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Gertz, Arbeitssicherheitsjournal 2010, 22
Best Practise: Gesünder nähen bei BMW

Winfried Gertz

Gertz: Best Practise: Gesünder nähen bei BMW - Arbeitssicherheitsjournal 2010 Heft 2 - 22

Geringere Fehlzeiten, besseres Image, zufriedene Mitarbeiter – warum der Automobilhersteller in ergonomische Arbeitsplätze investiert.

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Von der ergonomischen Umgestaltung der Näharbeitsplätze bei BMW profitiert der Konzern ebenso wie die Belegschaft.

Nur noch eine halbe Stunde, dann ist wieder ein Arbeitstag für Sofia Irina zu Ende. Seit 13 Jahren arbeitet die Näherin im BMW-Werk in unmittelbarer Nachbarschaft zur Münchner Firmenzentrale. Während hochbezahlte Manager in den Bürotürmen mit Blick auf den Olympiapark über neue Absatzstrategien beraten und Kunden aus dem In- und Ausland ihre fabrikneuen Automobile gleich nebenan in der schicken „BMW-Welt“ überreicht bekommen, näht Irina Armauflagen aus Leder für die neue 3er-Serie. Jeden Werktag von 6 bis 15 Uhr.

Doch die Zeiten, als sie und ihre elf Kolleginnen stets Rückenschmerzen oder ein unangenehmes Ziehen im Arm plagten, sind definitiv vorbei. Statt körperlich angespannt vor der Nähmaschine zu sitzen, stehen die Frauen nun aufrecht an ihrem Arbeitsplatz, der nach umfangreichen Untersuchungen ergonomisch neu gestaltet wurde. „Auf den ersten Blick“, erläutert Werner Lesser, Professor für Arbeitswissenschaft an der Fachhochschule München, „unterscheiden sich alte und neue Näharbeitsplätze kaum. Tatsächlich sind sie in vielen Details sehr verschieden.“ Vor allem sind die neuen Näharbeitsplätze weit weniger gesundheitsschädlich als früher. Und Irina sowie ihre Kolleginnen damit deutlich produktiver.

Kostensenkung durch ergonomische Arbeitsplätze

Gesundheitsschädliche Arbeit kann sich kein Unternehmen erlauben. „Wer nicht in moderne, ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze investiert, zahlt am Ende sogar oben drauf“, sagt Rolf Ellgast, Leiter für Arbeitsschutz und Ergonomie der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), vor der Presse in München. Ellgast zufolge sind insbesondere Muskel- und Skelett-Erkrankungen (MSE) in der Arbeitswelt auf dem Vormarsch.

Sie gelten als Volkskrankheit. Seit Jahren führen sie mit einem Anteil von 24 % die nach Diagnosegruppen unterteilten Statistiken der Arbeitsunfähigkeitstage an. Eine typische Erkrankung ist das sogenannte Karpaltunnelsyndrom, von dem Näherinnen, aber auch Bürobeschäftigte betroffen sind, die ganztägig mit der Maus am PC arbeiten. Es wird durch einseitige Belastung des Handgelenks hervorgerufen und betrifft dreimal mehr Frauen als Männer. Wie Ellgast erläutert, gehen jährlich rund 26.000 Frühverrentungen auf das Konto von MSE. Nach Berechnungen der DGUV kostet der so ausgelöste Produktionsausfall die deutschen Arbeitgeber etwa 9,5 Mrd. € pro Jahr.

Imagefaktor Gesundheitsförderung

So kommt es nicht von ungefähr, dass gezielte Prävention sowie entsprechende Korrekturen in der Arbeitsplatz- und Arbeitsablaufgestaltung auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen nachhaltig wirken. Diese Erkenntnis verleiht auch zahlreichen Projekten auf europäischer Ebene Rückenwind, die jüngst auf einer Konferenz in Bilbao vorgestellt wurden. Hinzu kommt das Imageproblem. Schwedens Arbeitsminister Sven Otto Littorin zufolge suchen immer mehr Beschäftigte ihre Arbeitgeber danach aus, wie sehr das Unternehmen in die Gesundheit seiner Beschäftigten investiere. „In Schweden“, sagte Littorin, „macht bereits jeder vierte Bewerber seine Entscheidung davon abhängig.“

In Deutschland nahmen Experten die Textilindustrie hinsichtlich der Sicherheit und Gesundheit ihrer Beschäftigten unter die Lupe. „Repetitive Tätigkeiten, mit den Füßen ausgelöste Arbeitsschritte und die ständige Fixierung der Nähnadel steigern das Risiko zu erkranken“, skizzierte Ellgast in München die größten Gefahrenherde. Hier könnten gezielte Eingriffe viel Positives bewirken. Laut Ellgast gingen die Arbeitsunfähigkeitstage bei einem Branchenbetrieb nach ergonomischer Umrüstung von etwa 40 Näharbeitsplätzen um 16 % zurück, gleichzeitig erhöhte sich die Produktivität um rund 15 %.

Das BMW-Rundumprojekt für gesündere Arbeitsbedingungen

Diese Resultate veranlassten auch den Autobauer BMW, seine Näharbeitsplätze im Münchner Werk anzupassen. Wie Michael Mohrlang, Schwerbehinderten-Beauftragter und Leiter des Ergonomie-Büros, bei einem Presserundgang durchs Werk erläuterte, ist dieses Projekt in eine Vielzahl weiterer gesundheitsfördernder Maßnahmen eingebettet. Rund 3,5 Mio. € investierte BMW allein in ein Schwenkmontagesystem, das die Beschäftigten vom zuvor erforderlichen Heben und Bücken befreit. In jenem Montagebereich, wo am Karosserieboden gearbeitet wird, können die Mitarbeiter an der unmittelbar zuvor um 90 Grad gedrehten Rohkarosse nun im Stehen Bleche anschrauben und tragende Teile vernieten.

In einem anderen bei der Presseführung vorgestellten Produktionsbereich hat BMW die zuvor in der Verwaltung realisierten Eingriffe ins Raumklima adaptiert. Untersuchungen hatten gezeigt, dass Grünpflanzen im Büro für sauerstoffreichere Luft sorgen und damit auch krankheitsbedingte Fehlzeiten eindämmen können. Diese Erkenntnis wurde in den gewerblichen Bereich übertragen. In der Schaumerei, wo mit Schaumstoff befüllte Autositze produziert werden, hängt viel Grün von der Decke. „Bevor wir diesen Bandbereich vor fünf Jahren mit wuchernden Grünpflanzen ausstatteten“, erläuterte Mohrlang, „hatten wir hohe Fehlzeiten zu beklagen. Viele Erkrankungen wurden durch schlechte Luft verursacht. Heute zeigen unsere Daten, dass wir das Arbeitsklima mit dieser ungewöhnlichen, aber wirksamen Maßnahme positiv beeinflussen konnten.“

Mit solch gezielten Eingriffen in ihre Arbeitsabläufe können Unternehmen nicht nur die Gesundheit ihrer Beschäftigten verbessern. Auch ihr Ruf als Arbeitgeber wird damit positiv beeinflusst. Jeder Mensch wünscht sich einen Arbeitsplatz, der möglichst sicher sein und nicht die Gesundheit ruinieren sollte. Doch das bleibt für viele Beschäftigte ein frommer Wunsch, wie die europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) bei einer Umfrage unter rund 27.000 Menschen aus allen EU-Mitgliedstaaten ermittelte. Danach erwarten 61 % der EU-Bürger, dass sich die Wirtschaftskrise negativ auf ihre Arbeitsbedingungen auswirkt. In Deutschland liegt die Quote mit 57 % knapp darunter.

Viele Unternehmen müssen ihren Arbeits- und Gesundheitsschutz künftig also deutlich aufwerten. Laut Mohrlang nicht zuletzt aus diesem Grund: „Bald ist jeder dritte Mitarbeiter von BMW über 50 Jahre alt.“ Das Problem alternder und damit auch krankheitsanfälliger Beschäftigten trifft die gesamte Automobilindustrie. Wie der schwedische Arbeitsminister Littorin in Bilbao betonte, gebe es zahllose Hersteller und Zulieferbetriebe, deren Belegschaften sich im Jahr 2020 voraussichtlich bereits zur Hälfte aus über 50-Jährigen rekrutierten.

Mit wissenschaftlicher Hilfe zu mehr Ergonomie

Bei BMW sind die von Mohrlang bezifferten 22 Mio. €, die der Konzern in der 3er-Produktion für die Verbesserung der Arbeitsabläufe sowie für gesunde, sichere Arbeitsplätze aufwendet, also gut investiert. Das gilt nicht zuletzt auch für den Nähbereich, wo sich der Autobauer wissenschaftliche Unterstützung durch die DGUV sowie die FH München sicherte.

Um die Arbeitsbelastung der Näherinnen in der Ausstattungsfertigung zu vermindern, die nach Angaben des Betriebsrates Alexander Farrenkopf pro Tag bis zu 5.000 Teile aus Leder an ihren Arbeitsplätzen zuschneiden und auf verschiedenste Schablonen applizieren, entwickelte die Forschungsgruppe ein computergesteuertes Messsystem CUELA (Computerunterstützte Erfassung und Langzeitanalyse von Muskelskelettbelastungen).

Nachdem einige Näherinnen vergleichbar mit einer EKG-Untersuchung beim Hausarzt mit zahlreichen Sensoren am Körper verkabelt waren, wurden ihre körperliche Belastung sowie ihre Körperhaltungen, die sie im Laufe einer Achtstundenschicht wechselnd einnehmen, automatisch erfasst. CUELA registrierte nicht nur physiologische Parameter wie Herzschlag und Atem, sondern erfasste ebenso Bewegungen des Kopfes und Schulter-Arm-Systems, der Wirbelsäule sowie der unteren Extremitäten. Dreidimensional auf dem Monitor visualisiert, erkannten die Forscher sofort, wann und unter welchen Umständen sich die Belastungen über gesundheitlich erträgliche Grenzen hinaus bewegten. „Erstmalig“, fasst Professor Lesser von der FH München zusammen, „konnten wir typische Belastungssituationen für Näherinnen quantifizieren. Dies reicht von der Arbeit in extremen Gelenkwinkelstellungen über statische Arbeit bis zu hohen Kraftaufwendungen.“

Aus diesen Daten entwickelte das Team ergonomisch rundherum neu gestaltete Arbeitsplätze. Irina und ihre Kolleginnen erfreuen sich inzwischen nicht nur eines vergrößerten Bein- und Fußraums, der Zwangshaltungen vermindert und Ermüdung vorbeugt. Sie können bei der Arbeit auch Arme und Hände abstützen, was den Nacken entlastet, und zwischen Stehen und Sitzen wechseln. Auch wenn es eine Weile dauerte, bis sie sich an ihre neuen Arbeitsplätze gewöhnt hatten, sind sich die Näherinnen einig, dass die Veränderung von Vorteil ist. Das unterstreichen jüngst erhobene Daten. „Im Vergleich zur Ersterhebung“, zieht Ellgast von der DGUV Bilanz, „zeigen unsere Daten, dass die körperliche Beanspruchung an den ergonomisch neu gestalteten Arbeitsplätzen signifikant niedriger ausfällt.“

metis