Fachbeitrag  PSA  

Kryotechnik: Oft wird die falsche PSA verwendet

In Laboratorien hat Flüssigstickstoff sich längst bewährt, etwa zur Langzeitlagerung von biologischen oder medizinischen Proben. Seit einigen Jahren erschließt sich die Kryotechnik auch zunehmend industrielle Bereiche, von einer bis zu 30-fachen Steigerung des Absatzes ist die Rede.

Die Industrie zieht nach

»Die Zahl der kryogenen Anwendungen ist vor allem in der Industrie stark gestiegen, teilweise mit hohen zweistelligen Zuwachsraten«, bestätigt Dipl.-Ing. Falko Drastik, Product Manager bei Linde Gas. Das Ausmaß des Wachstums variiere mit den Anwendungsgebieten. Ein stetig wachsender Bereich sei beispielsweise das Einschrumpfen von Getriebewellen bei Windkraftanlagen. Auch in anderen Branchen ist tiefkalt verflüssigter Stickstoff unverzichtbar geworden, sei es beim Schockfrosten in der Lebensmittelindustrie, beim Kaltmahlen oder Entgraten von Gummi und Kunststoffen oder im Straßenbau, wo er für die Kühlung von Transportbeton eingesetzt wird.

Gefahren beim Umfüllen und Arbeiten

Der Umgang mit diesem Medium setzt jedoch besondere Maßstäbe an die Arbeitssicherheit. Selbst im härtesten Winter lässt sich kaum nachvollziehen, was »tiefkalt« bedeutet: Verflüssigter Stickstoff weist in diesem Zustand eine Temperatur von -196 °C auf; in der Gasphase liegen die Werte immerhin bei -80 °C bis -180 °C. Bei Körperkontakt können tiefkalte Flüssigkeiten starke Erfrierungen verursachen. Spritzer auf der Haut können auch zu schmerzhaften Kaltverbrennungen durch Verdampfung führen, da hierbei enorme Wärmemengen entzogen werden. Kaltverbrennungen größeren Ausmaßes sind lebensgefährlich.

Beim Umfüllen und Arbeiten mit tiefkalt verflüssigtem Stickstoff ist persönliche Schutzausrüstung Pflicht.

Bild: LABOplus

 

Beim Umfüllen und Arbeiten mit tiefkalt verflüssigtem Stickstoff ist persönliche Schutzausrüstung Pflicht. Neben Vollgesichtschutz sollten Tiefstkältehandschuhe und -schürzen Standard sein, darauf weist man auch bei Linde Gas ausdrücklich hin. »Mitarbeiter sollten darauf achten, dass sie Kälteschutzhandschuhe tragen, die für die jeweilige Anwendung geeignet sind«, sagt Drastik. Bei Entnahme aus offenen Kannen oder Kontakt mit Werkteilen, die in das kryogene Gas eingetaucht werden, sei auf jeden Fall die höchste Schutzklasse zu empfehlen.

»Lederhandschuhe sind fahrlässig«

In der Praxis aber werden bei vielen kritischen Anwendungen nach wie vor Lederhandschuhe getragen. Mal müssen Schweißerhandschuhe herhalten, mal wird sogar nur zu den einfachsten Arbeitshandschuhe aus dem Baumarkt gegriffen.

Branchenexperten können dazu nur den Kopf schütteln. »Lederhandschuhe und -schürzen sind als Arbeitsschutz im Tiefstkältebereich grob fahrlässig«, konstatiert Holger Brian Fritzsche, Geschäftsführer der europäischen Generalvertretung LABOplus des amerikanischen PSA-Herstellers Tempshield Inc. Aus Beratungsgesprächen mit Händlern oder Endanwendern weiß er, dass hier oft noch falsche Vorstellungen kursieren. »Schutzhandschuhe aus Leder gelten in der Industrie als das Nonplusultra, wenn es zum Beispiel darum geht, mechanische Risiken einzugrenzen. Die Kryotechnik aber ist noch ein relativ junger Bereich mit ganz anderen Anforderungen.«

Leder ist hygroskopisch, es besitzt also die Eigenschaft, Feuchtigkeit aus der Umgebung zu binden. In jede Pore des Naturstoffs können sich schon bei normaler Raumfeuchte (40 bis 60 Prozent) Wassermoleküle legen - und im Bereich der Tiefstkälte zu Eiskristallen gefrieren. »Damit erhöht sich die Kälteleitfähigkeit des Materials, und die Kälte schlägt auf die Haut durch«, erklärt Fritzsche. Hinzu kommt, dass Leder mit zunehmendem Temperaturabfall steif und unhandlich wird, was Schutzwirkung und Tastempfinden zusätzlich beeinträchtigt.

Grauzone bei der Bewertung

Schutzhandschuhe gegen Kälte werden nach den Maßstäben der EN 511 geprüft und bewertet. Damit aber lässt sich die Schutzwirkung in der Kryotechnik nicht umfassend definieren: Die Norm prüft lediglich bis zu einem Temperaturbereich von minus 50 Grad Celsius. Nach Ansicht von Fritzsche bleibt eine Grauzone: »Schutzhandschuhe gegen kryogene Kälte müssen sich nach dieser Norm ebenso bewerten lassen, wie normale Winterhandschuhe, die man im Baumarkt für ein paar Euro kaufen kann.«


 

Die Bewertung laut EN 511

Das Piktogramm »Kälterisiko« beinhaltet einen dreistelligen Zahlencode:

a - Konvektionskältefestigkeit (Bewertung 0 - 4): Definiert die thermischen Isolationseigenschaften bei der Konvektionsübertragung von Kälte
b - Kontaktkältefestigkeit (Bewertung 0 - 4): Definiert die thermische Festigkeit des Handschuhmaterials im direkten Kontakt mit einem kalten Gegenstand.
c - Wasserfestigkeit (0 oder 1): 0 = Wasserpenetration nach 30 Belastungsminuten, 1 = keine Wasserpenetration.

Alle Handschuhe müssen mindestens die Leistungsebene 1 für Abrieb- und Reißfestigkeit erzielen.

 


Alternative aus der NASA-Forschung

LABOplus bietet spezielle Kälteschutzhandschuhe der Serie Cryo-Gloves® an, die ursprünglich für die NASA-Forschung entwickelt wurden. Darunter auch ein Modell für den industriellen Einsatz: Die Cryo Industrial Gloves® wurden für den Gebrauch in Ultra-Tiefkälte und den Umgang mit Flüssigstickstoff konzipiert.

Das Außenmaterial der Handschuhe ist ein gewobenes Nylon, nach Herstellerangaben zu 100 Prozent wasserabweisend und zugleich atmungsaktiv. Die Kälteisolierung wird durch einen mehrlagigen Verbundstoff gewährleistet, dessen Mikroporen den Effekt verstärken. Zur Erhöhung des Tragekomforts wurde zusätzlich ein baumwollgewirktes Innenfutter eingearbeitet. Für Langzeitarbeiten in der Gasphase und bei Gefährdung durch Benetzung mit Flüssigkeiten ist die Ausführung WP (waterproof) zusätzlich mit einem nahtlosen, wasserdichten Innenhandschuh ausgestattet. Damit wird das Eindringen von Nässe durch die Nähte an den Fingern verhindert.

Höchstbewertung und zusätzliche Tests

Die von LABOplus vertriebenen Modelle Cryo Gloves®, Waterproof Cryo-Gloves® sowie Cryo Industrial Gloves® erreichten nach der EN 511 in den Kriterien Konvektionskälte und Kontaktkälte jeweils die Note 3. Nach Angaben des Herstellers sind das die höchsten Bewertungen, die bislang für Kälteschutzhandschuhe vergeben wurden. Um zu gewährleisten, dass diese PSA auch im tiefkalten Bereich oder beim Umgang mit kryogen verflüssigten Gasen eingesetzt werden können, wurden in Ergänzung zur EN 511 die Temperaturbeständigkeiten über den Temperaturbereich von -50 °C hinaus getestet und geprüft.

Bei der Produktion wird jedes Produkt einer zweifachen Qualitätsprüfung unterzogen. Erst erfolgt die Kontrolle des Rohmaterials, und nachdem die Handschuhe in Handarbeit hergestellt wurden, wird jedes Paar nochmals überprüft.

Eine Einschränkung bleibt dennoch: Die Schutzhandschuhe schützen zwar gegen Spritzer und Dämpfe, sind aber nicht zum Eintauchen in kryogene Flüssigkeiten gedacht. »Dafür gibt es bis dato keinen Handschuh«, weiß Holger Fritzsche. Um ein schnelles Ausziehen bei unfreiwilligem direktem Kontakt mit flüssigem Stickstoff zu gewährleisten, sollten die Schutzhandschuhe passend für den Benutzer ausgewählt werden.

Christine Lendt

Teaserfoto: LABOplus

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LABOplus - http://www.laboplus.de

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