es beschäftigt sich speziell mit den besonderen Anforderungen und Gefährdungen von Mitarbeitern im Kundenverkehr. Diese werden erfasst, Präventionsschwerpunkte gesetzt und Maßnahmen in Form von Beratung, Mitarbeiterzirkel und gezielte Schulung (z.B. Deeskalationstrainings) durch den Unfallversicherungsträger durchgeführt.

Das abba-Projekt soll dazu beitragen, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu reduzieren und Beschäftigte vor Übergriffen zu schützen. Unter anderem beschäftigt es sich mit der Erfassung psychischer Belastungen, speziell aber mit den besonderen Anforderungen und Gefährdungen von Beschäftigten im Kundenverkehr.

Aus den hier beschriebenen und ähnlichen Projekten und Maßnahmen lassen sich allgemeingültige Grundsätze für eine Unternehmens-Policy „Gewaltfreier Arbeitsplatz“ ableiten. Die wichtigsten Grundsätze dafür lauten:

  1. 1.

    Null Toleranz gegenüber Aggressoren,

  2. 2.

    Schutz der Mitarbeiter,

  3. 3.

    Anzeige von Straftaten und

  4. 4.

    Dokumentation von Vorfällen.

Ziel aller ergriffenen Maßnahmen sollte sein, dass der Betrieb ein klares Bekenntnis abgibt: „Wir tolerieren keine Gewalt, sondern gehen aktiv dagegen vor“. Denn nur mit einem Helm lassen sich tätliche Übergriffe und ähnliche Straftaten nicht abwehren.

Hinweis:

Die wichtigsten Schritte, die Unternehmen im Falle eines tätlichen Angriffs auf einen Mitarbeiter einleiten müssen, haben wir für Sie unterWebcode 17093im Journal-Bereich vonwww.arbeitssicherheit.dezusammengefasst.

Hinweis:

Eine Liste mit relevanten Gesetzen rund ums Thema tätliche Übergriffe finden Sie aufwww.arbeitssicherheit.de, Webcode 15530.

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