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Kring, Arbeitssicherheitsjournal 2010, 23
„Die Substanz stülpt Ihnen ein chemisches Korsett über“

Dr. Friedhelm Kring

Kring: „Die Substanz stülpt Ihnen ein chemisches Korsett über“ - Arbeitssicherheitsjournal 2010 Heft 7 - 23

Karsten Strauß ist als Arzt, Suchttherapeut und Sozialpädagoge seit mehr als 35 Jahren in der Suchtmedizin tätig. Der Leiter des Instituts für Suchtmedizin Strauß & Partner (www.suchtmedizin.de) führt Beratungen, Schulungen und Seminare durch in Kliniken, Praxen und Unternehmen. Darüber hinaus betreut er substanzkonsumierende und abhängig kranke Persönlichkeiten in ganz Deutschland.

arbeitssicherheit.journal: Herr Strauß, warum ist das Thema Hirndoping neuerdings so in die Diskussion geraten?

Karsten Strauß: Vermutlich hat der große DAK-Report 2009 Wirkung gezeigt: Erstmals wurde auf die (in Deutschland bislang allerdings als gering bewertete) Gefahr „massenhafter“ Einnahme rezeptpflichtiger Medikamente ohne Indikation, nur zwecks Leistungssteigerung im Job hingewiesen – ein Modetrend aus den USA. „Hirndoping“ ist übrigens ein etwas irreführender Begriff: Auch der Körper bekommt sein Fett weg und darf sich mit den dann „Nebenwirkungen“ genannten Folgen rumschlagen.

Man hört oft von Hirndoping an Schulen und Universitäten in den USA. Welche Rolle spielen die Mittel in Unternehmen in Deutschland?

So ganz genau weiß das offenbar niemand. Da lässt sich dann gut spekulieren – und gelegentlich dramatisieren, je nachdem, was man erreichen will.

Die von mir als sehr seriös eingeschätzte DAK-Studie hat bereits deutlich darauf hingewiesen, das Problem nicht überzubewerten. Dennoch gibt es das natürlich offensichtlich, dass Menschen ohne Indikation zu verschreibungspflichtigen Medikamenten greifen, um leistungsfähiger zu sein. Nimmt man zur Verbrauchsschätzung einmal Umsatzzahlen zu Hilfe, fällt allerdings auf, dass die überall erhältlichen, gleichwohl nicht legalen Substanzen wie Amphetamine, Ecstasy, Kokain und andere Umsätze erzielen, von denen Pharmafirmen nur träumen können (bei den Gewinnmargen weiß ich das nicht so genau).

Das korreliert übrigens sehr positiv mit den Erfahrungen unserer Arbeit: Kaum ein Unternehmen, in dem nicht Kokain und Amphetamine und andere Substanzen auf vielen Ebenen konsumiert werden. Der frühere Geschäftsführer eines großen IT-Unternehmens in Deutschland sagte mir kürzlich, bei ihnen wäre der Mineralwasserlieferant auch fürs Koks zuständig gewesen.

Was ist daran gefährlich? Inwiefern betreffen Risiken für den „dopenden“ Mitarbeiter auch den Betrieb?

Machen wir's mal plastisch: Sie arbeiten in einem Bereich, in dem Sie Entscheidungen zu treffen haben, im Bankensektor beispielsweise. Um fit zu sein/bleiben, folgen Sie den Empfehlungen Ihrer Kollegen und nehmen Kokain. Tolle Wirkung, finden Sie, wach, fit, super-sehr-gut-drauf, zumindest, solange der Stoff wirkt, bei Bedarf wird eben nachgelegt. Hört sich eigentlich doch gut an, oder? Das oft unerkannte Problem: Die Substanz stülpt Ihnen ein chemisches Korsett über, aus dem Sie – so lange sie wirkt – nicht rauskommen. Das bedeutet auch, dass alle Ihre Informationen, alle Überlegungen und Entscheidungen diesem euphorisierenden Kokain-Filter unterliegen. Sie beurteilen beispielweise Risiken anders als ohne Kokain und machen Dinge, die Sie ohne Koks nie getan hätten. Ob das wirklich immer gut gewesen ist?

Dieses prinzipielle „chemische Korsett“ ist bei allen psychotropen Substanzen in unterschiedlicher Ausprägung und Wirkrichtung vorhanden. Man sollte also um mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen recht gut wissen, wenn man Stoffe konsumiert. Dann kann man immer noch entscheiden, ob man sich ihrer bedient.

Wie können Führungskräfte und Sicherheitsverantwortliche angemessen reagieren?

Das Wichtigste ist die praxisrelevante Information. Sie dürfen heute beim Thema Drogen und Sucht nicht mehr nur an Alkohol oder den jugendlichen Kiffer denken, sondern realisieren, dass sämtliche verfügbaren Substanzen auch in ihrem Unternehmen auf vielen Ebenen eine nennenswerte Rolle spielen können – wegsehen gilt nicht mehr.

Sie sollten sehen, dass Substanzen nicht nur direkt messbare (Aufmerksamkeit, Reaktionsvermögen usw.) Wirkungen haben, sondern mindestens genauso arbeitssicherheitsrelevante, dennoch mit „klassischen“ Messmethoden kaum erfassbare Veränderungen im Menschen hervorrufen.

Sie sollten sehen, dass gerade Medikamente Wirkzeiten haben, die – obwohl in der Freizeit eingenommen – sehr weit in die Arbeitszeit hineinreichen können. Sie sollten sich aber nicht (nur) auf die traditionelle „Suchtschiene“ begeben („schlecht ist, was abhängig krank macht und dafür machen wir dann eine Betriebsvereinbarung“), sondern sich zielgenau über Schädigungspotenziale der verschiedenen Substanzen (die durchaus diskret, aber sehr wirksam sein können) von Spezialisten informieren lassen. Und dann menschlich und juristisch einwandfreie, gerne unspektakuläre Maßnahmen zur Wiederherstellung/Sicherung der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter individuell formen.

Interview: Dr. Friedhelm Kring

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